Freitag, 8. Mai 2015
Mit Thomas Bernhard auf Kafkas Baustelle (2004)
Am Anfang ist die Neugier, ich will mit der Neugier beginnen, die so häufig den Anfang macht, den Beginn kennzeichnet, eine Neugier, die das Überschreiten einer Brücke erst möglich macht, die eine Annäherung an den Übergang in eine andere Wirklichkeit vorstellbar erscheinen lässt, eine Annäherung an das Neue, das naturgemäß Ungewisse, diese Lust auf das Neue, die jede Angst vor dem Fremden, die uns doch lebenslang, wenn man so möchte, als Gift, als lähmendes zerstörendes Gift eingeflößt wird, besiegt hat, die dem Neuen, was immer es auch sei, zunächst voll aufrichtiger Hoffnung entgegen strebt, auf das Neue und damit auch Unbekannte zueilt, wir sprechen ja von Neu-Gier, einem Gemütszustand also, der keinen Aufschub mehr duldet, der uns aus dem Haus laufen lässt, der erlittene Enttäuschungen vergessen macht, ein Anfang, ein unschuldiger Beginn, selbst die Neugier erscheint neu, glitzert in der Sonne des Neuen, strahlt als unbekanntes Geheimnis, dem wir uns widerspruchslos hingeben wollen ...
Es ist nur eine kleine schmale Tür, eigentlich gar nicht zu sehen. Sie ist tapeziert, unauffällig in eine Wand eingelassen, mit einem winzigen Türgriff. Dahinter liegt die Bibliothek, seit Jahrzehnten unbenutzt, von meinem Urgroßvater angelegt. Niemand liest in meiner Familie, aber ich schleiche mich doch manchmal hinein, setze mich in den zerschlissenen Sessel und lese in den alten Büchern. Als meine Familie diese geheime Leidenschaft entdeckte, fragte sie, warum ich dort hin ginge. Die Warum-Frage ist eine mörderische, ja eine selbstmörderische Frage. Warum mache ich das? Die Warum-Frage zwingt mich, Begründungen zu finden, Zwecke zu benennen, dort kühl zu analysieren, wo die Hitze einer Idee mich angetrieben hat. Eine Frage, die nur wegführt von der eigentlichen Motivation des Handelns. Ich hatte ja kein Motiv, als ich die Tür entdeckte. Ich hatte nur die Neugier, als ich sie öffnete. Und dann habe ich Bücher aufgeschlagen, atemlos und staunend, aber nicht berechnend, nicht als eine Zweck-Mittel-Apparatur, wie es die Warum-Frage nahe legen würde. Und ich habe angefangen zu lesen. Einfach, weil ich keine Lust hatte aufzuhören. So fing alles an in unserem Haus, in unserem Bau. Ich las Bücher, die anderen fragten nach den Ursachen und es begann mein Nachdenken. Über dieses merkwürdige Haus. Und seine seltsamen Bewohner, meine Familie. Und auch ich bereitete merkwürdige Warum-Fragen vor. Fragen, die alles vernichten mussten. Die – noch unbeantwortet – tiefe Risse in dieses Gebäude und in diese Menschen reißen mussten. Fragen, die alles aufplatzen ließen, die der Oberfläche des Alltags lebensgefährliche Wunden zufügen mussten. Fragen nach dem Grund unseres Handelns, nach der ewigen Bautätigkeit und nach dem Beginn. Darauf war meine Familie nicht vorbereitet. Darauf wären auch die Familien in den Nachbarhäusern, auf der anderen Seite der Wände, nicht vorbereitet gewesen. Ich habe sie mit ihrer eigenen Waffe geschlagen, der Verständnislosigkeit. Es ist im Grunde immer die Verständnislosigkeit, die Fragen stellt, die um Verständnis bittet, die verstehen will, die etwas verlangt, ohne jedoch die Voraussetzungen für ein Verstehen zu besitzen. Die Fragen sind also sinnlos, bleiben unbeantwortet und setzen dennoch im Befragten etwas in Gang. Und so rächte ich mich auf das Fürchterlichste für die Fragen nach den Ursachen meiner Lektüre, indem ich meine Familie nach den Ursachen des Wohnens und Bauens fragte. Diese Fragen musste sie naturgemäß tief verletzen, denn sie hatte keine Antwort darauf. Und die Suche nach Antworten nagte an ihnen, sie fraß sie innerlich auf, sie wühlten in ihren Eingeweiden nach den Antworten und fanden sie nicht. Ihre Fragen waren verständnislos und darum auch rücksichtslos. Meine Fragen aber waren gleich rücksichtslos, denn ich stellte sie mit voller Absicht. Ich wusste, dass ich keine Antworten erhalten würde. Und ich wusste, dass sich die Fragen wie Säure in ihr Innerstes fressen mussten. Mit der allergrößten Rücksichtslosigkeit habe ich zurück gefragt, habe sie mit der Verständnislosigkeit, die hinter allen Warum-Fragen steckt, konfrontiert und den Auflösungsprozess eingeleitet. Naturgemäß hat auch das Haus, hat der Bau unter diesen Fragen gelitten. So wie es immer leidet, es leidet für unsere Familie. Und anstatt zu schrumpfen, so dass wir uns als Familie näherkommen konnten, hatte ich den Eindruck es wächst, das Haus wächst. Da ständig an unserem Haus gearbeitet wird, ist es schwierig, diesen persönlichen Eindruck mit Fakten zu untermauern. Aber ich hatte nun einmal den Eindruck, das Haus wüchse und triebe dadurch seine Bewohner auseinander. Eine einfache Warum-Frage habe ich unlängst meinem Vater gestellt: Warum wird das Haus nie gelüftet? Warum diese schmutzstarrenden Fenster eigentlich nie geöffnet werden, hätte ich fragen müssen. Aber ich fragte nur ganz neutral nach Luft, nach Belüftung der Zimmer. Die gegenwärtige Luft ist ja unerträglich und Ursache der Fäulnis, der Zerstörung in unserem Haus. Oder warum nicht wenigstens einmal die schweren silberschwarzen Vorhänge aufziehen, die ein einzelner Mensch gar nicht bewegen könne, fragte ich. Etwas Licht hineinlassen, die Beleuchtung des Baus auf diese Weise wesentlich verbessern. Mein Vater trug gerade ein paar Bretter die Treppe hinauf, die er als Dachsparren verarbeiten wollte, als ich ihn nach Lüftung und Beleuchtung, nach Luft und Licht fragte. Diese Frage muss ihn ins Mark getroffen, ihn erschüttert haben. Er, der zeitlebens von der tagtäglichen Geschäftigkeit im Haus abgelenkt war, musste nun eine grundsätzliche Frage beantworten. Er, der sich unaufhörlich mit Bauen und mit Baustoffen beschäftigt hat, der abends unter der Küchenlampe Prospekte der hiesigen Baumärkte studierte oder in Fachzeitschriften – vorwiegend „Der Bau“ und „Bauen heute“ - las, die Brille auf der Nasenspitze, der sich Notizen machte zu Bauvorhaben, der am Zeichenbrett Pläne für den Umbau des Hauses entwarf, Umbaupläne freilich, die nie verwirklicht wurden, weil der eigentliche Erhalt des Baus alle Kräfte verschlang, nicht nur seine Kräfte, sondern die Kräfte der ganzen Familie, er, der ganz in der unaufhörlichen Bautätigkeit aufging, sollte nun diese – nur oberflächlich betrachtet einfache – Frage beantworten. Er hatte mich nur entgeistert angesehen und dann tagelang nicht mehr mit mir gesprochen. Irgendwann in dieser Zeit öffnete ich eine Flasche Wein, trank ein Glas und war erleichtert. Erleichtert, weil es so einfach war, meine Stimmung zu verbessern, meine Laune zu heben. Zugleich erschütterte es mich, wie leicht es war, meine Stimmung zu verbessern. Eben noch grübelte ich über den Sinn der hiesigen Bauarbeiten, der ewigen Gespräche über den Bau, und schon – ein Glas Wein später – saß ich selig lächelnd am Tisch. Meine beiden Schwestern schimpften über mich, während sie Zementsäcke auf ihren Schultern durch die Küche trugen, schimpften sie auf ihren nichtsnutzigen Bruder. ‚Sieh nur, wie er Wein trinkt und grinst, während wir hier schuften’, sagten sie. ‚Sieh nur, wie er am Ofen lehnt, während wir uns abmühen mit dem Bau’. Ich war wirklich erschüttert, wie einfach alles angelegt gewesen ist: Ich trank und ich fühlte mich gleich viel besser. Und ich beobachtete die anderen, meine Familie, die immerzu mit diesem Bau beschäftigt war, die sich keine Ruhe gönnte, die aber an ein zukünftiges Ende der Bautätigkeit mit einer solchen Gewissheit glaubte wie ein österreichischer Katholik an das Jüngste Gericht. Meine Schwestern sprachen nur aus, was meine Eltern dachten. Dass ich ein Taugenichts bin, für den Bau nicht zu gebrauchen, überhaupt unbrauchbar für jede Arbeit, unbrauchbar in jeder Hinsicht. Einer, der mit schmalen Schultern herumsteht, der stört, der auch noch überflüssige Fragen stellt, anstatt sich Werkzeug und Baustoff zu greifen. Der nicht mitmacht, der zum Gespött der Nachbarschaft wird. Der Sohn, der seinem Vater nicht folgt. Der an seinem Lebensabend nicht sagen kann, er habe sein ganzes Leben dem Bau gewidmet. Der nutzloses Zeug gelesen und seine Zeit vertrödelt, vergeudet, verplempert hat. So redeten meine rücksichtslosen Schwestern über mich und sie versuchten nicht, mir diese Lästerungen in meiner Gegenwart zu ersparen. Meine Eltern sagten nichts dazu, aber sie widersprachen auch nicht. Sie ließen meine Schwestern in ihrem Spott gewähren und machten sich auf diese Weise gemein mit ihnen. Der einzige Sohn des Hauses. Unfähig, die Schaufel zu halten, ohne Einsicht in unmittelbare Notwendigkeiten des Baus, des Bauens. Nicht glühend besessen von der Bautätigkeit, besessen wie alle hier, er opfert nicht all seine Zeit und all seine Kraft für den Bau der Familie, sondern vergeudet sie stattdessen im Lehnsessel seines Urgroßvaters, mit den Büchern seines Urgroßvaters. Ich habe etwas Langsames, Reptilienhaftes an mir, sagten sie. Aber wenn wir uns beispielsweise nur ganz genau die Haut unserer Hände betrachten, ist sie reptilienhaft. Wir sind als etwas Langsames geboren und werden in unserem Leben in die Bautätigkeit hineingezogen. Das ist nicht unbedingt natürlich, aber es passiert so oft, praktisch bei jedem Menschen, dass es natürlich erscheint, dass es anderen unnatürlich Lebenden als natürlich erscheinen muss, wenn es sie nicht in einen Abgrund stürzen soll. Das Bauen wirkt so natürlich, obwohl es ganz genau das natürlich nicht ist. Es ist alles andere als natürlich, aber es ist offenbar das einzige, das wir können. Oder es hat einfach irgendwann einmal angefangen, vielleicht war das Bauen am Anfang sogar nötig, aber jetzt ist es Selbstzweck, Beschäftigungszwang geworden. Jetzt geht es ohne das Bauen nicht mehr, jetzt ist ein Leben ohne Bau unvorstellbar geworden. Was wäre zu tun, wenn es keinen Bau gäbe? Wo würden wir anfangen? Mit den unbeantwortet gebliebenen Warum-Fragen? Dann würden wir sogleich wieder zurückfallen ins alte Elend. Würden wir das Haus verlassen? Eine unverschämte, eigentlich eine obszöne Frage. Eine solche Schamlosigkeit war nur ohne den Bau zu denken und darum gab es den Bau ja. Solche Schamlosigkeiten durften gar nicht erst im Kopf irgendeines Familienmitglieds entstehen. Nur ich dachte an solche Fragen, da ich mich nicht unaufhörlich mit dem Bau beschäftigte, da ich den Bau gar nicht betreffende Gedanken hatte, ja Gedanken regelrecht hegte, die den Bau nicht betrafen. Darum baute man und darum durfte der Bau auch nie aufhören. Er konnte freilich auch nicht nie aufhören, denn er war permanent der Zerstörung, dem Verfall preisgegeben und musste darum auch permanent repariert und in Stand gehalten werden. Man arbeitete für den Stand der Dinge in einer immerwährenden Veränderung. Darum hörte die Arbeit auch nie auf, weil sich alles immerfort veränderte. Und es veränderte sich naturgemäß zum Schlechten, es verschlechterte sich und musste darum auch permanent ausgebessert, verbessert werden. Ständig war die ganze Familie mit dem Ausbessern beschäftigt, man versuchte, eine sich verschlechternde Lage, die Lage der Dinge, zu verbessern, besser: auszubessern, und doch war um uns eine ständige, eine niemals endende und niemals enden wollende Verschlechterung der Lage, also der Lage der Dinge. Diese Arbeit ermüdete in zweierlei Hinsicht: Es gab eine tägliche Ermüdung und es gab eine lebenslängliche Ermüdung, eine tödliche Erschöpfung, eine Überanstrengung, die nicht mehr gutzumachen war und unter der alle fortwährend litten. Über die Tagesanstrengung hinaus gab es ein übergeordnetes Gefühl der Vergeblichkeit, der Nutzlosigkeit der eigenen Bemühungen, das ich bereits sehr früh verspürt hatte und das die eigentliche Ursache für die Verbitterung meiner Familie ist. Vater, Mutter, Schwestern – alle waren sie verbittert. Wie in ihre Arbeit versteinert wirkten sie. Ihre Gesichter hart, ihre Hände hart, alle Gesten, alle Blicke nur hart. So waren sie geworden, durch den Bau geworden. Von Ermüdung und Verzweiflung zusammengepresst. Aber von ihrer Verzweiflung sprachen sie nie. Immer nur vom Bau. Obwohl sie doch wenigstens in hellen Stunden wissen mussten, dass der Bau sie verzweifeln lassen musste, dass der Bau die Ursache ihrer Verzweiflung war, ob sie sich dieser Verzweiflung bewusst waren oder nicht. Über die Verzweiflung hatte es natürlich nie eine einzige Unterhaltung in unserer Familie gegeben. In meinem Bibliothekszimmerchen hatte ich Ruhe, monologisches Reflektieren ersetzte mir die fehlenden, die nie geführten Gespräche. Hier war ich allein, wenn die Ruhe auch ungewiss war. Eigentlich war immer irgendwo ein Klopfen zu hören. Bearbeitungsgeräusche allgemein, ob es nun Stein, Holz oder Metall war, das bearbeitet wurde. Dumpfes Klopfen oder Pochen, helleres Hämmern, dunkles Schieben und leichtes Kratzen, mal näher, mal ferner, mal näherkommend, mal sich entfernend. Baugeräusche jedenfalls, immer Arbeitsgeräusche. Kein Lachen, keine Stimmen, immer nur die Geräusche der Tätigkeiten, während ich Ruhe suchte, während ich vergeblich die Bibliothek aufsuchte, um Ruhe zu finden. Ruhe, die es naturgemäß in einem solchen Bau, auf einer solchen Baustelle nicht geben konnte oder bestenfalls ausnahmsweise, wenn die Bautätigkeiten einmal ruhten. Aber Wand an Wand mit anderen Familien ruht die Bautätigkeit eigentlich nie und wenn sie ruht, muss man mit der Familie am Küchentisch sitzen oder zu Bett gehen. Es war zwecklos, Ruhe suchen zu wollen. Die Suche nach Ruhe war ebenso ermüdend und verzweifelnd wie die Arbeit am Bau. Aber ich hatte mich für die Sinnlosigkeit der Ruhe entschieden, nicht für die Sinnlosigkeit der Arbeit. Das machte mich zum Außenseiter und zum Gegenstand von Fragen. Und das machte meinerseits wiederum meine Familie zum Gegenstand von Fragen. Und mit diesen Fragen begann die eigentliche Zerstörung. Nicht die äußerliche Zerstörung des Baus – der Bau konnte durch Fragen nicht zerstört, noch nicht einmal gestört werden, er konnte sich nur selbst zerstören oder durch Kräfte außerhalb des Baus und damit außerhalb unserer Vorstellungswelt zerstört werden, nicht die innerliche Zerstörung durch die Arbeit, sondern die eigentliche Zerstörung, die endgültige Vernichtung, denn Fragen brennen Löcher in den Alltag, in die unausgesprochene Verfassung dieses Lebens, in die Gesetze und die Ordnung meiner Familie. Von den Fragen haben wir uns alle nicht mehr erholt, nicht mehr erholen können. Wer dieses Kartell der Einförmigkeit, des Schweigens und der Langeweile aufbricht, wer durch sein Handeln oder auch nur durch bloßes Fragen gegen diese Ordnung verstößt, ist verloren und stürzt auch alle anderen in den Abgrund. Schon die Fragen allein setzen sich im Kopf, im ganzen Fleisch des Körpers mit Widerhaken fest. Und da es keine Antworten gibt, beginnen sie zu eitern. Wir verfaulen innerlich, während wir gegen den unaufhörlichen Verfall unseres Hauses kämpfen, während wir gegen die Zerstörung arbeiten, werden wir zerstört. Die Fragen oder vielmehr die fehlenden Antworten vernichten uns innerlich, während wir äußerlich unbewegt, aber immer vergeblich gegen den Zerfall, die Zerstörung arbeiten, bauen, planen. Mit ständig schwächer werdenden Händen schleppen wir Baumaterial heran und ergreifen das Werkzeug. Es ist aber naturgemäß eine Arbeit, die niemals zu Ende geht, die nicht beendet werden kann, ein Kampf, der nicht zu gewinnen ist, dem du dein Leben opfern und doch nichts dafür erhalten kannst. Nur äußerste lebenslange Anstrengung. Und dennoch ist es eine Obszönität, eine unerhörte Begebenheit, dass ich mich weigere, mich dieser sinnlosen Anstrengung zu unterziehen, zu unterwerfen. Obwohl doch alle wissen, dass diese Arbeit, diese tödliche Erschöpfung vergeblich ist, durch kein glückliches Ende gekrönt, ohne versöhnliches Ende bleibt, völlig sinnlos bleiben muss. Alle wissen das und mir wirft man meine mangelnde Hilfe vor, ich strenge mich beim Bau nicht genug an, arbeite eigentlich gar nicht, auch wenn ich vorgebe zu helfen. Die wenigen Augenblicke in der Bibliothek musste ich bitter bezahlen. Mit Spott und schweigendem Unverständnis. Aber alle wussten doch eigentlich oder mussten es wissen, dass der Kampf gegen den Zerfall, gegen die endgültige Zerstörung nicht gewonnen werden konnte. Aber ich, der ich die Konsequenzen aus diesem Wissen zog, wurde verspottet und verleumdet. Sicher auch in den Nachbarhäusern, die Schwestern redeten beim Bau ja ungeniert über alles unsere Familie und insbesondere mich betreffende. Auf diese Weise arbeiteten und spotteten meine Schwestern tagein tagaus und hatten dabei den gleichen mürrischen Gesichtsausdruck, die gleichen verbitterten Gesichtszüge wie unsere Eltern. Sie sahen aus wie unsere Eltern, sie gingen wie unsere Eltern, sie redeten, wie unsere Eltern früher geredet haben, wie sie geredet hätten, wären sie nicht lange schon sehr schweigsam. Sie gaben vor, die Konzentration auf die Arbeit am Bau ließe sie schweigen, doch sie schwiegen vor Verbitterung, vor Verzweiflung über die Vergeblichkeit ihres Versuchs, das Haus zu retten, es vor dem Verfall zu bewahren. Sie schwiegen, weil sie auf diese Weise am wirksamsten das eigentliche Gespräch, den wesentlichen Gesprächsgegenstand, unsere unausgesprochene fortwährende Verzweiflung, vermeiden konnten. Schwieg man zu allem, schwieg man auch immer über die Verzweiflung. Also sagten sie nur das allernötigste, den Bau oder den Familienalltag betreffend. So reichten wir uns gegenseitig Backsteine und Brot, Wurst und Mörtel auf kurze gemurmelte Bemerkungen hin, für einfache Handgriffe reichte unser Reden, an lange Gespräche kann ich mich nicht erinnern. Dabei hätte es genug Gesprächsstoff gegeben: Über den Bauwahn der Familie, über unser Unglück, über unsere Verzweiflung hätten wir sprechen müssen, über das dauernde Schweigen hätten wir reden sollen. Oder wenigstens über einen Plan, die Arbeit am Bau zu reduzieren. Die Familie hätte sich in wenige, absolut notwendige Zimmer zurückziehen können, um so die unaufhörliche, zu Tode erschöpfende, alles aufzehrende Bautätigkeit zu begrenzen und zu vermindern. Die Maßlosigkeit dieses Baus, die schlechte Luft, die dadurch ausgelöste Fäulnis, die Ursachen des Zerfalls – darüber wäre zu sprechen. Aber dafür hat meine Familie keine Zeit, die Zeit des Gesprächs würde dem Bau fehlen, würde ein Nachlassen in der Arbeit zu bedeuten, einen Rückstand, der nicht mehr aufzuholen wäre. Würden sie sich setzen und wirklich mit dem Sprechen beginnen, wäre der Bau praktisch verloren und alles stürzte augenblicklich über ihnen, unter ihnen zusammen. Also arbeiteten sie schweigend an diesem Bau und selbst ihr Schweigen wirkte angestrengt. Wie oft hatte ich meine Familie gebeten, die elende Schufterei wenigstens auf den kommenden Tag zu verschieben. ‚Morgen’, rief ich ihnen zu, ‚morgen wollen wir arbeiten, dann aber mit ganzer Kraft. Mit frischen Kräften morgen ein wichtiges Werk beginnen’, rief ich immer wieder, hellsichtig geworden durch die Lektüre der Schriften Kafkas, aufgewühlt durch die Lektüre Bernhards und Dostojewskis, aber sie hörten nicht auf mich, hörten mir nicht einmal zu, hörten nichts, drehten sich auch nicht um und arbeiteten weiter. Ihre Arbeit war aber nicht nur der verzweifelte und vergebliche Kampf gegen die sichere Zerstörung, es war auch eine Abwehr des Fremden, des Anderen, des Neuen, das von außen in den Bau eindringen konnte. Brach irgendwo eine Wand zusammen oder fielen ein paar Dachziegel hinab, konnten schnell fremdes Getier oder gar Diebe eindringen und so den Bau gefährden und womöglich gar weiter beschädigen. Gerade dort, wo der Bau an andere Gebäude grenzte, gab es häufig Schäden, so als potenziere sich an diesen Stellen die Fäulnis, der Verfall der aneinander grenzenden Bauten. Dort, wo unser Bau an den Bau einer anderen Familie grenzte, deren tatsächliche Zahl wir im Übrigen nicht kannten, war der Zerfall, die Verwahrlosung des Baus stets die größte. Dort, wo einander fremde Familien mit der größten Sorgfalt und dem größten Fleiß an ihrer Abgrenzung arbeiteten, ist die Fäulnis von Mauerwerk und Stützbalken naturgemäß die allergrößte. Hier sind die Bauarbeiten am nötigsten und zugleich am gefährlichsten, da man von den Bauplänen der Nachbarn natürlich nichts weiß, nichts wissen kann. So arbeitet man unabsichtlich gegeneinander und gefährdet sich womöglich durch die Arbeit an einer gemeinsamen Trennwand, die man von zwei Seiten auszubessern sucht. Nur ein geschlossener Bau ist ein sicherer Bau. Da aber fast immer neue Mängel auftreten, ist der Bau selten geschlossen, es gibt Lücken und Löcher und so arbeitet meine Familie permanent an der Schließung des Baus, an der endgültigen Einschließung der Familie. Hier wird etwas aufgebaut, dort sackt es wieder in sich zusammen, die Fäulnis zerbröselt das Mauerwerk, die Balken werden morsch und brüchig und so wird ständig etwas ausgetauscht und ausgebessert, ist man an einer Stelle fertig, entdeckt man sogleich bei jedem noch so flüchtigen Rundgang neue Baustellen, das Bauen hört nicht auf, eine lebenslange Gefangenschaft der Knechte und Mägde des Baus. Es kann nicht aufhören, weil der Verfall nicht aufhört.
Nein, diese Familie war nicht glücklich. Niemand von uns wusste überhaupt, was Glück war, wie ein glücklicher Augenblick sich anfühlte. Und so schwiegen meine Eltern, meine Schwestern riefen sich Dummheiten und Frechheiten zu, meist mich betreffend. Nichts Tröstendes war in diesem Bau, nur Unglück, verzweifeltes und verzweifelt machendes Schweigen, die unendliche zu Tode erschöpfende sinnlose Arbeit. Und ein paar ruhige Momente hinter einer kleinen Tür.
Robert Johnson - Hellhound On My Trail. http://www.youtube.com/watch?v=Y7EaO7BPdrQ
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