Dienstag, 31. Mai 2022

Make Germany Safe Again

 

Im Restaurant Paris-Moskau vor dem Bundesinnenministerium sitzen Helge Schumann, ein Rüstungslobbyist aus der linksalternativen Szene, und der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen Franky Gurlik bei einer Flasche Chardonnay. Schumann hat Steinbutt mit Bohnen und Fregola bestellt, Gurlik die rosa gebratene Rehkeule mit Buchenpilzen und Selleriepüree.

„Ich kann gar nicht verstehen, wieso die Leute immer noch ins Borchardt gehen. Das Schnitzel kostet 32 Euro, der Service ist lausig und der Kartoffelsalat auf Imbiss-Niveau,“ sagt Gurlik gutgelaunt.

„Und im Einstein und in der StäV sitzt man unter lauter Touristen,“ pflichtet ihm Schumann bei. „Hier kann man sich wenigstens in Ruhe unterhalten.“

„Was haben Sie mir denn an neuen Ideen mitgebracht? Schließlich müssen wir hundert Milliarden zusätzlich für Rüstung ausgeben. Das ist gar nicht so einfach.“

„Mr muss ´s nemma wie ´s kommt“ antwortet Schumann in seinem Dialekt. Die Orgon-Zola AG, deren Interessen er in Berlin vertritt, hat ihren Sitz in Schwäbisch Hall. „Wir haben makrobiotische, tiefenvegane Marschverpflegung für die Infanterie im Angebot. Da könnte man einen Vertrag über die regelmäßige Lieferung von Lebensmittelpaketen sprechen, deren Verpackung selbstverständlich ökologisch abbaubar ist.“

„Sehr interessant. Bei der Bundeswehr gibt es jeden Tag Fleisch in der Kantine. Das kann ja nicht so weitergehen.“

„Dann kann ich Ihnen Ayurveda und homöopathische Mittel für das Feldlazarett anbieten. Ich sage nur: weg von der Chemie.“

„Ausgezeichnet! Meine Parteifreunde werden begeistert sein.“

„Wir haben auch Tarnkleidung mit Batik-Muster im Programm. Aus recycelten Altkleidern. Dazu Socken aus Schurwolle vom Merlot-Schaf.“

„Sie meinen Merino-Schaf?“

„Natürlich. Außerdem können wir Ihnen Reich-Orgon-Akkumulatoren zu einem günstigen Preis von nur tausend Euro pro Stück liefern. Das sind reine Defensivwaffen.“

„Hört sich toll an. Damit könnte man die gesamte NATO-Außengrenzen bestücken.“

Das Essen wird serviert.

„Am liebschda komma, wenn scho gschafft isch, abr no ned gessa“, sagt Herr Schumann.

Beide lachen und stoßen miteinander an. Wieder sind ein paar hundert Millionen ausgegeben. Politik ist harte Arbeit.



 

 

Montag, 30. Mai 2022

Bienvenue chez Bonetti: Blogstuff 700


„Es genügt, einem Menschen eine Uniform anzuziehen, ihn von seiner Familie zu trennen und die Trommel zu rühren, um ein wildes Tier aus ihm zu machen.“ (Leo Tolstoi)

Direkt neben dem Steakhaus wurde ein veganes Café eröffnet. Was für eine Provokation! Natürlich wurde der Öko-Schuppen eines Nachts abgefackelt. Die Woko Haran ist doch selbst daran schuld. #Putinversteher

Er lauschte angestrengt an der Schlafzimmertür. Die Bettfedern quietschten und er hörte, wie jemand kicherte. Er riss die Tür auf und was sah er? Seine Frau und einen Zwergwüchsigen mit Narrenkappe, der sie mit einer langen Feder kitzelte. Sollte er ihn zum Duell fordern?

Warum ist Putin am 24. Februar in die historische Schlacht geritten und nicht zwei Tage früher? 22.2.22 hätte man sich doch viel besser merken können.

Hundeliebhaber, gut und schön. Aber deswegen nennt man seine Söhne nicht Struppi und Lumpi.

Ich soll etwas über hessische Comedy schreiben. Das ist gar nicht so einfach, wenn man keine Ahnung hat. Als ich nach Frankfurt komme, ist die Äppelwoi-Arena verwaist. Heinz Schenk ist mit seiner Burlesque-Revue „Dead Man Walking“ in Las Vegas und Miami unterwegs. Ich treffe Gertrude Tulpenstengel zu einem Interview, aber ich verstehe kein Wort, da sie kein Hochdeutsch spricht. Ihr neues Solo-Programm „Mittelfristig heiter bis wolkig“ soll den Harndrang fördern. In Darmstadt-Wixhausen spreche ich mit Heribert Fassdaubi, der sein Geld mit lustigen Namen für Friseursalons verdient. Ist die hessische Comedy im Kommen? Und wo geht sie hin? Er antwortet salomonisch: Sie steht. Und damit gebe ich zurück an die angeschlossenen Funkhäuser.

Deutschland muss in der Kriegsfrage wieder in die Offensive kommen. Ich fordere den Scholz-Putin-Pakt. Deutschland in den Grenzen von 1940: Österreich, Tschechien, Westpolen und Ostpreußen werden Bundesländer. Russland bekommt Ostpolen, das Baltikum, Finnland, Belarus, Moldawien und die Ukraine. Putin krönt sich selbst wie einst Napoleon. Wir bauen endlich die deutsche Atombombe und jagen die Amerikaner bei Dünkirchen ins Meer.

Hätten Sie’s gewusst? Guiseppe Verdi wurde als Gustav Grün in Karlsruhe geboren und zog 1881 aus steuerlichen Gründen nach Verona.

Es ist immer wieder dieselbe angenehme Erfahrung: Ich bin ein paar Wochen nicht im Internet und habe plötzlich viel Zeit, um mich zu entspannen und nachzudenken. Ich mache Urlaub vom Geschwätz, von der Besserwisserei und der schlechten Laune anderer Menschen. Da fährt man aus seinem verträumten Dorf in die Berliner Innenstadt, um sich zu erholen. Das sollte ich öfter machen. Auch in Schweppenhausen.

Man verkauft uns Uhren ohne Zeiger.

Wozu gibt es eigentlich Erklärungen?

Yassassin (Turkish For: Long Live) (2017 Remaster) - YouTube


Sonntag, 29. Mai 2022

Gleichheit

 

Waren wir jemals wieder so gleich wie auf der Grundschule? Ich wohnte in einem Block, der aus vier Sechs-Familien-Häusern bestand, die um eine Wiese und einen Spielplatz herumgebaut waren. Drei meiner fünf Freunde lebten in den Nachbarhäusern, einer auf der anderen Straßenseite in einem Hochhaus, ein anderer etwa zweihundert Meter weiter im fünften Stock.

Vier Väter arbeiteten in der „Firma“, einer Fabrik, deren Gelände direkt hinter unseren Häusern begann. Der fünfte Vater, ein Jugoslawe, hatte ein Restaurant auf der anderen Straßenseite, die „Dalmatiner Stuben“. Keiner von uns interessierte sich dafür, was unsere Väter genau machten. Drei Mütter, darunter meine, arbeiteten, die beiden anderen waren Hausfrauen.

Wir gingen in dieselbe Klasse und verbrachten die Nachmittage gemeinsam bei schönem Wetter draußen mit Fußball, Fangen oder Verstecken, bei schlechtem Wetter in einem der Kinderzimmer, die alle irgendwie gleich aussahen. Unsere Klamotten und Schuhe unterschieden sich nicht: Cordhosen, Halbschuhe, Pullover und Shirts. Es war egal, wohin man im Sommer in Urlaub fuhr oder ob man zuhause blieb. Wir haben die gleichen Comics gelesen und das gleiche Eis am Stiel gegessen.

Samstag, 28. Mai 2022

Ebony and Irony

 

Blogstuff 699

„Mir scheint alles so flüchtig, dass mich nichts richtig aufregt.“ (David Bowie: Stardust Interviews)

Es sind immer die Anständigen und die Ehrlichen, die mit der Welt hadern. Man muss nur ein bisschen hinterfotzig sein, dann ist das Leben gar nicht so übel.

Die gute alte Retour-Kutsche fährt immer noch.

Ich bin Talibanversteher. Damit gehöre ich in Deutschland zu einer Minderheit, die ständig angefeindet wird. Aber ich sage trotzdem meine Meinung. Burka – finde ich gut. Die Frauen sollten sich um die Kinder und die Mahlzeiten kümmern. Dazu müssen sie nicht Lesen oder Schreiben können. Die Männer verteidigen nur die Traditionen ihres Landes gegen die Angriffe militanter Feministinnen.

Irgendwann wird alles so schnell, dass es einfach an dir vorbei rast. Du kannst noch hinterherrufen: „Hey, nicht so eilig“. Aber du bleibst einfach zurück. Alles Alte wird zurückgelassen. Und das schreibe ich mit 55.

Wenn ich auf etwas reagiere, bin ich noch lange kein Reaktionär. Wenn ich agiere, bin ich kein Aktionär.

#Wortspielhölle. Eber-Link. Ich bitte um Applaus!

Ich weiß gar nicht mehr, wann das angefangen hat, aber eines Tages hat mir der Wirt von meinem Stammlokal keine Rechnung mehr geschrieben, sondern gesagt: „Gib mir einfach dreißig Euro“. Im Laufe der Zeit wurden die Summen immer niedriger und ich rundete immer höher auf. Ein Spiel. Neulich wurde es dann völlig absurd. Ich hatte mir ein Spargelessen gewünscht, obwohl er gar keinen Spargel auf der Karte hatte. Er servierte mir grünen Spargel mit Garnelen, Tomaten und Parmesan. Dazu brachte er mir ein Glas rheinhessischen Riesling. Es folgte Beelitzer Spargel mit Lachs und gebratenem Apfel, begleitet von einem Badener Grauburgunder. Danach bestellte ich noch ein Stück Käsekuchen und einen Espresso. Als er sich nach dem Essen zu mir an den Tisch setzte, hatte er noch ein Glas Merlot dabei. „Gib mir 35.“ Ich gab ihm einen Fünfziger und hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen.

Ein blonder Japaner. Kulturelle Aneignung oder nicht?

Mein erster Döner in Berlin. Der Preis ist von vier auf fünf Euro gestiegen. Was soll’s? Aber der Dönermann erklärt es mir. Offenbar ist er in letzter Zeit sehr oft darauf angesprochen worden. Für das Fleisch auf seinem Spieß zahlt er jeden Tag vierzig Euro mehr, der Zehn-Liter-Kanister Sonnenblumenöl kostet jetzt 33 Euro statt 17,50 Euro (an den Pommes verdient er nichts mehr), für ein Fladenbrot zahlt er inzwischen einen Euro statt fünfzig Cent, das Gemüse ist richtig teuer geworden, das Kilo Tomaten kostet 3,60 Euro. Dazu die hohen Energiepreise. Aber wir sollten hier in Deutschland noch glücklich sein, in der Türkei sei alles noch schlimmer.

Donovan - Hurdy Gurdy Man (Official Audio) - YouTube


Freitag, 27. Mai 2022

Gott schütze unsere wachsamen Bürger

 

Ich habe es seit Jahren erwartet. Daher ist es keine Überraschung. Ich bin vorbereitet. Irgendwo in diesem Bürogebäude schlagen Kugeln ein. Ich höre Glas splittern und die Angstschreie von Menschen. Ich werfe mich auf den Boden und ziehe die unterste rechte Schublade meines Schreibtisches auf. Dort liegt meine Glock 17 mit zwei Ersatzmagazinen. Ich robbe bis zum Fenster und erhebe mich dann vorsichtig. Nur ein kurzer Blick. Aber es ist nichts zu sehen.

Mindestens eine Schütze hat das Gebäude im Visier, aber ich höre auch Reifenquietschen und Einschläge unter mir. Ich arbeite im vierten Stock. Es wird wahllos geschossen. Nach vier oder fünf kurzen Feuerstößen gibt es eine Pause. Offenbar muss der Schütze nachladen. Mit der Waffe im Anschlag verschaffe ich mir einen Überblick. Auf dem Einkaufszentrum gegenüber steht ein Mann mit einem automatischen Gewehr. Auf der Straße stehen Autos kreuz und quer. Hinter einem Geländewagen hat sich Norbert „Chuck“ Sedlmayer verschanzt. Er ist im Schützenverein und hockt in Höhe des Motorblocks auf dem Bürgersteig. Ziemlich clever, denn die Türen halten keine Kugel auf. Er schießt mit seinem Jagdgewehr auf den Amokläufer.

Ich öffne das Fenster und eröffne das Feuer auf den Schützen auf der anderen Straßenseite. Aber die Glock ist auf diese Entfernung nicht präzise genug. An der Wand hängt mein Repetierer von Steyr, eine Langwaffe, die auch bei der Elefantenjagd eingesetzt wird. Ich nehme sie ab und entsichere sie, als die ersten Kugeln in meinem Büro einschlagen. Offensichtlich hat mich der Schütze entdeckt. Draußen ist inzwischen ein Inferno ausgebrochen. Schwer zu sagen, wie viele Leute gerade schießen. Ich presse mich an die Wand und wage einen kurzen Blick um die Ecke. Am Fenster des Gebäudes, das an das Einkaufszentrum grenzt, sehe ich den alten Roggensack. Ludger Roggensack ist achtzig, dement und hat den grauen Star. Er ballert mit seiner Uzi wie verrückt in alle Richtungen.

Inzwischen ist auch die Polizei eingetroffen. Sie stürmen in den Seiteneingang des Einkaufszentrums. Wenke Trautmann, meine Sekretärin, kommt auf allen Vieren ins Zimmer gekrochen. Sie hat eine Schachtel Magnum-Patronen für mein Gewehr, eine Dose Bier und eine Käsestulle mitgebracht. Tapferes Mädchen! Nachdem ich mich gestärkt habe, trete ich furchtlos ans Fenster und nehme den Schützen ins Visier. Inzwischen wird aus allen Fenstern und Fahrzeugen geschossen. Selbst die Zeugen Jehovas, die sonst nur friedlich ihren „Wachturm“ verteilen, schießen wie entfesselt auf alles, was sich bewegt.

Mit dem zweiten Schuss treffe ich seine Brust, die Kugel reißt ein faustgroßes Loch. Durch den Druck wird sein Körper nach hinten geschleudert und bleibt bewegungslos liegen. Ich darf gar nicht daran denken, wie schutzlos wir ohne unsere Waffen wären.  

Team Scheisse - ERFURT (Official Video) - YouTube


Donnerstag, 26. Mai 2022

Von höheren Töchtern

 

Ein warmer Frühlingstag, ich sitze bei einem Glas Muskateller vor dem Gasthaus und erörtere mit dem Wirt die aktuelle Lage in der Bundesliga, als die Vorhut eintrifft. Es ist die besorgte Mutter, die vom Bürgersteig aus nach glutenfreien Gerichten für ihre allergische Tochter fragt. Erleichtert über den positiven Bescheid des Wirts zieht sie sich zurück, um fünfzehn Minuten später mit der Tochter und der Oma die Außengastronomie zu betreten.

Die Tochter ist in der Spätpubertät. Ihr hellbraunes Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt einen grauen Kaschmirpullover, einen knöchellangen Rock mit schwarz-grauem Karomuster und flache, schwarzglänzende Lackschuhe mit einer breiten Silberschnalle. Die Mutter fragt die Tochter, an welchem Tisch sie sitzen möchte. Sie schaut sich eine Weile um und entscheidet sich schließlich für den Tisch, vor dem sie gerade stehen. Nun darf sie sich als Erste den Platz aussuchen. Sie setzt sich auf den ersten Stuhl, schaut sich nach links und rechts um, überlegt einen Augenblick und steht wieder auf. So geht es reihum, während Mutter und Großmutter geduldig stehen bleiben und zuschauen. Zu viel Sonne, fehlender Ausblick, zu nah an der Mauer. Der ganze Tisch geht überhaupt nicht.

Die Prinzessin wählt den nächsten Tisch aus, der halb im Schatten steht. Es ist ein kleiner runder Tisch, perfekt für drei Personen. Das Spiel beginnt von vorne. Alle drei Plätze werden mit hoher Konzentration geprüft, ein Blick nach links, ein Blick nach rechts, während alle warten, inzwischen sogar ich. Dann kommt dem Wirt die rettende Idee. Er fährt die Markise aus, sodass der ganze Tisch im Schatten ist. Der Schwan lässt sich gnädig nieder und endlich kann sich auch der Rest der Familie setzen.

Der Wirt bringt die Speisekarte. Zum Glück bietet er mittags nur fünf Gerichte an. Madame entscheidet sich nach einer längeren Erörterung der Optionen für den Lachs und beschäftigt sich ab diesem Augenblick mit ihrem Handy. Kommunikative Anbahnungsversuche werden mürrisch und ohne aufzublicken mit knappen Antworten beschieden. Während ich mich den Ochsenbäckchen mit Semmelknödel widme, erfahre ich aus ihrem Gespräch, dass die Familie auf den Umzugswagen wartet. Die Tochter wird in den wunderschönen Altbau auf der anderen Straßenseite einziehen. Leider, so klagt sie, nur in eine Wohnung im Hinterhaus. Warum hat man diesem bedauernswerten Kind eine so armselige Unterkunft gekauft?

 

Mittwoch, 25. Mai 2022

Meine Dunkelheit wird eure Sonne löschen

 

Blogstuff 698

„Zweifellos kommen wir voran, aber wir machen keine Fortschritte.“ (E. M. Cioran)

Die erste gute Tat des Tages, heute schon vor dem Frühstück. Ich gebe der Bäckerin das zu viel gezahlte Wechselgeld zurück. Dereinst werde ich zur Rechten Gottes sitzen und über euch richten.

Heimat ist ein Ort, an den man zurückkehren kann. Sie ist aber auch eine Zeit, Kindheit und Jugend, die für immer verloren gegangen ist. Helmut Schön ist tot.

Die übergriffigen Ausländer- und Behindertenversteher, selbst kerngesund und urdeutsch, die glauben, im Namen der anderen sprechen zu müssen.

Jeder bedeutende öffentliche Neubau vermittelt natürlich eine Botschaft. Beim Wiederaufbau des Stadtschlosses, ich verzichte hier auf die lächerliche Bezeichnung „Humboldt-Forum“, mit dem die Angelegenheit einen bildungsbürgerlichen Anstrich bekommen soll, geht es offenbar darum, die DDR-Geschichte mit dem Palast der Republik buchstäblich zu überbauen und eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen, als das Schloss noch eine Funktion hatte. Von der Berliner Republik ins Kaiserreich; Weimar, Nationalsozialismus, verlorene Kriege und Teilung haben an diesem Ort keinen Platz. Ebenso verräterisch ist das neue Innenministerium, diese fürchterliche Kaserne der Bürokratie, diese Überwachungsfabrik, hinter deren gleichförmigen Fenstern tausende Zombies in grauen Anzügen Formulare abstempeln.

Als ich neulich in alten Unterlagen herumstöberte, fand ich ein Projekt aus dem Jahr 1993. Skizzen und Dialoge zu einem geplanten Comic rund um die Figur des Schlomo Bergomask, der bereits zuvor in meinen Kurzgeschichten aufgetaucht war und 2009 sowie 2013 als Hauptfigur in zwei Berlin-Krimis ermittelte. Dabei arbeitete ich mit Eva Muszynski aus Kreuzberg zusammen. Den Comic hat es nie gegeben. Jetzt habe ich ihren Namen gegoogelt. Sie hat als Kinderbuchautorin und Illustratorin gearbeitet und ist 2020 gestorben. Eva Muszynski – Wikipedia

Das erste gemeinsame europäische Projekt war der Kreuzzug.

Das Klagelied des jungen Bettlers in der S-Bahn: „Ich komme aus dem Müll, ich gehe in den Müll“. Immer und immer wieder.

#Wortspielhölle. „Trenntstadt Berlin“ als Werbung für Mülltrennung. Trennt Berlin!

U-Bahn-Fahrt. Links neben mir wird russisch gesprochen, rechts neben mir Hebräisch. Hinter mir eine Unterhaltung auf Englisch. Immerhin verstehe ich wenigstens dieses Gespräch. Er ist Berliner Türke, dessen zweite Heimat London ist, weil seine Tochter dort wohnt. Sie lebt seit drei Monaten in Berlin und will im nächsten Jahr in eine andere Großstadt ziehen, ihr Sohn lebt in Wien. Diese Stadt wird immer internationaler. Wirklich deutsch ist nur die Provinz.

PDA (2012 Remaster) - YouTube

Dienstag, 24. Mai 2022

Welcome to Wichtelbach

 

Natürlich war uns allen klar, dass es unser Dorfleben verändern würde, als ein großes Tourismusunternehmen beschloss, unseren Ort ins Programm „Germany in seven days“ aufzunehmen. Die Tragweite dieser Entscheidung wurde uns aber erst später bewusst.

Natürlich hat Wichtelbach einiges zu bieten. Wir haben Fachwerkhäuser, Bauern auf Traktoren, einen Weinberg und eine malerische Mühle, die am Bach steht. Was seit langem fehlt, ist eine Dorfkneipe und ein Tante-Emma-Laden. Die Gebäude stehen seit Jahren leer. Das ist natürlich nicht so schön, wenn zwei Mal in der Woche eine Busladung Japaner, Texaner und Inder an der Hauptkreuzung ins Freie gelassen wird.

Also wurde der alte Finkenkrug wieder hergerichtet. Es gibt Heineken-Bier vom Fass, ansonsten Tee, Kaffee und Softdrinks. Vier glückliche Männer bekommen hundert Euro die Woche, wenn sie zwei Stunden lang am Tresen sitzen und Freibier trinken, während der fünfte Mann den Gastwirt spielt. Das wirke „authentisch“, wie man mir versicherte. Im wiedereröffneten Tante-Emma-Laden verkauft eine wohlbeleibte Bauersfrau mit roten Bäckchen Souvenirs, Kuchen und belegte Bagels.

Drei Rentner, darunter auch ich, werden dafür bezahlt, schweigend auf einer Bank zu sitzen. Die Schiebermützen und Spazierstöcke wurden uns vom Unternehmen gestellt. Alle fünfzehn Minuten donnert Bauer Schubert auf seinem Traktor die Dorfstraße entlang. Im Weinberg steht der Winzer, der sich vertragsgemäß den Schweiß von der Stirn wischt, wenn der Bus vorbeikommt. Auch im tiefsten Winter.

Die Touristen aus aller Welt sind begeistert von dem typisch deutschen Dorf. Nirgendwo Computer oder junge Leute mit Handys. Es wird viel fotografiert. Natürlich lächeln wir nicht, wenn wir auf unserer Bank sitzen. Das hat uns der Marketing-Chef gleich am ersten Tag eingeschärft. Es muss schließlich echt wirken. Mit dem gleichen Konzept hätte man bereits bei den Massai in Kenia, den Apachen in den USA und lamaistischen Mönchen in Nordindien große Erfolge erzielt.

Ich spiele die Rolle des Deutschen sehr gern. Sie ist mir wie auf den Leib geschneidert. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich am liebsten die Rolle des Schriftstellers im Berliner Szenecafé (letzter Reisetag). 

Change (extended) - Tears for Fears - YouTube

Montag, 23. Mai 2022

Bernd


Haben Sie auch eine Stimme in Ihrem Kopf?

Meine Stimme heißt Bernd und ist immer schlecht gelaunt.

Bernd glaubt, die Welt geht unter. Atomkrieg, Klima, Affenpocken oder allgemeine Doofheit.

Bernd ist da, sobald ich aufwache. Er ist im Supermarkt, vor dem Fernseher oder beim Spaziergang immer bei mir.

Ständig redet er auf mich ein.

Bernd steht zwischen mir und dem Glück.

Drei Engel für Aldi

 

Blogstuff 697

„Dem Land (…) entweicht mittlerweile ein peinlicher Dunst von kollektiver Orientierungsarmut und Selbstlähmung, von kleinkarierter Angepasstheit und Reformunfähigkeit, ein Hautgout von Bequemlichkeit und übertriebenem Sicherheitsbedürfnis, von weinerlichem Selbstmitleid und Veränderungsangst, von morbidem Hedonismus und Dekadenz.“ (Wirtschaftswoche 47/2002)

Das Zitat ist zwanzig Jahre alt und immer noch aktuell.

Den Niedergang der Linken erkennt man auch daran, dass dieselben Leute, die vor zwanzig Jahren gegen den amerikanischen Angriffskrieg in Afghanistan und im Irak waren, jetzt den Imperialismus des totalitären Putin-Regimes bejubeln.

Gesichtswarzen sind nie ein schöner Anblick, aber dieses Exemplar beeindruckt mich mit seiner monströsen Hässlichkeit. Am Nachbartisch des Cafés sitzt ein blonder Mann um die vierzig, neben dessen rechten Ohrläppchen eine himbeergroße, leuchtend rote Warze prangt. Es ist faszinierend und abstoßend zugleich. Ich muss immer wieder hinschauen, ich kann gar nicht anders.

Wann fing es eigentlich an, dass Komiker ihr Privatleben ausbreiteten? Das wäre in den siebziger oder achtziger Jahren undenkbar gewesen. Damals wusste man noch, dass Herkunft und sexuelle Orientierung für das Publikum uninteressant sind. Es ist kein Entertainment, wenn jemand nur über sich selbst spricht. Deine Mutter ist an Krebs gestorben? Das interessiert mich nicht, weil ich deine Mutter nicht kenne. Comedy ist eine Dienstleistung. Ich lache, ich zahle. Ich lache nicht, ich zahle nicht. So einfach ist das. Homosexualität oder schwäbische Herkunft sind, für sich genommen, noch keine Pointe.

Im Wahlprogramm 2021 hat die FDP einen „Entfesselungspakt für die deutsche Wirtschaft“ gefordert. Wir leben also noch gar nicht im entfesselten Kapitalismus. Da kann man noch ein oder zwei Gänge höher schalten.

Viele assoziieren Alleinsein mit Einsamkeit. Mir fallen als erstes Ruhe und Freiheit ein.

Für den Fall eines russischen Einmarsches entwickelt man in Rüsselsheim gerade den Opel Taiga.

A: Was macht dein Papa?

B: Grappa.

A: Was machst du so?

B: Ouzo.

Was macht Babs?

Gordon Lightfoot - If You Could Read My Mind - YouTube


Sonntag, 22. Mai 2022

Der Gratismut der Stammtischgeneräle

 

„Die gleichen Leute, die eben noch gegen die 'Corona-Diktatur' zu Felde zogen, drücken nun ausgerechnet einem Usurpator die Daumen, der jeden abführen lässt, der auch nur leise Kritik an seiner Politik übt.“ (Jan Fleischhauer)

Die Putinversteher erinnern mich an die Querdenker. Obskure Quellen (chinesische und russische Staatsmedien) und die "alternativen Medien" dienen als Grundlage ihrer eklektizistischen Argumentation. Haben die Nachdenkseiten oder die selbsternannten Experten in Kleinbloggersdorf Korrespondenten in der Ukraine oder in Moskau? Woher bekommen sie ihren Rohstoff an Informationen? Sie verfügen nicht über eigenes Material oder die Fähigkeit, fremde Quellen professionell zu prüfen. Heraus kommen Geschwafel und Vermutungen auf Stammtischniveau.

Richtig süß ist das geradezu kindliche Staunen über Politiker, die nicht die Wahrheit sagen. Im Krieg dienen Informationen als Waffe? Nie davon gehört. Es gibt Propaganda von beiden Seiten? Sapperlot! War das schon immer so? Kann man seit neuestem etwa den Politikern nicht mehr trauen? Mein Name ist Holger, ich bin fünf Jahre alt und befasse mich zum ersten Mal mit Politik.

Zu dieser Naivität gehört auch die Forderung nach diplomatischen Verhandlungen. Nur mal so zur Info: Am 24. Februar hat Russland einen Krieg begonnen und besetzt gerade völkerrechtswidrig Teile der Ukraine. Damit hat Russland den Boden der Diplomatie verlassen. Wenn ich einem anderen Menschen überraschend die Faust ins Gesicht schlage, kann ich nicht einen Augenblick später darauf hoffen, „dass wir mal drüber reden“. Zu den Bedingungen für ernsthafte Verhandlungen gehören ein tragfähiger Waffenstillstand und ein völliger Abzug der russischen Truppen. Bei solchen Gesprächen geht es selbstverständlich auch um russische Reparationszahlungen.

Natürlich ist der Putinista ein Opfer. In einer Gesellschaft, in der es wichtig ist, zu einer Minderheit zu gehören, muss er selbstverständlich auch einer Minderheit angehören. Vorzugsweise wird er verfolgt, darf seine Meinung nicht mehr äußern, wird sozial und ökonomisch vernichtet, falls er nicht die Mehrheitsmeinung vertritt, und vermutlich im demnächst beginnenden Zeitalter des Faschismus erschossen. So viel Sophie Scholl war nie. Diese Helden an ihren Tastaturen, die tapfer anonyme Kommentare im Internet abgeben und dabei ihr Leben riskieren. Auf dem Sofa recken sie die verschwitzten Speckfäustchen gegen die Obrigkeit, wenn es keiner sieht. Die Gattin hat derweil die Aufschnittplatte für das Abendbrot mit drei Landjägern in Z-Form verziert. Der Kampf geht weiter!  




 

Samstag, 21. Mai 2022

Die Spitze des Eiswürfels

 

Blogstuff 696

Andreas Hofer, der Che Guevara Tirols, hat sich mit dem System aka Bayern angelegt. Natürlich ist es schief gegangen.

Ich habe mal wieder „Soylent Green“ gesehen, der bekanntlich im Jahr 2022 spielt. NYC hat vierzig Millionen Einwohner, die fast alle in völliger Armut leben. Die Menschen haben die Natur verschlungen und fressen sich nun gegenseitig auf. Das erinnert mich an die Besiedlung Neuseelands gegen Ende des 13. Jahrhunderts. Nachdem alle Großwildarten ausgerottet waren, ging man zum Kannibalismus über.

Eine häufig geäußerte Kritik an der Demokratie besagt, die Bürger seien an der politischen Macht gar nicht beteiligt und dürften nur aus einer begrenzten Zahl von Politikern auswählen. Das ist richtig, aber genauso war es intendiert. Die antike Idee der Demokratie, die im Zeitalter der Aufklärung ihr Comeback hatte, war, Herrschaft rational zu organisieren. Die Herrschaft wurde von den Schultern des Königs auf viele Schultern verteilt, zeitlich begrenzt und zur öffentlichen Begründung im Parlament und in den Medien verpflichtet. Es sollen gar nicht alle entscheiden, aber eben auch kein einzelner, dessen Wahnsinn und Fanatismus ein ganzes Volk in den Abgrund führen kann.

Hörtipp der Woche: Der neue Sender Voice of Wichtelbach. Noch mehr Achtziger-Hits. Keine Stunde ohne Phil Collins!

Was beim Vergleich von Putins Eroberungskrieg mit den US-Kriegen gerne unterschlagen wird: Den Vereinigten Staaten ging es nie um die Erweiterung ihres Territoriums, sondern um Regime Change. Russland will sein Staatsgebiet erweitern: Erst die Krim, dann die Separatistenrepubliken und jetzt mit einer massiven Militäroffensive die ganze Ukraine. Welche Großmacht hat das nach 1945 versucht? So betrachtet ist die archaische Blut- und Bodenpolitik des Moskauer Möchtegern-Mussolinis ein singuläres Ereignis.

Die einen glauben an den tendenziellen Fall der Profitrate, die anderen an die unbefleckte Empfängnis. Die Wirklichkeit ist ganz anders: Plötzlich werden Waren und Dienstleistungen wieder knapp, die es vorher im Überfluss gab. Die Preise steigen rapide. Eines Tages endet diese Knappheit, aber die Preise werden trotzdem nicht mehr fallen. So werden die fetten Profite der nächsten Jahre gesichert.

Billard heißt jetzt Klick-Klack.

Kein Rückgrat zu haben, ist auch keine Haltung.

Kunstprojekt: Hundehaufen mit Cocktailkirschen verzieren.

Tennis wird zukünftig ohne Linien und Schiedsrichter gespielt. Es gibt auch keine Gewinner und Verlierer mehr, weil niemand mitzählt.

Rod Stewart - Downtown Train (Official Video) - YouTube


Freitag, 20. Mai 2022

Fluch der Schönheit


Ich habe das alles nicht gewollt. Eigentlich hatte ich immer den Traum, Schriftsteller zu werden. Einfach zuhause am Schreibtisch sitzen und in Ruhe an einem Roman arbeiten. Aber dann haben mich meine Kumpels überredet, an der Wahl zum Mister Wichtelbach teilzunehmen. Ich sehe verdammt gut aus und bin sehr sportlich. Bei den Wichtelbach Giants spiele ich als Second Baseman. An einem Samstagabend stellten sich die acht Bewerber in der Dorfkneipe vor. Es war so peinlich. Ich hatte nur eine Badehose an und nicht nur die Frauen kreischten und johlten. Ich gewann den ersten Preis, eine Kaffeemaschine im Wert von dreißig Euro. Damals habe ich mir noch nichts dabei gedacht.

Aber dann kam die Wahl zum Mister Rheinland-Pfalz. Alle Kandidaten waren in einem Hotel in Koblenz untergebracht. Zum ersten Mal erschien mein Gesicht in einer Regionalzeitung, dem Hunsrücker Landboten. Eine Woche lang probte ich meinen Auftritt, ich wurde geschminkt und mein Haar von einem Coiffeur onduliert. Bisher hatte ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Dann kam der Abend der Wahl. Sie wurde live im Radio übertragen, dazu das Blitzlichtgewitter der Fotografen. Man hatte mir Brust und Beine rasiert, danach wurde ich eingeölt. Den Vortrag hatte mir der Wichtelbacher Bürgermeister geschrieben. Ich hätte gar nicht gewusst, was ich sagen sollte. Die Veranstaltung dauerte fast zwei Stunden. Dann kam das Votum der Jury. Ich konnte es selbst kaum glauben, aber ich hatte schon wieder gewonnen.

Am nächsten Tag wurde ich nach Berlin gebracht. Die Wahl zum Mister Germany stand an. Ich bekam eine maßgeschneiderte Badehose mit Strass-Applikationen. Meine Zähne wurden gebleicht, eine Botox-Spritze in die Stirn, zwei Botox-Spritzen in die Wangen. Heidi Klum brachte mir persönlich das Gehen auf dem Catwalk bei. Mein Vortrag über Rheinland-Pfalz wurde vom Redenschreiber der Ministerpräsidentin verfasst: „Das Land der Reben und Rüben“. Ich hätte gerne über die Raketen in Ramstein gesprochen. Es wurde eine Pressekonferenz veranstaltet, ich gab Autogramme. Täglich erreichten mich Heiratsanträge auf meinem Insta-Account. Um es kurz zu machen: Ich gewann. Ab diesem Augenblick wurde es unwirklich. Markus Lanz, Empfang im Schloss Bellevue, Interviews mit der BILD und der Gala. Ein Werbevertrag für Müsli, ein Fotoshooting auf den Malediven. Der erste Preis war ein Audi A 6.

Jetzt bin ich in Las Vegas. Die Wahl zum Mister Universum. Ich ernähre mich nur noch von grünem Salat und Wasser. Bier und Bratwurst kann ich vergessen. Ich habe zwei Bodyguards und sogar einen Vorkoster. Es heißt, Mister Russland und Mister China wollen mich vergiften. Ich habe die Kontrolle über mein Leben verloren. Ich soll an der Seite von Brad Pitt in einem Hollywood-Film mitspielen. Julia Roberts möchte mit mir zu Abend essen. Wichtelbach fehlt mir.  

Donnerstag, 19. Mai 2022

Alles Cannes, nichts muss

 

Blogstuff 695

„Lass uns faul in allen Sachen,

Nur nicht faul zu Lieb‘ und Wein‘,

Nur nicht faul zur Faulheit sein.“ 

(Gotthold Ephraim Lessing) 

Schweppenhausen-Berlin. Ich reise zuhause ab, um wenige Stunden später zuhause anzukommen.

Es ist schon frustrierend und erschöpfend, über diese Welt nachzudenken. Aber darüber schreiben? Warum sollte ich dieses Kreuz auf mich nehmen?

Die Religion ist der Nagel, an den man ganz bequem sein ontologisches Erkenntnisinteresse hängen kann. Alle Fragen zum Ursprung des Universums, zum Sinn des Lebens, zum Tod, zur Ewigkeit und zur Ethik sind mit einem Schlag beantwortet. Ein günstiges Pauschalangebot, das bereits viele Reisende vor dir gebucht haben.

Im Mittelalter gab es die Generation Kreuzzug.

„Entschuldigung, ich habe geträumt.“ Vor mir steht der große junge Türke, das Riesenkind, das hier irgendwo im Kiez wohnt. Er soll an der Aldi-Kasse bezahlen und war mit seinen Gedanken woanders. Er hat nicht das Down-Syndrom, aber er ist geistig zurückgeblieben. Er arbeitet nicht, lebt aber auch nicht im Heim. Ein herzensguter, aber völlig hilfloser Mensch, irgendwo im Niemandsland zwischen Normalität und Behinderung.

Hätten Sie’s gewusst? Im Sommer 1994 zogen die letzten Soldaten der Roten Armee aus der ehemaligen DDR ab, im Herbst begann mit dem Einmarsch russischer Truppen der erste Tschetschenienkrieg, nachdem ein pro-russischer Regime Change zuvor gescheitert war. Geringe Kampfmoral und hohe Verluste führten letzten Endes zur Niederlage Russlands. Tschetschenien blieb unabhängig, wurde allerdings international nicht als Staat anerkannt.

Warum können wir nicht einfach zugeben, dass wir vor zwanzig oder vierzig Jahren ein ganz anderer Mensch waren, mit dem wir heute nichts mehr zu tun haben wollen?

Woran die alten Utopien (Orwells „1984“, Huxleys „Brave New World“ und Samjatins „Wir“) leiden, ist der Glaube an einen starken Staat. Der Staat ist gar nicht mehr notwendig, die Menschen funktionieren im Sinne der Unternehmen von ganz allein.

Ich schlage für eine neue Literaturgeschichte folgende Systematik vor:

1.     Texte, die im Sitzen entstanden sind

2.     Texte, die im Gehen entstanden sind

3.     Texte, die im Liegen entstanden sind

Depeche Mode - Get the Balance Right! (Official Video) - YouTube


Mittwoch, 18. Mai 2022

Fundkunst - Kunstfund

 Diese Werke habe ich in einem Schuhkarton gefunden. Frühe neunziger Jahre, schätze ich.






Die Auktion ist eröffnet. Pfandflaschen werden nicht angenommen.


Pazifismus

 

„Da sprach Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert an seinen Ort; denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.“ (Matthäus-Evangelium, 26:52)

In der Gewissensprüfung für Kriegsdienstverweigerer war es eine beliebte Frage: Was tun Sie, wenn die Russen Ihre Freundin oder Ihre Mutter vor Ihren Augen vergewaltigen? Natürlich hat der Geprüfte zu antworten: Nichts, denn ich bin Pazifist. Und wenn man ihr die Kehle durchschneidet? Dann würde der Pazifist tatenlos zusehen. Er würde auch nicht eingreifen, wenn seine Kinder ermordet werden.

Das ist eine sehr lobenswerte Einstellung. Jesus Christus hat uns gelehrt, auch die andere Wange hinzuhalten. Nötigenfalls stirbt der Pazifist, bevor er gewalttätig wird. Diese Haltung schlägt aber in Hochnäsigkeit um, wenn der Pazifist glaubt, er sei deswegen anderen Menschen überlegen, die sich wehren und ihre Familie verteidigen möchten.

Es ist die Arroganz und Dekadenz der Leute, die sich fern aller Kriege und aller Gewalt auf ihrem Sofa zum Richter über Menschen aufschwingen, die gerade konkrete Gewalterfahrungen machen. Sie sind in ihrem Wohlstand abgestumpft und empfindungslos. Sie würden auch einer Frau, die in der U-Bahn überfallen wird, niemals helfen.

Pazifismus ist womöglich mehr als Tatenlosigkeit, geistige Bequemlichkeit und Passivität. Es reicht nicht, theoretisch gegen den Krieg zu sein. Nur ein Gedanke.

Das weiche Wasser - YouTube

 

Dienstag, 17. Mai 2022

Bonetti kündigt schonungslose Aufarbeitung an

 

Blogstuff 694

„Wir leben in einer Welt, in der Beerdigungen wichtiger sind als der Verstorbene, die Ehe wichtiger ist als Liebe, das Aussehen wichtiger als die Seele. Wir leben in einer Verpackungskultur, die Inhalte verachtet.“ (Anthony Hopkins)

Wenn es nicht mindestens zwölf verschiedene Sorten Yakbutter im Supermarkt gibt, steht Deutschland kurz vor der Hungersnot.

Wer ist ein Atheist? Ein Mensch, der nicht an den christlichen Gott glaubt? Was ist mit den Menschen, die nicht an Allah, Buddha, Zeus, Re oder Quetzalcoatl glauben?

16.5.2022. Rückkehr aus Berlin. Im Regionalexpress müssen die beiden ukrainischen Frauen nur ihren Personalausweis zeigen, er gilt als Fahrkarte. Deutschland gibt’s also auch in unkompliziert.

Die Westpartei AfD hat die Linken als Protestpartei in Ostdeutschland abgelöst. Damit ist die politische Kolonisierung der fünf neuen Bundesländer abgeschlossen. Die Linke begann unter dem Namen PDS nach der Wiedervereinigung als reine Ostpartei, die mit der DDR-Ideologie und sozialistischer Nostalgie bei den alten Siegern des Apparats und den neuen Verlierern des Kapitalismus Stimmen gesammelt hat. Diese linken Ideen wurden den Bürgern offenbar komplett ausgetrieben. Jetzt wählt der Osten rechte und rechtsradikale Parteien. Das sind gute Nachrichten für die westdeutschen Konzerne.

Man kann keine Kriegsverbrechen rechtfertigen, indem man andere Kriegsverbrechen aufzählt.

Überflüssig sein und doch im Überfluss leben.

Schokoladenwerbung 1916: „Bei stundenlangem Beschuss: Stollwerck Gold.“

Seit genau dreißig Jahren wohne ich in meiner Berliner Wohnung. Zum zwanzigjährigen Jubiläum 2012 finde ich folgenden Eintrag in einem Notizbuch: „Meine Wohnung gehört zu mir wie eine alte Raviolibüchse zu einem Einsiedlerkrebs.“

Damit fängt alles an: Du wirst geboren. Passiv. Du bringst dich nicht selbst auf die Welt. Du bist etwas Fremdes und versuchst dein Leben lang, etwas Eigenes zu werden.

Verlockung des Verbrechens, Verlockung des Krieges: die schnelle Veränderung.

Sieh dir dein jetziges Leben an und frag dich: Hast du es dir als Jugendlicher so vorgestellt? Hast du es so geplant? Die Differenz nennt sich Schicksal.

Neues aus den Bonetti Labs in Palo Alto: Es ist gelungen, einen coronaresistenten Menschen zu züchten. Langfristig soll er die bisher existierenden Menschen ersetzen.

„Aktionswoche Alkohol“ – meine Leber kommt an ihre Grenzen.

Sade - Is It A Crime (Remastered) - YouTube




Montag, 16. Mai 2022

Der letzte Döner


Gibt es so etwas wie „Döner-Glück“? Oder einen „Glücksdöner“? Ich gehe in der Halbzeitpause des Malefiz- oder Benefizspiels Gladbach gegen die Ukraine (die Fohlen trauen sich was!) zu meinem Dönermann. Obwohl es erst 21:30 Uhr ist, bin ich total schockiert. Salat komplett abgeräumt, Dönerspieß mit einem daumendicken Rest und schon abgeschaltet, der Dönermann hört türkisches Pokalhalbfinale im Nebenraum.

Mein verzweifelter Ruf (Pinguinküken, erste Woche) holt ihn auf die Bühne der Hochkulinarik. Neulich habe ich in einem alten Notizbuch den Eintrag von 1997 gelesen, als die erste Dönerbude in meinem Kiez eröffnet hat. Vom ersten Tag an war ich Stammkunde. 25 Jahre – und natürlich bekomme ich den letzten Döner. Er holt Salat und Fladenbrot, der Grill wird eingeschaltet und wir überbrücken die Zeit mit einem Fachgespräch über Fußball („Hoffentlich steigt die Scheiß-Hertha ab“). Ein weiterer Gast betritt den Laden und wird abgewiesen. Es reicht leider nur noch für diesen einen Glücksdöner.

Morgen früh bringt der Chef den neuen Spieß und alles geht von vorne los, sagt der Dönermann. Dann kommt der nächste Spieß und immer so weiter. Und eines Tages sind wir beide tot, antworte ich, und wir lachen. Bis an unser Ende wird uns die scharfe Soße verbinden.