„Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“ (Thomas Bernhard)
Autofahren ist kein Spaß. Und damit meine ich nicht die Themen Parkplatzsuche oder Stau.
Abschweifung 1: Wir standen am Samstagmorgen mit dem Grünschnitt aus unserem Garten und zwei großen Säcken Altpapier (verworfene Textvarianten meiner Blogtexte und leere Keksschachteln) eine halbe Stunde im Stau – auf den hundert Metern vor dem Wertstoffhof Waldlaubersheim, wo jeden Samstag die ganzen Handwerker der Umgebung den Bauschutt der vergangenen Woche entsorgen. Als sich ein Kleinwagen in eine kurz entstandene Lücke direkt hinter uns zwängte, stiegen etliche andere Fahrer aus, um dem älteren Herren am Steuer klarzumachen, dass er sich hinten anzustellen habe. Er weigerte sich geschlagene zehn Minuten, es wurde herumgebrüllt, mit der Polizei gedroht und ich hatte für einen kurzen Augenblick das Gefühl, jetzt kommt es zu einem der seltenen Fälle von Lynchjustiz in unserem Landkreis. Dann gab der alte Mann schließlich nach. Und ich bin ja nur der Beifahrer. Fahren würde meinem Blutdruck nicht gut tun, obwohl ich seit dreißig Jahren stolzer Besitzer eines Führerscheins bin. Ende der Abschweifung.
Das eigentliche Problem sind die Unfälle. Jedes Jahr sterben etwa eine Million Menschen weltweit im Straßenverkehr. In Deutschland ist die Zahl der Toten seit dem Höhepunkt in den siebziger Jahren stark rückläufig. 1970 gab es noch 19193 Tote, 2014 waren 3368. Das haben die Automobilisten zum einen dem technischen Fortschritt – Sicherheitsgurte, Airbags, verbesserte Bremsen usw. – zu verdanken, zum anderen aber der gesenkten Promillegrenze und den verstärkten Kontrollen durch die Polizei. Aufmerksamen Lesern meiner Beiträge ist es vermutlich nicht entgangen, dass ich gelegentlich zur Kritik am Gesetzgeber und seinen Vollzugsbehörden neige. Hier möchte ich aber einmal ausdrücklich ein Wort des Lobes aussprechen. Anhand konkreter Beispiele aus meiner Heimat werde ich es mit Ihrer freundlichen Erlaubnis kurz erläutern.
Früher war es in Wichtelbach üblich, in jedem Zustand mit dem Auto oder dem Motorrad zu fahren. Und durchaus nicht nur von der Wichtelbacher Dorfkneipe nach Hause oder von Unterdingsheim nach Oberdingsheim – sondern gerne auch mal einfach so die ganze Nacht bei dröhnender Musik durch die Prärie. Es gab Plätze auf irgendwelchen Hügeln oder in den Wäldern, wo sich die trunkenen Jungmannen trafen und riesige Joints rauchten oder fingerdicke Lines von einer CD-Hülle in ihre Rüssel sogen. Ein achtzehnblättriger Riesenjoint für den achtzehnten Geburtstag eines hoffnungsvollen Nachwuchsschriftstellers, um nur ein Beispiel zu nennen. Da wurden mir Dinge berichtet … - ich selbst habe natürlich jeden Samstagabend mit der Jungs und Mädels von der KJG (Katholische junge Gemeinde) für den Weltfrieden und die hungernden Menschen in Afrika getöpfert.
Abschweifung 2: Ich war tatsächlich mal bei so einem KJG-Abend, um (als Protestant) einen Freund zu begleiten, der auf eines der Mädels scharf war, die dort jeden Samstagabend verbrachten und sich standhaft weigerten, in unserer Stammkneipe am Bahnhof vorbeizukommen. Ich kann berichten: Dort wurde weder Alkohol getrunken noch geraucht, und ich habe aus lauter Verzweiflung einen Aschenbecher mit Totenkopfmotiv getöpfert. Was für ein Horror! Du bist mir noch was schuldig, Jens, falls du das hier lesen solltest!!! Ende der Abschweifung.
Natürlich blieb der Alkoholkonsum nebst Drogenmissbrauch des mobilen Nachwuchses nicht ohne Folgen. Mehrere Freunde von mir lagen für mehrere Wochen im Krankenhaus und haben nur mit Glück überlebt. So manches Mal mussten wir Leute mitnehmen, die ihren Wagen in den Straßengraben oder in eine Böschung manövriert hatten. Polizeikontrollen gab es auf dem Land nicht. Wir konnten machen, was wir wollten. Am nächsten Tag wusste man oft noch nicht mal, wo der Wagen stand, wenn er nicht zufällig vor dem Haus geparkt war. Fahren bis zum Filmriss, bis zum Pupillenstillstand.
Vorbei. Heute wird am Kreisel zwischen Autobahnabfahrt und Wichtelbach regelmäßig auf Alkohol und Drogen kontrolliert. Die Polizei stand, als es noch eine Dorfkneipe gab, oft zwanzig Meter vor der Eingangstür, um wie ein Alligator mit abgeschaltetem Licht den arglosen Zechern aufzulauern, die tatsächlich noch in ihren Wagen steigen wollten. Heute sind alle ganz brav geworden. Bei einer Grenze von 0,5 Promille lohnt sich das Herantrinken an diese Grenze gar nicht (die lag, als es noch 0,8 Promille waren, z.B. bei meinem Leibesumfang bei vier großen Bier – damit bin ich zweimal durchgekommen, als ich dem Sheriff einen blasen musste) und die Kontrollen sind inzwischen so häufig, dass die seit meinen Jugendtagen stark gestiegene Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, viele Fahrer vernünftig werden ließ.
Der nicht-anonyme Dorfalkoholiker hat den Führerschein verloren. Er hat im MPU-Verfahren keine Chance mehr, weil er die Finger nicht von der Flasche lassen kann. Der ortsbekannte Junkie, den Frau und Kind verlassen haben, wurde erst durch den Führerscheinverlust (er war auf dem Rückweg von Franky, wie man Frankfurt hier zu nennen pflegt, wo er seinen Stoff kauft, am helllichten Tag in eine Verkehrskontrolle geraten) einsichtig. Er schaffte für den Führerschein, was er für seine Familie nicht geschafft hat: ein Jahr ohne Drogen und Alkohol. Jetzt hat er ihn endlich wieder und fährt nicht mehr betrunken. Andere im Dorf sind gerade in einem MPU-Verfahren. Es hat ihr Verhalten drastisch geändert. Ein weiterer Dorfalkoholiker, der seinen ersten Wagen, den liebevoll gepflegten VW Käfer seines Vaters, im Vollsuff in den Graben gesetzt hatte und vom Lenkrad fast aufgespießt worden wäre, der bei einem zweiten Unfall mit einem Betrunkenen am Steuer vom Rücksitz durch die Windschutzscheibe geschleudert wurde, weil er nicht angeschnallt war (man sieht heute noch die Narben in seinem Gesicht), hat den Wagen abgestellt, weil der TÜV abgelaufen ist, die Mühle nicht mehr fährt und er als spielsüchtiger Trinker vermutlich nie wieder genug Geld für einen neuen Wagen zusammenbekommen wird.
All das hat Menschenleben gerettet. Das Leben der Fahrer und das Leben der Passanten. Ein Freund von mir hat seine Schwester verloren, die als Kind überfahren worden ist. Ein anderer Freund hat eine Schwester, die seit ihrem Unfall im Kindesalter schwerbehindert ist. Beide Mädchen wurden auf ihren Fahrrädern von Autos überrollt. Ich finde, die Promillegrenze sollte weiter gesenkt und die Kontrollen sollten verschärft werden. Just my two cents zum heutigen Vatertag.
Abschweifung 3: Ich habe selbst schon mal 1987 nach der Disco auf allen Vieren vor meinem Alfa Romeo gekniet, um den verdammten Schlüssel ins Türschloss zu bekommen. Aber als ich es dann geschafft hatte, ins Cockpit zu kriechen: Fast like hell – cold as ice. Mein Rekord in meiner Heimatstadt: 140 km/h in einer Tempo-Fünfzig-Zone. Nachts um drei. Es wurde von der Rennleitung keine Promillemessung vorgenommen. In der Jugend hat man Schutzengel. Aber man sollte sich nicht sein ganzes Leben auf sie verlassen. Denken Sie nur mal an James Dean. Ende der Abschweifung.
Komm, einen noch. Abschweifung 4: Es war in der goldenen Zeit des Drink & Drive. Die Jungs kommen mit dem VW-Bus ihrer Handwerkerfirma von einem Richtfest. Besoffen wie die Schweine. Am Steuer der Polier, mit nacktem Oberkörper, selbstverständlich nicht angeschnallt. Sie kommen an eine Straßenkreuzung der Kleinstadt, deren Namen ich nicht nennen möchte, weil er nichts zur Sache tut. Dort treffen sie auf eine Streifenwagenbesatzung, die eine Verkehrskontrolle durchführt. Der Polizist geht zum offenen Fenster an der Fahrertür des Kleinbusses. Wie es der Zufall will, treffen sich die Polizisten der örtlichen Polizeistation und die Handwerker der Firma jeden Montag auf der örtlichen Kegelbahn. Man kennt sich, man trinkt auch zusammen. Was passiert? Der Polizist sagt zu seinem Kegelfreund: „Macht bloß, dass ihr nach Hause kommt“. Ein halbes Dutzend Familienväter behalten den Führerschein. So war das früher. Mein Herz sagt: gute Geschichte. Mein Verstand sagt: böse alte Zeit.
The Who - My Generation. https://www.youtube.com/watch?v=5MnDbWqe_kQ
Ich wäre ein großer Fan der 0-Promille-Grenze. Auch und besonders auf dem Land. Wenn ich hier täglich im Polizeibericht lese, wer da noch alles besoffen auf der Straße unterwegs ist: ohne Worte.
AntwortenLöschenAus meinem Jahrgang und Bekanntenkreis sind auch viele zwischen 17 und 23 gestorben: Selber besoffen gegen den Baum, im Auto mit einem besoffenen Fahrer, von einem Besoffenen in einen Unfall verwickelt. Es ist schon gut, dass es jetzt anders ist....
AntwortenLöschenWas Sie hier schreiben verstehen die Leute ab 18 bis sagen Wir 30 gar nicht.
AntwortenLöschenDas sind wie Storys aus dem Krieg, die Unsere Generation (60er) nicht verstehen kann.
Es war so gnadenlos. Und hatte mit den ganzen Toten, dem Blut und Verletzungen auch irgendwie was mit Krieg zu tun.
Gegen sich selbst. Vollgepumpt mit Hormonen und dann los.