Mittwoch, 31. Dezember 2014

Die letzte Meldung des Jahres

Das BUZZ, das Bundesamt für Zahlenzauber, hat gerade gemeldet, dass im Jahr 2014 in der Bundesrepublik 28,6 Milliarden Arbeitsstunden vollkommen nutzlos verbracht wurden: in sinnlosen Meetings, die nicht enden wollten; bei der Herstellung von Produkten, die nicht gebraucht wurden; als Berufskraftfahrer im Stau; beim Warten auf den Büroschluss; auf dem Firmenklo eingeschlafen; während man deprimiert in den Regen hinausstarrt, der auf den Hinterhof einer Versicherungsagentur fällt, oder einfach so. Das sind bei 43 Millionen Erwerbstätigen genau 666 Stunden pro Person. Kam es Ihnen auch mehr vor?
John Mayall, Eric Clapton - Goodbye December. http://www.youtube.com/watch?v=WMhvjJTZIHI

Richtigstellung

Heute um Mitternacht beginnt nicht das Jahr 2015. Wir sind bereits seit über zwei Monaten im Jahr des Herrn 6019. Für Kreationisten gilt der Ussher-Lightfoot-Kalender. Mögen die ungläubigen Darwinisten zur Hölle fahren!
John Lightfoot, Rektor des St. Catharine’s College der Universität Cambridge, berechnete 1644, dass Gott die Welt an einem Sonntag, genauer gesagt am 23. Oktober 4004 v.Chr., erschaffen hat - und zwar exakt um neun Uhr morgens. James Ussher kam 1650 auf das gleiche Ergebnis. Übrigens haben bis zur Sintflut im Jahre 2501 v.Chr. Menschen und Dinosaurier zusammengelebt. Wer hätte das gewusst?
Isaac Newton hat ebenfalls eine mit naturwissenschaftlicher Präzision berechnete Chronologie aufgestellt („The Chronology of Ancient Kingdoms Amended“, 1728 posthum erschienen). Seiner Meinung nach ist die Welt 3470 v.Chr. erschaffen worden. Für strenggläubige Juden gilt das Jahr 3761 v.Chr. Jedenfalls sind die Erde und das Weltall nicht Milliarden Jahre alt. Der Begriff „Milliarde“ wurde – aber das sei nur nebenbei bemerkt – von einem amerikanischen Unternehmer namens Dagobert Duck erfunden, der sein Vermögen zählen wollte.

Wie alles anfängt

Tief in der Wüste verborgen liegt die Festung. Ich reite schon seit Tagen durch das endlose Grau. Nur noch Staub, der aus der Flasche in meine Kehle rinnt, die Satteltaschen leer. Endlich erblicke ich die Zitadelle in weiter Ferne am Horizont.
Gegen Abend erreiche ich ihre steinernen Mauern. Zwei Soldaten lassen mich ein, stumm nehmen sie mein Pferd und führen es in einen verborgenen Stall. Dem Tor gegenüber liegt das Haupthaus, über dem sich die Zinnen der Festung in die Dämmerung erheben. Auf der Balustrade erkenne ich eine schemenhafte Gestalt, die mich heran winkt.
Als ich unter der Brüstung stehe, beugt sich der Fremde ein wenig vor und sagt: „Sie sind der neue Kommandant.“
„Ja“, rufe ich empor und eile schon die hohe Treppe hinauf.
Major Zong ist ein großer hagerer Mann. Er trägt eine bleifarbene Uniform und schwarze Stiefel. Als er mich in sein Dienstzimmer bittet, sehe ich im Licht der unruhig flackernden Kerzen, dass er blind ist. Seine Augen sind buchstäblich erloschen. Er wirkt sehr alt auf mich, mit zitternder Hand bietet er mir einen Platz an.
„Werter Ars Proctor! Wie Sie sehen, habe ich mein Augenlicht verloren. Ich sage das nicht, um ihr Mitgefühl zu erregen, sondern um Ihnen die ungewöhnlichen Schwierigkeiten dieser Außenstation und der mit ihr verbundenen Aufgaben zu verdeutlichen. Unser alter Kommandant – Gott sei seiner Seele gnädig – pflegte immer zu sagen: ‚Im Leben versucht man, den Gefahren zu entfliehen, in dieser Festung träumt man von ihnen‘. Die langen Jahre der Abgeschiedenheit, ich sage das in aller Offenheit, haben unserer Arbeit nicht gut getan. Die Wüste frisst sich unaufhörlich weiter in die kostbaren Reste der lebenden Natur und wir entfernen uns täglich mehr von dieser Welt. Es ist, als würden wir auf ein Meer hinaus getrieben werden."
Ich verstehe nicht, der lange Ritt hat mich müde gemacht. Ich bitte Major Zong, mir meine Gemächer zu zeigen. Ein kalter Wind weht über die Treppen, als wir zum Kommandoturm hinauf steigen. Umständlich öffnet der Major eine schwere knarrende Holztür und deutet stumm ins Innere. Ich sehe einen riesigen Schreibtisch, unzählige Apparaturen, durch eine uferlose Masse von Kabeln miteinander verbunden, und einige Bücherregale, die sich zur Decke hin in der Dunkelheit verlieren. Die Tür fällt ins Schloss, ich setze mich an den Tisch und beginne nachzudenken.
P.S.: Diese kleine Erzählung entstand am 8.11.1989. Am folgenden Tag fiel die Berliner Mauer und ich befasste mich in den folgenden Tagen mit dem „Superseifenblasenmann“ (siehe Blogeintrag vom 11.11.2009)
Mark Knopfler - Going Home - Theme of the Local Hero. https://www.youtube.com/watch?v=H2vCScBgf6s

Dienstag, 30. Dezember 2014

Witzig – Nicht witzig

Witzig: Eine stark übergewichtige Frau, eingehüllt in eine fliederfarbene Steppjacke, eine geringelte Wollmütze und einen polychromen Schal, steigt auf dem Parkplatz vor REWE in Stromberg aus einem winzigen Auto.
Nicht witzig: Ein Behinderter steigt aus einem winzigen Auto.

Der vernünftige Mensch (1986)

1. Akt
- Vorhang auf. Ein Mann steht auf der Bühne und pinkelt an einen Baum. –
Mann: Ich bin der vernünftige Mensch.
- Ein zweiter Mann tritt auf –
Zweiter Mann: Ich heiße Papa Rabel, ha ha.
- Ein Gespenst tritt auf und heult bedrohlich –
Gespenst: Ihr argen Buben, ich fresse euch mit Haut und Haar!
Zweiter Mann: Da renn ich doch mal lieber weg.
- Zweiter Mann rennt weg –
Mann (zieht einen Versandhauskatalog aus der Tasche und hält ihn dem Gespenst unter die Nase): Es gibt keine Gespenster. Weder in unseren Köpfen, noch in unseren Büchern. Verschwinde!
Gespenst: Du hast Recht. Auf Wiedersehen.
- Gespenst verbeugt sich zum Publikum und tritt ab. Vorhang zu –
2. Akt
- Vorhang auf. Mann lehnt allein am Baum –
Mann: Ich finde das Stück blöd und habe im Übrigen auch gar keine Lust mehr. Herr Regisseur, hören Sie, ich habe keine Lust mehr!
- Der Regisseur klettert vom Zuschauerraum auf die Bühne –
Regisseur: Aber das steht doch gar nicht im Text.
Mann: Doch, sonst würde ich es ja nicht sagen. Oder glauben Sie wirklich, auf offener Straße würde ich mich so umständlich und gewählt ausdrücken? Wir könnten ja mal den Autor fragen.
Regisseur: Ich hole ihn.
- Regisseur geht –
Mann: Dem Regisseur ist nichts zu schwör.
- Regisseur und Autor kommen auf die Bühne –
Mann: Guten Tag, Herr Eberling. Ich finde, es ist eine üble Täuschung, den Leuten hier weißmachen zu wollen, all das wäre Improvisationstheater, obwohl Sie doch vorher alles aufgeschrieben haben.
Autor: Nehmen Sie doch um Himmels Willen Rücksicht aufs Publikum!
Mann: Lassen Sie die Leute ruhig zuhören, sie haben schließlich dafür bezahlt. (Zum Publikum) Ihr Idioten, ihr steindummen Idioten. Ätsch Rabäh (macht Fratzen zum Publikum hin).
Regisseur (zum Autor): Schreiben Sie lieber weiter an dem Stück, bevor es vollends außer Kontrolle gerät und noch Unheil anrichtet.
- Der Autor geht. Der Regisseur zerrt den Mann von der Bühne. Vorhang zu –
3. Akt
- Vorhang auf. Dreißig Minuten leere Bühne. Alle fünf Minuten werden Staumeldungen aus dem Off durchgegeben. Vorhang zu –
4. Akt
- Vorhang auf. Putzfrauen reinigen die Bühne. Die Zuschauer gehen. Vorhang zu –
5. Akt
- Vorhang auf. Der Hausmeister vertreibt die letzten hartnäckigen Theaterkritiker. Der Autor betritt die Bühne und beginnt, an den Baum zu pinkeln -
Autor (ruft): Kunst darf alles!
- Der Baum fällt um. Letzter Vorhang –

 
P.S.: Dies ist das einzige Theaterstück, das ich je geschrieben habe. Es entstand an einem einzigen Tag, am 11.10.1986.

Auf dem Sportplatz (1987)

Neulich komme ich von einem ausgedehnten Mittagsmahl – wieder ein Knoten in dem langen Faden zwischen Mund und Arsch, an dem unsere Tage und Jahre aufgereiht sind – und empfange auf dem interstellaren Kristallsender das folgende Gedicht, welches sicherlich seinen Platz in der halbverfallenen Bretterbude finden wird, die die Künstler „Halle des Ruhms“ zu nennen pflegen. Here we go:

 
Der Leichtathlet, der Leichtathlet
Der war natürlich leicht erregt
Und hat mir bös den Arm verdreht

 
Nachdem sich dann der Schmerz gelegt
Seh ich von fern den Sportprolet
Wie er blasiert von hinnen geht

Montag, 29. Dezember 2014

Maßnahme gegen Wahlmüdigkeit

Die Wahlbeteiligung lässt sich ganz einfach erhöhen: Unter den teilnehmenden Wählern werden Geld- und Sachpreise verlost. Hauptgewinn: zehn Millionen Euro. Dazu Einfamilienhäuser, Autos deutscher Hersteller, Traumreisen, lebenslange Mautfreiheit usw. Ruckzuck sind wir bei einer Wahlbeteiligung auf DDR-Niveau!

Besuche (1987)

Am Anfang ein Anruf. Wechselnde Stimmen, nicht weiter beunruhigend. Ich werde darauf noch zu sprechen kommen müssen. Bernd Bernd ist nie selbst am Telefon. Ominöse Angehörige wissen nicht, ob er sich gerade im Haus befindet. Angestrengt presse ich den Hörer an mein Ohr, um den sich entfernenden Geräuschen der Suche folgen zu können. Dann ist Bernd Bernd persönlich am Apparat. Überflüssigerweise meldet er sich mit vollem Namen.
Einige Zeit darauf stehe ich vor seinem Haus. Zwei Klingelknöpfe, auf beiden steht Bernd. Jedes Mal drücke ich beide. Bald stehe ich im Vorraum, niemand ist zu sehen. Der Mensch, der den Türöffner gedrückt hat, ist nicht zu sehen. Allein stapfe ich die Wendeltreppe zu Bernd Bernds Zimmer hinauf. Wenn ich nach vorsichtigem Klopfen das Zimmer betrete, sehe ich zunächst das Fenster. Es zeigt grau-braune Felder und ein paar Häuser. Das Gefühl, Anlauf nehmen und hindurchspringen zu müssen, wird durch die jäh erblickte Gestalt Bernd Bernds verdrängt, die in Sesseln auf dem Bett am Schrank liegt steht sitzt grinst mit einladenden Gesten Plätze anbietet.
Die Musik ist laut, man redet eigentlich nicht viel. Genau betrachtet könnte ich mich heute an keinen einzigen erwähnenswerten Dialog mehr erinnern. Hinter Bernd Bernd stapeln sich Bierkisten zu angedeuteten Skulpturen wie Lego-Steine für riesige Kinderhände. Nein, nein – nur nicht in diese Richtung schauen. Dieses merkwürdige lauernde Grinsen. Ein Glück, dass man Zigaretten drehen Bier trinken auf den Boden zur Decke blicken kann. Bernd Bernd ist schwer auszurechnen, wenn er getrunken hat. Solange er nur Bier trinkt, ist alles in Ordnung, aber Vorsicht nach den ersten Gläsern Bourbon.
Die Besuche bei Bernd Bernd kennzeichnet ein scheues Abwägen des Möglichen, ein Kalkulieren der Situation. Nach einer Stunde beginnen die Abende, charakteristische Verläufe zu nehmen:
a) Schweigen bis zur Volltrunkenheit. Die sicherste, aber auch langweiligste Lösung.
b) Streit über ein willkürlich von Bernd Bernd gewähltes Thema, das er seit einigen Tagen inhaltlich vorbereitet hat. Die Monologpausen sollte man zur Erleichterung der Blase nutzen – es sind nicht viele.
c) Bernd Bernd liest ausgewählte Abschnitte aus seinen Lieblingsbüchern und selbstverfassten Traktaten vor.
Irgendwann in der Nacht lässt man das Haus hinter sich. Die kühle Dunkelheit der Straße und ein Gefühl der Befreiung. Schnelle Schritte, Bernd Bernd könnte es sich anders überlegen und noch einmal hinauskommen hinterherrufen zurückbitten begleiten wollen.
Einige Tage später ein Anruf. Fremde Stimmen, ineinander übergehende Stimmen. Auch darauf werde ich noch zu sprechen kommen müssen.
The Police – So Lonely. https://www.youtube.com/watch?v=fz0DFefft2E

Brief von Bernd Bernd vom 31. Mai 1987

Hallo Matthias,
(…) Am Abend habe ich meine Mutter dazu eingeladen, mit mir eine Flasche Rotwein zu trinken. Bei mir im Zimmer! War ein netter Abend. Wir haben einander erzählt, was wir im letzten Jahr so tagsüber gemacht haben. Plötzlich war die ganze Familie bei mir versammelt. Mein Tisch, vorher geheimnisvoll matt glänzend, sah aus wie mein Stammtisch im Pony Express. Es wurde noch sehr schön. Mit Vater bin ich, schon gut getankt, in die Küche gegangen. Wir nahmen Mutters Schnellkochtopf, Vater funktionierte ihn mit ein paar schnellen Handgriffen um, und brannten Schnaps. Klar, dass er nicht fertig wurde. Aber allein der Geruch war ätzend. Was Wunder, dass es in der Küche immer noch riecht. Mutter, sonst ernst, lachte herzlich. So gut hat sich die Familie schon lange nicht mehr verstanden.
Ich fühle mich sauwohl!
Führerscheinentzug? Finanzielle Probleme? Krank? Ständig durstig? Keine Freunde mehr (richtige noch nie gehabt)? Anekelnder Zivildienst? Schlechtes Wetter? Urlaub gestrichen? Kadett verschrottet? Einsam????
Ja, stimmt alles. Und weiter? Bin dermaßen gut gelaunt. (…)
Also lass mich weiterhin in Ruhe. Und gib auf diese Zeilen bitte KEINE Antwort.
Stets Dein Freund BB

Sonntag, 28. Dezember 2014

Brief vom 1. Oktober 1987

Lieber …!
Als ich vorhin die Treppe zu meiner Wohnung hinauf gestiegen bin, sah ich vom Fenster des Flurs im ersten Stock einen Vogel auf dem Vordach liegen. Er ist offenbar gegen die Scheibe geflogen und lag, still vor sich hin zitternd, in einer großen Blutlache. Wäre ich konsequent, würde ich dem Leid ein Ende machen, aber ich bringe es nicht übers Herz. Man muss nur das Fenster öffnen und hinaus klettern. Vor meinem geistigen Auge entwickelt sich der Fortgang der Geschichte: Frau Sekulla aus dem ersten Stock, die den ganzen Tag sowieso nichts zu tun hat, und andere Leute durch den Türspion observiert (und hinterher in ihren Tratschgeschichten abserviert), wird, da das Vordach in ihren Hygienebereich fällt, gleich wie eine Spinne aus ihrer Höhle schießen, in der linken Hand ein altes Zeitungsblatt, in der rechten einen feuchten Lappen, und für ihr Alter erstaunlich gewandt durchs Fenster steigen. Mit dem Papier wickelt sie vorsichtig den sterbenden Vogel ein (ohne sich die Finger schmutzig zu machen), mit dem Lappen wischt sie das viele, schwarz werdende Blut auf. Diese Menge hätte man in so einem kleinen Singvogel gar nicht vermutet. Dann geht sie zur Mülltonne, wo das arme Wesen dann ohne Verstoß gegen die Hausordnung verrecken darf. In einer stinkenden Mülltonne!
Aber ich wollte Dir ja von meinen Erlebnissen in der Fabrik erzählen. Ich war heute in der Kantine essen. Die Kantine ist ein Nachkriegsflachbau, er brummt und riecht ein wenig. Jeden Mittag essen dort über zweitausend Menschen. Die älteren Angestellten mit Schlips und grauem Anzug, die jüngeren in C&A-Chic, die Arbeiter im Blaumann und die Leute aus den Laboren im weißen Kittel. Pünktlich um zwölf Uhr öffnet die Kantine. Es wird in vier Schüben gegessen, jedes Mal stehen also gut fünfhundert Leute vor den drei Plexiglastüren. Sie sind bereits offen, aber niemand geht durch sie hindurch, obwohl die wartende Menge auf kleinstem Raum gedrängt ist. Alle stehen sie hungrig da und sehen den Küchenmägden beim Tischdecken zu. Das Essen wird hier in Schüsseln und Platten auf die Tische gestellt. Gegen 11:58 Uhr machen die Leute, die vorne stehen, meistens Arbeiter, die ersten Scherze. Einer schubst den Anderen, der schon unvorsichtigerweise einen Schritt in die Kantine gemacht hat, sie lachen, doch der Blick aus den böse rollenden Augen einer Magd treibt den Mutigen zurück. Verlegen verschwindet er in der Menge.
Um zwölf Uhr dann endlich - nicht um 11:59 Uhr, nicht um 12:01 Uhr – ein kurzes Handzeichen, ein kleiner Wink der Obermagd, den ich nicht einmal bemerkt habe, und nichts kann die Meute mehr halten. Ich werde an irgendeinen Tisch gespült, das Getöse und Geklapper ist so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht. Es gibt keine festen Plätze, jeder kann sich hinsetzen, wohin er will, aber natürlich setzt sich grauer Anzug zu grauem Anzug, C&A zu C&A und Blaumann zu Blaumann. Geredet wird kein Wort, binnen acht Minuten sind sämtliche Schüsseln geleert, einige schaffen es sogar in vier oder fünf Minuten. Als ich nach einer Viertelstunde vom Tisch aufstehe, schweißüberströmt und satt, bin ich einer der letzten im Saal. Wohlwollend blicke ich zu den Türen hinüber, wo sich schon der nächste Schub versammelt hat und sich die Nasen an den Fensterscheiben platt drückt. Noch ein Blick in die Küche: Ein mannshoher Kübel wird von einer Frau mit einem Leiterchen erstiegen, sie beugt sich hinein und schöpft einige Liter Suppe heraus, während eine Andere mit einem baseballschlägerartigen Holzknüppel, er ist über einen Meter lang, darin herumrührt.
Ein Handwerker hat mir einmal das Gästecasino gezeigt, das gerade umgebaut wird. Nur die Zimmereinrichtung hat 125.000 Mark gekostet. Ein anderer Raum, genauso supernobel eingerichtet, dient dem Firmenchef als Speisezimmer. Der Ton meines Reiseführers wandelte sich in ein verschwörerisches Flüstern, als er auf den leeren Platz des Pillen-Imperators zeigte. Auf dieser geheiligten Erde würde also seine Majestät demnächst lustwandeln. Schuldbewusst blickte ich auf meine zerlumpten Turnschuhe hinab. Der Handwerker hat mir auch die neue Chefetage gezeigt, die auf das Dach des Verwaltungsgebäudes gebaut wird. „Hier ist das Büro vom Chef“, „Das da ist seine private Toilette“ – und da deutete er in einen kleinen Seitenraum und lächelte dabei. Ich weiß gar nicht, wie ich es Dir beschreiben soll. So verzückt, als sei ihm ein höheres Glück zuteil geworden ... Einmal hinter die Kulissen der Großen schauen. In diesen Turnschuhen! Die Krone des Hochhauses bildete übrigens nicht, wie Du vielleicht vermuten wirst, ein Firmenzeichen, sondern eine Flasche Bitburger, die ein Bauarbeiter auf dem Dach abgestellt hatte, das wir auch noch besichtigt haben, um einen großartigen Panoramablick über die Stadt zu genießen.
Nachtrag: Als ich vorhin wieder durchs Treppenhaus lief, war der Vogel verschwunden. Nur noch ein verwischter Rest von Blut ließ die vorausgegangenen Ereignisse erahnen. In der Mülltonne habe ich erst gar nicht nachgeschaut. Die alte Sekulla! Wie ich dieses miese Stück Scheiße hasse! Neulich war ein – wie hätte es auch anders sein sollen – Staubsaugervertreter bei mir. Als ich die Wohnungstür öffnete, pries er mir nicht etwa sein Wunderwerk an, sondern fragte mich total entrüstet, ob die Frau im ersten Stock ein bisschen wunderlich wäre. Sie hätte auf sein Klingeln nicht geöffnet, sondern hätte ihn eine volle Minute durch den Türspion angeschaut. Er konnte aber, wie alle Vertreter, erkennen, ob jemand durch den Spion sah oder nicht. Seelenruhig standen sich die beiden eine Minute Auge in Auge gegenüber. Er hat das Duell verloren. Was geht in einem Menschen wie der Sekulla vor? Der arme Staubsaugermensch war ganz durcheinander.
Ach, was soll’s. Ich mache Schluss. Mit allem – und anfangen werde ich mit diesem Brief.
Matthias
Paul Kalkbrenner - Sky and Sand. https://www.youtube.com/watch?v=8ybFb_wKlvQ

Samstag, 27. Dezember 2014

2005

Auszüge aus dem Notizbuch:
16. Februar, Berlin. In einem geordneten, perfekt durchorganisierten Haushalt weiß man: Es gibt keine Zigaretten mehr. Im Chaos hast du aber immer eine Chance. Irgendwo findest du noch was zu rauchen.
17. Februar. Die Medienfritzen haben eine hohe Verantwortung für die Gesundheit ihres Publikums. Grund: Je schlechter die Unterhaltung, desto größer der Missbrauch von Alkohol und Drogen (um das Programm auszuhalten oder um dessen Niveau zu erreichen). Schlechte Unterhaltung tötet Menschen!
18. Februar. Sprichwörter der Moderne, Teil 99: Wo man Unterwäsche kaufen kann, da lass dich ruhig nieder; böse Menschen tragen keine Mieder.
28. Februar. Es ist Mitternacht, ich renne auf die U-Bahn zu. Der Gang, durch den der Lärm meiner aufschlagenden Stiefel hallt, liegt im rechten Winkel zum Bahngleis. Ich laufe direkt auf den vordersten Wagen zu, in dem ein gelangweilter und boshafter BVG-Knecht am Steuerpult sitzt. Er dreht langsam den Kopf und sieht mich heran sprinten. Ich komme näher. Er lächelt nicht einmal, er blickt nur wissend. Und er schafft es tatsächlich wie ein Klaviervirtuose, zum exakt richtigen Zeitpunkt die Türen zu schließen, so dass ich nur noch mit weit aufgerissenen Augen und ausgebreiteten Armen gegen die geschlossene Wagentür klatschen kann. Bravo!
11. März. Der Sauerstoffschock. Trinker reden von ihm wie Küstenbewohner über Haie und andere Meeresungeheuer. Es ist ein Unglück, das jeden treffen kann, eine unheimliche Erfahrung. Ich erinnere mich, wie ich nach einem Abend im angesagten Tanzlokal jener Kleinstadt auf allen Vieren vor meinem Alfa Romeo kniete und versuchte, den Schlüssel ins Türschloss zu bekommen. Der böse, böse Sauerstoffschock!
31. März. Die meisten Menschen bewegen sich wie Gejagte durch die Zeit, nur wenige wie Jäger. Noch geringer ist die Zahl der Mönche, die der Jagd entsagt haben.
2. April. Heute habe ich der kleinen Linda (eineinhalb Jahre alt) das allererste Eis ihres Lebens beim Italiener in der Maaßenstraße spendiert. Das Bällchen Vanilleeis hat sie zunächst mit vorsichtiger Skepsis, dann mit wachsendem Genuss eigenständig gelöffelt (und weil sie das neue Wort „Eis“ mit „heiß“ assoziierte, hat sie am Anfang drauf gepustet). Außerdem ist der Papst heute gestorben.
21. Mai. Der Kulturbegriff ist Bakterien und Menschen vorbehalten.
18. Juni. Mit N. bin ich ein paar Tage im Hotel Rosenlaui im Berner Oberland. Ein schönes altes Haus an einem Bergbach, es gibt weder Fernsehen noch Radio, dafür aber eine große Bibliothek. Zimmer wie aus ferner Vergangenheit mit Waschschüssel und Wasserkrug, schon Goethe und Tolstoi haben hier gewohnt. Die berühmte Eigernordwand. Vom Wetterhorn löst sich donnernd eine Lawine, Minuten später kreisen ein Rettungshubschrauber und ein Adler auf der Suche nach Opfern über dem Gebiet. Anschließend besuchen wir noch das Engadin und Südtirol.
27. Juni, Barcelona. Ich sitze in einem Lokal an der lauten und meeresblicklosen Uferpromenade, um mich herum lauter andere Einzelgänger. Manchen hat das Bier, gemeinsam mit der Mittagssonne, die Zunge gelöst und sie rufen den Passanten unverständliches Zeug zu. Ich merke, dass mich ein Mann beobachtet, also werfe ich einem vorüber fahrenden Bus einen bedeutungsvollen Blick zu. Er folgt meinem Blick, sieht nur den Bus und kratzt sich verlegen am Kopf.
28. Juni. Gaudis Architektur, fließend wie Wasser, wachsend wie Pflanzen. Später Langusten, Weißwein und ein Spaziergang durch die Altstadt, der mich ans Meer und in die Barceloneta führt. Frauen, die im rechten Arm ihr Kind halten und mit der Linken Bier aus Flaschen trinken. Selbstgemachte Knasttätowierungen statt ordinärer Arschgeweihe westfälischer Studentinnen. Schmale Häuser mit Unmengen von bunter Wäsche, die zwischen ihnen aufgespannt ist, aus kleinen Läden plärrt die indische Top Ten. Natürlich bin ich auch hier ein Fremder, aber ich bin es gerne, denn ich brauche den überfüllten Strand und die sinnlosen Boutiquen genauso wenig wie die Einheimischen. Auf diese Weise gehöre ich nirgends hin, so wie ich es immer wollte.
29. Juni. Maschinenlärm der Klimaanlage, leere Schubladen und Schränke, Insekten warten, bis ich wehrlos schlafe. Alle Gebäude, die ich vom Hotelfenster aus sehen kann, sind sandfarben. Warum gibt es keine schwarzen Häuser auf der Welt? Weil niemand sie mag. Die Farben der Häuser spiegeln die Natur wider, den Himmel, den Strand, die Sonne.
14. August, Schweppenhausen. Der Sternenhimmel wölbt sich gewaltig über dem dunklen Dorf. Ich bin nur ein bedeutungsloser Krümel, der die Gasse hinauf geht. Aber ein Krümel, der betrunken ist und ein klein wenig glücklich.
18. August, Berlin. Anfang einer SF-Story: „Wir schreiben das Jahr 3005. Mein Vater ist ein abgeschnittener Fingernagel aus dem 20. Jahrhundert. Unser gesamtes Erbgut stammt von antiken Müllkippen, weil wir so degeneriert sind ...“
1. September. Aus den alten Zeiten, die nie gut waren: Die Google-Suche. „Blöde Frage“ = 462.000 Treffer, „Saublöde Frage“ = 7.500 Treffer und „Selten blöde Frage“ = 123 Treffer. Speichern unter D wie Dreck.
Ich gebe den Ideen ein Dach aus Worten.
4. September. Ein Anti-Midas: Ihm wurde alles zu Scheiße, was er anfasste.
2. Oktober. Im ersten Berliner Adressbuch von 1799, in dem allerdings nur die Haus- und Grundbesitzer eingetragen sind, ist ein Tischler namens Eberling verzeichnet. 1930 gibt es bereits 13 Eberlings, darunter Handwerker, Kaufleute, Witwen, Kellner usw. Aktuell stehen 20 Eberlings im Telefonbuch.
8. Oktober. Man kann sich nur verlaufen, wenn man ein Ziel hat.
Ein Mann, der sturzbesoffen und stinkend einen U-Bahnsteig entlangtorkelt, erlangt eine ebenso hohe Aufmerksamkeit wie ein Filmstar. Ganz oben, ganz unten – und alles starrt dich an.
27. Oktober. Ob so eine Nase im Laufe eines Lebens wohl eine Tonne Rotz produziert?
9. November, Neapel. Alles, was ich als Kind schon immer von Italien erwartet habe, finde ich hier: Lärm, Chaos, Enge, Gestank, Hitze, Elend. Fliegende Händler mit allem Tinnef und Talmi des Planeten, mannshohe Müllberge und ein Straßenverkehr, der Fremde in den Wahnsinn treibt. Noch in der kleinsten Gasse fahren Vespas und winzige Autos durch die Menge der Flaneure. Nur in den Kirchen ist es still und kühl – ich habe dort Menschen lesen und schreiben sehen, offenbar findet man nur hier die Muße dazu. Vor dem Theater Trianon sind ein paar antike Trümmer mit einem Gitterzaun eingefasst, über den gerade ein paar fröhliche Jungs klettern, weil sie ihren Fußball hinein geschossen haben. Zweieinhalb tausend Jahre Geschichte fließen ganz selbstverständlich ineinander.
10. November. Die Flagge Neapels: ein Bettlaken. Alle Häuser haben große Balkone, wo nicht nur die Wäsche hängt, sondern ganze Familien zu besichtigen sind. Es ist wie eine große Theateraufführung und immer wieder geht ein neues Türchen auf, die großen Häuser sind wie Adventskalender. Aus dem zweiten Stock wirft eine korpulente Frau mit elegantem Schwung eine Mülltüte auf die Straße und verschwindet wieder. Selbst Rio oder Nairobi habe ich nicht so schmutzig in Erinnerung.
22. November, Berlin. Nachts wird alles klar: In der Finsternis sehe ich zuletzt nur noch das kristallene Leuchten der Gläser und Flaschen, alles andere ist schwarz. Ein stiller erhabener Augenblick. Tagsüber sieht man nur den Himmel, nachts aber das ganze Universum.
23. November. Denkmäler: die versteinerten Hoffnungen vergangener Zeiten.
24. November. Gibt es eigentlich Intelligenz ohne Aggression? Offenbar nicht, denn die Vernunft ist nur Mittel zum Zweck, sie dient der Durchsetzung von Interessen. Die Frage wäre also: Gibt es Klugheit ohne Machtansprüche?
Heute rief eine Lektorin von Suhrkamp an und fragte mich, ob ich eine Biographie über Gandhi schreiben könne, ein Autor sei ausgefallen. Wird der heimliche Traum vom Schriftstellerberuf tatsächlich wahr?
25. November. Seine Stimme ist nicht verstummt, es hört ihn nur keiner. Ist seine Stimme zu schwach, sind die Zuhörer taub oder ist er einfach zu weit entfernt?
28. November. „Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke, ich denke anders als ich denken soll und so geht es weiter bis ins tiefste Dunkel.“ (Kafka an seine Schwester Ottla 1914)
2. Dezember. Was lehrt uns das Leben der Schnecke? Mit einem Haus auf dem Rücken kommt man nicht weit.
The Offspring – Self Esteem. https://www.youtube.com/watch?v=eeWjzBHUdsI

Freitag, 26. Dezember 2014

Die Strafe, Kapitel 1

Sind nicht alle Brücken letztlich gebaut, um niedergebrannt zu werden? Er stand vor einer alten Holzbrücke, die sich über einen schmalen Fluss wölbte. Sie besaß keinerlei Schmuck oder Anstrich, das graue Holz war zersprungen und löchrig. Niemand war zu sehen, um ihn Wiesen und in der Ferne ein Wäldchen voll struppigem Unterholz. Er ging auf die Brücke, die Bretter knarrten und stöhnten unter ihm. Ein leichter Wind kam auf, er roch den nahen Frühling, Blumenduft mischte sich in den erdigen Geruch der Weiden.
Auf der anderen Seite war der Boden grau, die schwarzen Bäume wirkten, als hätten sie seit langer Zeit keine Knospen mehr getragen. Er blickte zurück, aber Nebel begann, die Brücke und den Fluss einzuhüllen. Auch hier kein Mensch. Also ging er los. Er überquerte Berge und fand den Weg durch dichte Forste. Endlich kam er in einer Stadt an. Es war eine sehr große Stadt und wie alle großen Städte nahm auch sie diesen Fremden großzügig auf. Er fand Unterschlupf in einer Wohngemeinschaft und bewohnte ein kleines Zimmer hinter der Küche, von dem aus man durch ein winziges Fensterchen den Hinterhof voller Fahrräder und Mülltonnen sehen konnte.
Seine Vermieterin, eine umfangreiche Witwe jenseits der Fünfzig mit einer Vorliebe für Faltenröcke und Barry Manilow, hatte drei Zimmer ihrer riesigen Altbauwohnung vermietet und kochte auch des Abends für ihre Zimmerherren. Die beiden anderen Gesellen waren Studenten der Betriebswirtschaft, sie trugen beide die immer gleiche weiß-dunkelblaue Hemd-Pullover-Kombination. Er konnte sie nie richtig auseinander halten, auch weil sie immer über die gleichen Begebenheiten sprachen. Beide trugen Brillen, die den Eindruck vermittelten, die Gestelle seien breiter als das dazugehörige Gesicht. Auch der akkurate Scheitel saß bei den beiden Studiosi auf der gleichen Seite. Dazu ihre ungeteilte Vorliebe für Rinderrouladen. Aber er war fremd und hatte dazu wenig Geld. Also passte er sich an.
Er führte eigentlich ein ruhiges und angenehmes Leben voll verschlafener Vormittage, nutzlos verbrachter Nachmittage und durchsoffener Nächte, als es eines Morgens an die Tür seines Zimmers klopfte. Schon damals bei seinem Aufbruch wusste er, dass es passieren würde. Jemand würde Dennis K. verleumden. Dennoch ist man im eigentlichen Augenblick des Geschehens völlig unvorbereitet und noch im allerhellsten Tageslicht schlaftrunken. Als er - zu unbestimmter Stunde, aber die Sonne stand bereits am Himmel – den Fernseher einschaltete, klopfte es unmittelbar und noch bevor er „Herein!“ rufen konnte, standen zwei Männer in anthrazitfarbenen Anzügen vor ihm. Zunächst glaubte er, die beiden Zimmerherren in ihren Konfirmationsanzügen vor sich zu haben. Sicher ein Scherz, mit dem ihm auf humorvolle Weise die Nutzlosigkeit seines Lebens vorgeführt werden sollte. Er war nicht sicher, ob er diesmal mitlachen würde oder ob er den beiden angehenden Betriebswirten den Sinn des Müßiggangs anhand ausgewählter Zitate nicht endlich einmal deutlich machen müsste.
Aber diese Männer hatte er niemals zuvor gesehen. „Sie sind verhaftet“, sprach ruhig der eine, während der andere gelangweilt in verschiedenen Schriftstücken und Briefen las, die über den gesamten Schreibtisch verstreut lagen. „Wer sind Sie denn überhaupt?“, fragte K., während er sich langsam aus seinem Bett erhob, über dem ein Nachdruck des Gemäldes „Der durstige Mann“ angebracht war. „Er will wissen, wer wir sind“, mit diesen Worten drehte sich der dunkelgraue Sprecher zum dunkelgrauen Leser, der zu lachen begann. Und sich nun selbst an K. wandte, als hätte er nur auf den Abschluss der Vorrede gewartet, um endlich mit der eigentlichen Unterredung beginnen zu können. „Sie werden sich bis auf weiteres in diesem Ort aufhalten und müssen permanent erreichbar sein. Wir geben Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt neue Anweisungen.“ Es klang nicht so, als ob er zur Antwort mehr als verständnisvolles Nicken erwartete. „Was wirft man mir denn vor?“ fragte K. dennoch. „Wir sind nur befugt, Ihnen diese Mitteilung zu machen. Über Ihre Verwendung wird an anderer Stelle entschieden.“
K. trat zum niedrigen Fenster. Er musste den Kopf beugen, um hinaus sehen zu können. Auf der anderen Hofseite sah er eine alte Frau, die es sich mit einem reich bestickten Kissen auf einem Fensterbrett bequem gemacht hatte und nun ungeniert herüber starrte. K. beschloss, die neuen Grenzen, die sein Leben bestimmen sollten, einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Er ging ohne Hast zwischen den beiden Männern hindurch in den langgezogenen und lichtlosen Flur der Wohnung. Dort blieb er stehen und wartete. Dann drehte er sich um, aber niemand folgte ihm. Die Behörde, deren Aufmerksamkeit sich auf ihn gerichtet hatte, verfügte offenbar über keine polizeiliche Gewalt und Handhabe gegen ihn. Er konnte einfach sein Zimmer verlassen, das vor wenigen Augenblicken noch zu seinem Verließ erklärt worden war. Mutig ging er ein paar Schritte zur portalartig in die hohe Wand gesetzten Wohnungstür, als ihm ein großer älterer Mann in den Weg trat. K. wunderte sich, dass er dieses gewaltige Schnaufen, welches die Atmung dieses Mannes bestimmte, nicht bereits viel früher wahrgenommen hatte.
„Wie sehen Sie denn aus?“ fragte ihn der große Mann. K. trug nur Jeans und T-Shirt und als er diese Frage hörte, blickte er fast verwundert an sich herab. Wie wollte er in dieser Bekleidung, dazu barfuß, das Verhör durch jenen Herren überstehen, der einen tadellosen Dreiteiler und eine – eigentlich überflüssige, aber dennoch beeindruckend wirkende – Melone trug? Nun traten, wie auf ein geheimes Zeichen zur gleichen Zeit, die beiden Zimmerherren in den Flur. Stumm betrachteten sie die Szene, die Wangen aneinander geschmiegt. K. zog mit seinem Schweigen die nächste strenge Frage auf sich. „Wie wollen Sie denn in diesem Zustand arbeiten?“ brummte der Mann, der ganz offenbar mit den beiden anderen unbekannten Herren gekommen war und als ihr Vorgesetzter sicher völlig anders zu sprechen gewohnt war. K. fühlte sich eigentlich wohl, unter den Blicken dieses Herrn und dem Gekicher der Studenten wurde er aber unsicher. Gut, er hatte gestern dem bösen Teufel Alkohol zugesprochen und an allerlei Verbotenem genascht. Schon ein Gang zur nahegelegenen Bäckerei wäre nicht unfallfrei zu bewältigen gewesen. Hätte man ihn jedoch im Bett gelassen, anstatt ihn zu dieser Stunde in unsinnige Verhöre zu verwickeln, wäre dieser Zustand allgemein unbekannt geblieben.
In seinem Rücken bauten sich die Wächter auf, die ihm seine Verhaftung mitgeteilt hatten. Die Studenten wichen in einen Türrahmen zurück, bis sie kaum noch zu sehen waren. Nur ihre Augenpaare blitzten neugierig hervor. K. sammelte seine ganze Kraft in einer Geste, die seine Widerrede einleiten sollte. Aber der Oberwächter kam ihm mit einer verächtlichen Senkung der ausgestreckten Hand zuvor: „Sie halten sich ab heute zur Verfügung, verstanden?!“ Angesichts der Lautstärke konnte es bei der Frage nur um ein inhaltliches, nicht aber um ein akustisches Verstehen gehen. K. nickte und zu seiner Überraschung verließ nun der Oberwärter, seine Helfer im Geleit, die gemeinschaftliche Wohnung der Frau Braubach. Glücklicherweise hatte sie von diesem Vorfall keine Kenntnis, da sie sich zur Vorbereitung des Abendessens auf dem Markt befand. Es konnte jedoch nicht lange dauern, bis die schmierigen BWL-Lurche die Hausherrin unterrichten würden. Heute war K.s dreißigster Geburtstag, das letzte wichtige Jubiläum vor dem großen Niemandsland bis zu jenen Geburtstagen, von denen man einst sagen wird, man sei froh noch zu leben. Es sollte am Abend seine Leibspeise, Spaghetti Bolognese, geben. So hatte es ihm Frau Braubach am Vortag versprochen, als er die Mietrückstände in kleinen Scheinen beglichen hatte.
Kurz darauf lag K. wieder in seinem Bett. Er schlief sehr bald ein, vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, er war damit zufrieden, wunderte sich aber, dass er nicht noch zufriedener war.

Die Strafe, Kapitel 2

K. war per Mobilfunk verständigt worden, dass am nächsten Sonntag eine kleine Untersuchung in seiner Sache stattfinden würde. Er wunderte sich, woher die Behörden seine Handy-Nummer wussten. Schließlich benutzte er ein nicht registriertes Gerät mit Prepaid-Karte. Man teilte ihm mit, die Untersuchungen nun in rascher Folge voranzutreiben, um seine tatsächliche Belastbarkeit zu prüfen. Es wurden ihm eine Straße und eine Hausnummer genannt, irgendwo in einem Vorort, den K. nie besucht hatte. Ein genauer Zeitpunkt wurde ihm nicht genannt, sei es zur Prüfung seines Arbeitseifers und der morgendlichen Spannkraft, sei es aus Nachsicht gegenüber seiner offensichtlichen und den Behörden natürlich nun bestens bekannten Langschläferei. Jedenfalls hatte man ihm keinen exakten Termin gegeben. Er konnte früh erscheinen und alle durch die Zeitigkeit seines Eintreffens beschämen oder er konnte spät kommen, um den Behörden seine persönlichen Vorstellungen eines angemessenen Arbeitsbeginns zu demonstrieren. Und um Arbeit musste es wohl gehen. K. konnte sich nicht vorstellen, dass nur gesprochen werden sollte. Immerhin hatte er sich aber auf das Sprechen vorbereitet, falls es dazu kommen sollte. Er hatte einige Begründungen für seine Lebensführung vorbereitet und einstudiert.
K. stand gerade am Tresen seiner Stammkneipe und hörte stumm die telefonischen Anweisungen der Behörde. Grußlos beendete er das Gespräch. „Na, Ärger?“ grinste es aus den Reihen seiner Trinkgenossen. „Nein, nein“, sagte K. und nahm einen tiefen Zug aus seinem Weizenbierglas. In seiner Kneipe sollte niemand von der Verhaftung erfahren. Hier war der Freiraum, den er brauchte, während er inzwischen viele einsame Stunden mit Gedanken über die Forderungen der Behörde verbrachte. Was konnte man von ihm verlangen? Welche Fähigkeiten hatte er denn eigentlich? Waren Berufserfahrungen überhaupt vorhanden? Die Möglichkeiten flimmerten ihm nur so vor den Augen. Was wäre, wenn sie ihn im Service beschäftigen würden, im direkten Kontakt zu Menschen? Der Kontakt mit Menschen gehörte zu seinen Schwachpunkten, wie er leise lächelnd feststellte. Oder auf einer Baustelle, in einem Handwerksbetrieb? Das wäre für K., als ob er in den Krieg zöge. Er würde auf den Schlachtfeldern der Altbausanierung jämmerlich verrecken, soviel war gewiss. Gerüstbau etwa ist für einen motorisch unbegabten Menschen wie Stalingrad: Je länger man dabei ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit draufzugehen. Das ist die Mathematik der Verlierer.
Der Wirt, ein mächtiges Wesen mit blonden Geheimratsecken und einem Handtuch auf der Schulter, taxierte K. mit herab gezogenen Brauen. Hatte er etwas von seinem Gespräch über Arbeit gehört? Witterte er die Möglichkeit, von einem säumigen und doch trinkfreudigen Kunden fällige Gelder einzutreiben? Oder fürchtete er, ihn an die Welt der Arbeit, des Fleißes und der Strebsamkeit zu verlieren? Unentschlossen wienerte er ein Schnapsglas und stellte es ins Regal. K. musste vorsichtig sein, er durfte sich nicht verdächtig machen. Wenn er in seinem Trinken nachlassen würde, war erst recht alles verloren. Wenn er früher ging oder nicht mehr regelmäßig kam, könnten seine Kameraden Anstoß daran nehmen. Es wird immer über die Menschen schlecht gesprochen, die gerade nicht anwesend sind. Daher war es ihm unmöglich, den Stammplatz am Tresen zu gefährden, den er doch gerade erst unter solchen Mühen und unter Opferung seiner Leber nebst seinen letzten Ersparnissen errungen hatte. Nein, seinen Stammplatz in Gefahr zu bringen hieß, alles in Gefahr zu bringen. Eine weitere Veränderung der Verhältnisse konnte K. nicht zulassen. Und so war er in dieser Samstagnacht einer der letzten Gäste und hatte eine niedrige zweistellige Anzahl von Weizenbieren entschlossen, fast grimmig verzehrt.
Am nächsten Morgen war er zunächst verwirrt. Er hatte von rauschenden Wasserfällen geträumt, die sich in unendliche Tiefen verloren. Nachdem er von der Toilette zurück war, wanderte K. ein wenig durch sein Zimmer, um langsam wach zu werden. Als er aus dem Fenster blickte, sah er wieder die alte Frau, die es sich augenscheinlich gerade bequem auf ihrem Kissen machte und nach einem majestätischen Rundblick durch den Hinterhof K.s Fenster zu betrachten begann. ‚Was für einen winzigen Ausschnitt sie sich gewählt hat’, dachte K., als er sich anzog. Es war bereits elf Uhr und er beschloss, ohne Frühstück und weitere Umstände die Wohnung zu verlassen. Er hatte zwar keine genaue Uhrzeit für die angeordnete Untersuchung erhalten, wollte aber auch nicht erst am Nachmittag erscheinen, da in jener Gegend die Sonne früh zu sinken pflegte. Er zog seine besten Hosen, ein sauberes Hemd und ein Jackett an. Wäre K. je zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen worden – so hätte er ausgesehen. Auch wenn ein Außenstehender seine Erscheinung dennoch weiterhin als ärmlich bezeichnet hätte.
Gefasst trat K. aus dem Zimmer. Vor ihm standen, so unmittelbar wie aus dem Boden gewachsen, die beiden Studenten der Betriebswirtschaftslehre. Beide mit Tennisschläger, Handtuch und lachendem Gesicht, eine sonntägliche Selbstzufriedenheit, die K. geradezu körperlich anekelte. Vor dem Haus atmete er tief durch. Erklärungen zu seiner vergleichsweise opulenten Bekleidung hatte er nicht gegeben. Es galt, Eile und Wichtigkeit zu demonstrieren und so war er energisch zur Wohnungstür vorgedrungen, um sie mit einem Ruck zu öffnen und in einer einzigen flüssigen Bewegung wieder zu schließen. Vor dem Haus zeigten sich erste Anzeichen von Wintersonne am staubgrauen Himmel. K. war noch unschlüssig, ob er zu der angegebenen Adresse mit der Straßenbahn fahren oder zu Fuß gehen sollte. Auf der anderen Straßenseite sah er Hauser und Klopstock, zwei Mitinsassen seiner Stammkneipe, die ihm zuwinkten und dabei unausgesetzt lächelten. Oder grinsten sie? Aber K. blieb keine Zeit für Gedanken oder gar für einen kurzen Plausch mit den Herren. Er eilte die Gasse zur Hauptstraße hinunter, auf dem Gehsteig nur einige wenige Männer mit Hunden.
Wenn den Informationen der örtlichen Nahverkehrsbetriebe zu trauen war, musste K. noch zwanzig Minuten auf die nächste Straßenbahn warten. Also beschloss er, den Weg in die Vorstadt zu Fuß auf sich zu nehmen, dabei aber durch zügiges Tempo Zeit gegenüber der Straßenbahnfahrt zu gewinnen, um so die Behörden durch eigenen guten Willen zu Großherzigkeit und Nachsicht in seiner Sache zu bewegen. Es war doch ein ausgezeichneter und zudem sicherer Weg, die Behörde günstig zu stimmen und ihm gewogen zu machen, wenn er nur vor zwölf Uhr, vor dem Mittagsschlag, am geforderten Ort erscheinen würde. Und so flog K. durch die Gassen, ohne die Farben der Stadt oder der Ampeln auch nur im Geringsten wahrzunehmen. Da es Sonntag war, klebten in allen Fenstern lästige Gaffer wie Tauben in einem Verschlag. Ihr unaufhörliches Flüstern schwoll zu einem Summen an, als K. vorbei rannte. Was machte die Menge so sicher? Sah man ihm seine Faulheit wie einen Aussatz an? Konnte man seinem Gang anmerken, dass er nicht dazu gehörte, dass er keinen Beitrag zur allgemeinen wirtschaftlichen Tätigkeit leistete? Immerhin hatte sich K. am vorigen Tag gebadet und rasiert.
Endlich kam er in die Gasse, die ihm genannt worden war. Er war verwundert und fast ein wenig erleichtert, sie so verwahrlost vorzufinden. Auf dem Gehsteig spielten Kinder, aus den Kellern heraus wurden Gemüse, Tabak und Wein verkauft. Es herrschte der fröhliche Lärm von Menschen, die von der Einteilung des Tages und der Woche nichts wissen. Aus offenen Fenstern quoll der Lärm anatolischer Großfamilien. Radios krächzten, Fernseher plärrten, Säuglinge schrien. K. war sicher, hier falsch zu sein. Und dennoch fand er das Haus mit der angegebenen Nummer. Es war ein fünfstöckiger Altbau mit grauer verwitterter Fassade. Im Hausflur stillte eine junge Mutter ihr Kind. K. wagte nicht, sie nach der genauen Adresse der Behörde zu fragen, und ging in den ersten Treppenaufgang. Wenn die Behörde von seiner Schuld angezogen würde, so musste jener Aufgang der richtige sein, den K. zufällig wählte. Und es entsprach seiner Stimmung, sich einfach durch die Stockwerke treiben zu lassen. Irgendwo würde die Behörde schon sein. Schließlich wollte die Behörde an diesem Ort zu ihm sprechen. Er war hier, also würde sich auch die Behörde vor ihm enthüllen, die Anklage sich offenbaren. Möglicherweise konnte man die ganzen seltsamen Umstände seiner Vorladung einem angestrebten Überraschungseffekt zurechnen, den die Behörde gegenüber K. zu erzielen hoffte, indem sie an einem völlig unangemessenen, ja unmöglichen Ort auf ihn zu warten geruhte.
Er war niemals in einen Kampf verwickelt worden. Er hatte noch nie etwas gewonnen. Und jetzt stand er plötzlich im Kampf mit einer übermächtigen Behörde, die mit ihm zu spielen schien. Nirgendwo war ein Hinweis auf die Amtsräume zu finden, trotzig stieg er die Stufen des schmucklosen Treppenhauses empor. Gelegentlich lagen Junkies mit halb geschlossenen Augen auf den Stiegen und K. musste vorsichtig über ihre Leiber klettern. Im letzten, fünften Geschoß sah er eine halb geöffnete Wohnungstür. Als er näher trat, erblickte er eine junge schwarzhaarige Frau in einem Schürzenkleid, die ruhig Unterwäsche bügelte. Ohne nachzudenken, trat er ein. Die Frau schaute von ihrer Arbeit auf und blickte K. ohne Verwunderung in die Augen. Nun nahm K. von der Tür, die vom Vorzimmer wohl in die weitere Wohnung führte, undeutliches Stimmengemurmel wahr. Neugierig trat er einen Schritt vor und im gleichen Augenblick wurde die Tür von innen aufgerissen und ein unerhörter Lärm strömte heraus. Hinter der unscheinbaren Tür verbarg sich ein riesiger Versammlungssaal, der von einer zunächst unübersehbaren Menschenmenge bis auf den letzten Platz gefüllt war.
Alle Gesichter im Saal waren nun auf K. gerichtet. Auch der Türöffner winkte ihn lächelnd herbei. Also trat K. in den Saal. Nachdem er eingetreten war, erkannte er, dass nicht nur der ganze Raum mit Menschen gefüllt war, auch eine Galerie über den Köpfen der Menge war dicht gefüllt. Es bildete sich eine schmale Gasse, durch die K. nach vorne ans Podium lief. Dort saß, an einem einfachen Holztisch, ein dicker alter Mann in einem zementgrauen Anzug, der scheinbar über seinen Schriften eingeschlafen war. K. durchschritt tapfer die beidseitige Menschenwand und gelangte bald ans Podium. Unter dem Gejohle der Menge erklomm er die Bühne und stellte sich vor dem Tisch des Herren auf, der offensichtlich der Untersuchungsbeamte war. K. blickte zugleich den Beamten erwartungsvoll an und in den Saal, aus dem Papierkugeln und selten auch Bierflaschen in seine Richtung flogen. Nach einer Weile beschloss er, den Beamten selbst anzusprechen. „Ich soll mich hier zu einer Untersuchung melden“, rief er ihm durch den allgemeinen Lärm zu. Der alte Mann zeigte keine Reaktion. K. wiederholte seine Frage lauter. Jetzt regte sich der Greis und zeigte stumm auf einen Bediensteten, der am Rande des Podiums stand. Er hatte eine Art schwarzen Turnanzug an, war spindeldürr und hielt einen Besen in seinen Händen.
K. ging zu ihm hinüber und nahm den Besen. Zum ersten Mal brandete Beifall in der Menge auf. Er stieg mit dem Besen vom Podium hinab und begann sogleich, den Boden zwischen den versammelten Menschen zu fegen. Die Menge war weiter in reger Zwiesprache. K. fegte, doch erkannte er die Sinnlosigkeit seines Handelns, denn die wogende Menge produzierte fortwährend neuen Unrat und überdies fehlten ihm jegliche Behältnisse für den zusammengetragenen Abfall. Und so mühte er sich einige Zeit, begleitet vom höhnischen Gejohle der Masse auf der Galerie. Wenn er vom Boden hochblickte, sah er in die sarkastisch grinsenden Bürgergesichter. Es schien die ganze Versammlung noch auf den eigentlichen Höhepunkt zu warten – oder waren sie einzig zur Belustigung über K.s Schicksal hier hergekommen? ‚Ich, der ich nie gearbeitet hatte, muss nun vor tausend Richtern eine vollkommen zwecklose Arbeit verrichten. Ist dies eine neue Form des Theaters? Dann will ich einstweilen ein williger Schauspieler sein‘, dachte K.
Der Ermittlungsbeamte, inzwischen gelöst aus einer heiteren Besprechung mit Untergebenen, in der er pantomimisch K.s Arbeitsstil nachahmte, rief K. zu: „Schneller, schneller!“. „Wenn’s der Arbeitsfindung dient“, rief K. zurück und ein Raunen ging durch den Saal. K. fegte weiter vor sich hin, aber die Füße traten nun widerstandslos zur Seite. K. fegte den nicht endenden wollenden Müll der kauenden, trinkenden und plärrenden Menge in die vier Ecken des Saals. Auf der Galerie herrschte eine widerliche Freude über seine Tätigkeit, wie er da im Jackett und weißem Hemd einen sich ständig neu verschmutzenden Boden reinigte. Die Menge erfand erniedrigende Sprechchöre, um seine Arbeit zu vernichten. Schließlich warf K. den Besen in die Menge. Augenblicklich herrschte Stille. „Ihr seid ja alle offenbar Beamte dieser ehrenwerten Behörde. Und ihr schaut alle gerne anderen bei der Arbeit zu. Ich danke für die Untersuchung“, rief er gegen das Podium. Ohne eine Antwort abzuwarten, schritt er durch die Versammlung zur Tür. Niemand hielt ihn auf.
Hinter ihm erhob sich der Lärm der wieder lebendig gewordenen Versammlung, welche die Vorfälle wahrscheinlich nach Art von Studierenden zu besprechen begann.

Die Strafe, Kapitel 3

Eines Nachmittags – K. war gerade vor dem Ende der Happy-Hour sehr beschäftigt – drängte sich zwischen zwei Kellnern, die riesige Mengen von Weizenbiergläsern in den Schankraum hinein trugen, K.s väterlicher Freund, von allen nur liebevoll Grappa-Günter genannt. Er war auf seinen Anblick vorbereitet, so dass der alte Zechkumpane sein Erschrecken nicht bemerkte. Günter konnte, wenn es um Probleme anderer Leute ging, eine erstaunliche Energie entwickeln. „Ich muss mit dir reden“. K. hatte diese Eröffnung erwartet. Günter sagte nichts und so sagte er auch nichts. „Ich habe einen Arbeitsvermittler für dich“, fuhr Günter fort. K. erschrak – hatte er denn schon solchen Beistand nötig? Er schaute auf das Fenster, eigentlich eine blinde schmierige Scheibe, die ihm nichts über die Welt jenseits dieses undurchdringlichen Schmutzes verraten würde. „Du schaust aus dem Fenster!“, rief Grappa-Günter mit erhobenen Armen, „Das kann doch nicht wahr sein!“. K. fühlte unangenehm die Blicke in seinem Rücken und wünschte diesen Wichtigtuer zur Hölle.
In der Ferne saßen die Zocker vor den Geldspielautomaten an der Rückwand des Schankraums. Sie warfen mechanisch Münzen nach. An den Tischen die Kartenspieler, mit ihren abgegriffenen speckigen Pappstücken beschäftigt und dabei aufgeregte Rufe ausstoßend. Am Stammtisch war das synchrone Leeren der Humpen zu beobachten. „Also gut“, begann K., „ich werde den Arbeitsvermittler deiner Wahl hinzuziehen.“ Günter schien mit dieser Antwort zufrieden und bestellte eine Runde Schnaps. K. hielt die Angelegenheit zu unbedeutend für eine Schnapsrunde, trank aber dankbar und schweigend. „Und jetzt sag mir, warum die Behörde dich vorgeladen hat. Worin besteht dein wirkliches Vergehen?“ K. war wie vor den Kopf geschlagen, der Grappa verfehlte seine Wirkung völlig. Und das vor allen Trinkgenossen. Er, der jeglicher Arbeit immer nur ironisch gegenüberstand, sah sich jetzt einem allgemeinen Gespräch über die Forderungen der Behörde ausgesetzt. Also schnappte er Grappa-Günter und trotz der späten Stunde suchten sie die Agentur des Arbeitsvermittlers auf.
Als sie endlich angelangt waren und an die Tür klopften, öffnete sich zunächst nur das Guckfenster. Zwei dunkle Augen blickten kurz hinaus und das Fenster schloss sich wieder. Günter klopfte erneut: „Öffnen Sie, es sind Freunde des Arbeitsvermittlers“. K. hätten schon allein die sanitären Anlagen des Arbeitsvermittlers interessiert, da er nach dem langen Marsch ein heftiges Bedürfnis nach Erleichterung verspürte. „Dem Arbeitsvermittler geht es nicht gut“, flüsterte es kaum hörbar hinter der Tür. Günter blickte aber weiter tapfer in die Luke und wiederholte seinen Satz, als ob es eine geheime Losung wäre. Die Tür öffnete sich und ein schüchternes winziges Wesen im Schlafrock führte die späten Gäste hinein. Die dunkle Vorhalle wurde nur durch den Kandelaber der jungen Frau erhellt, sie schritten die breite Wendeltreppe empor. Oben angelangt boten sich viele Wege mit endlosen Zimmerschluchten an, die Bedienstete führte sie zu einem Zimmer, das der Straße abgewandt war. „Der Arbeitsvermittler ist krank“, wiederholte in abgewandelter Form das Mädchen seine alte Klage.
Sie betraten das Zimmer des Arbeitsvermittlers, welches – nur schwach ausgeleuchtet infolge der gesundheitlichen Beeinträchtigungen seines Bewohners – nicht in seiner vollen Größe zu übersehen war. In der Mitte stand in riesiges Bett, aus der Mitte der Kissenburg lugte ein graubärtiges, volles Gesicht. „Zeig den Gästen ihren Platz, Lilly“, sagte schwach und hustend der Arbeitsvermittler. Lilly wies stumm auf einen kleinen Teppich vor dem Bett, auf den sich Günter sogleich niederkniete. K. tat es ihm mit leichtem Zögern nach. Im ganzen Zimmer war nichts zu erkennen, die schwache Nachttischleuchte erhellte nur die winzige Szene am Bett. Er hörte, wie Lilly die Tür sanft hinter ihnen schloss. Der Arbeitsvermittler fragte träge: „Warum seid ihr gekommen?“ Günter blickte zunächst zu K. hinüber und begann dann, dessen Fall zu erläutern. K. fühlte sich in seiner Lage unwohl, da er seine volle Blase zu spüren begann. Plötzlich – K. wusste nicht, an welcher Stelle des Gesprächs sie angelangt waren, da sich seine Gedanken längst auf Möglichkeiten einer Erleichterung konzentriert hatten – ergriff ein Mann das Wort, der offenbar seit langem im Dunkeln gesessen und zugehört hatte. Er begann seine Rede mit einigen grundlegenden Bemerkungen zum Wert und zur Würde der Arbeit. In der Folge streifte er ein wenig die besonderen Umstände von K.s Fall und besprach den allgemeinen Niedergang der Arbeitskultur im Grundsätzlichen.
K. hielt es nicht mehr aus und ging zur Tür. Zu seiner Überraschung fand er sie unverschlossen. Auf dem Flur traf er Lilly, sie rührte mit einem Pürierstab in einer Schüssel und lächelte ihn an. Er fragte sie nach dem Weg zur Toilette. Sie zeigte ihm die Richtung mit einem tropfenden Pürierstab und lächelte erneut. Gequält und mit verkrampften Unterleibsmuskeln lächelte er zurück und humpelte in Richtung Klo. Was für eine Erleichterung, gerade wenn sie dich an fremden Orten erreicht! Erst beim Händewaschen bemerke er einen älteren Herrn, der unter dem Waschbecken kauerte. K. holte zum Schlag aus, aber es wimmerte ihm sogleich - als ob diese Erklärung zur Verteidigung ausreichen würde – von unten ein „Aber ich bin doch der Kaufmann Blöd“ entgegen. Er sah hinab und sah eine zerlumpte hohläugige Gestalt, die ihn mit zittrigen Händen bat, ihn heraufzuziehen. Der Kaufmann reichte ihm kaum bis an die Hüften und zitterte wie ein gefangener Wilder. K. hatte Mitleid und zog den Kaufmann empor.
„Wer bist du denn, du armer Tropf?“ Blöd antwortete nicht wirklich, als er sagte: „Ich zeige dir den Weg zur Küche“. Wenig später standen sie bei Lilly, die eine Suppe für den Arbeitsvermittler kochte. Sie fasste K. an der Hand und ließ ihn neben sich stehen, während sie mit der anderen Hand die Suppe rührte. „Das ist Blöd“, erzählte sie ruhig, während sie Gewürze in die Suppe rieseln ließ. „Er ist auch ein Klient von Hump. Sein Fall währt nun schon fünf Jahre, viel länger als deiner“. K. blickte auf den Kaufmann herab, als hätte dieser durch die längere Dauer seines Prozesses eine größere Würde gewonnen. Er glaubte, seinen eigenen Prozess im Griff zu haben. Aber was bedeutete Glaube? Der Glaube lag schon rein sprachlich hinter dem Wissen. Etwas zu glauben ist nicht so überzeugend, als etwas zu wissen. Dem Glauben liegt die Hoffnung zu Grunde und häufig ist diese Hoffnung durch nichts begründet.
Über dem Küchentisch hing ein Gemälde in einem altmodisch verschnörkelten Rahmen, von dem bereits die Goldfarbe abblätterte. Es zeigte einen weißbärtigen Mann in einer schwarzen Robe, der auf einem Thronsessel saß. Seine linke Hand ruhte auf der Lehne, während die rechte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Betrachter wies. K. setzte sich an den Tisch und betrachtete das Bild lange. „Das muss wohl mein Richter sein.“ Lilly lachte. „Kannst du denn nur an deinen Prozess denken? Das ist der unterste Sachbearbeiter.“ „Aber er sitzt doch auf einem Thronsessel und trägt prächtige Gewänder“, erwiderte K. „Alles nur Täuschung“, erklärte ihm Lilly mit sanfter Stimme, während sie mit seinen langen dunklen Haaren spielte, „in Wirklichkeit sitzt er auf einem Campingstuhl und hat sich eine alte Pferdedecke umgehängt.“ Um ihn von dem Bild abzulenken, setzte sie sich rittlings auf seinen Schoß und küsste ihn auf den Mund. Aus dem Zimmer des Arbeitsvermittlers drang nun ungeduldiger Lärm, doch K. drückte mit gedankenloser Leichtigkeit sein Gesicht an Lillys weiche Brüste und lächelte mit geschlossenen Augen wie ein Kind.
Als K. schließlich die Agentur und Lilly verließ, wartete Grappa-Günter schon vor dem Haustor auf ihn. Es regnete und er war ganz durchnässt. Er packte K. bei den Schultern und schüttelte ihn. „Bist du denn völlig wahnsinnig geworden, deiner Sache solchen Schaden zuzufügen! Verkriechst dich bei dieser kleinen Hure, die überdies ja offenbar auch die Geliebte des Arbeitsvermittlers ist, in der Küche und lässt mich mit Hump und dem Abteilungsleiter allein. Vor allem der Abteilungsleiter, dieser große Herr, dem alle Fälle dieses Stadtbezirks von A bis K vorgelegt werden und der deine Sache im jetzigen Stadium geradezu beherrscht, hätte für dich gewonnen werden sollen. Aber du verschwindest einfach, bleibst unentschuldigt Stunden fort und lässt mich hier im Regen stehen. Hump konnte bei meinem Abschied vor Zorn kaum sprechen, wahrscheinlich hat sich sein Gesundheitszustand durch deine Leichtfertigkeiten erheblich verschlechtert.“

Die Strafe, Kapitel 4

In der Nacht hatte K. einen Traum: Er war Schlangenbeschwörer in einem Zirkus und wartete jeden Abend ängstlich auf die Vorstellung. Als er schließlich in die Manege trat, nach mehreren – erst freundlichen, dann mahnenden – Ankündigungen des Zirkusdirektors, die jedes Mal von Orchestermusik begleitet waren, hielt er einen Schlangenkorb und eine Flöte in seinen zitternden Händen. Im Korb war aber nur eine winzige, kaum fingerlange Schlange, die zudem – unter dem anschwellenden Gelächter des Publikums – keinerlei Anzeichen machte, sich zu regen oder gar aufzurichten.
Er ging früh in seine Stammkneipe und ließ sich den ganzen Nachmittag nichts anmerken. Ruhig trank er die Biere, die von den Kellnern herbei getragen wurden. Ging ein Bier zur Neige, stand bald ein neues Glas vor ihm, ohne dass es eines Blickes oder gar eines Wortes zwischen ihm und den Gehilfen des Wirts bedurfte. Oft hatte er solche Nachmittage genutzt, um ein wenig Gitarre zu spielen und kleine Lieder zu erfinden. Doch von der Musik musste er nun Abstand wahren, um vor den Behörden nicht auch noch in Kunstverdacht zu geraten.
K. dachte über seinen Prozess nach. Ein solcher Prozess konnte seiner Natur nach eigentlich niemals enden. Nur der Tod des Angeklagten konnte den Prozess abschließen. So lange K. noch lebte, dauerte der Prozess zweifellos fort. Es konnte also eigentlich nicht um das Gewinnen dieses Prozesses gehen, sondern nur um ein Verzögern, ein Verschleppen des Vorgangs. K. musste Zeit gewinnen, auch um sich in die Abläufe der geheimnisvollen Behörde hineinzufinden, die ja offenbar mit der gewöhnlichen Gerichtsbarkeit und den polizeilichen Ermittlungsbehörden in keinerlei Verbindung stand. Und was warf man ihm eigentlich genau vor? Gut, er ging keiner Erwerbstätigkeit nach. Aber er verlangte auch nicht viel. In seiner Faulheit war er unauffällig, fast unsichtbar. Ein Chamäleon der Untätigkeit, ein liebenswertes moosbewachsenes Faultier. Aber offenbar hatte er damit die Behörden herausgefordert, deren Geduld in seinem Falle an ein Ende gekommen war. Ihm blieb die Schuld dennoch unbegreiflich.
Wie er so vor sich hin überlegte und gedankenverloren an seinem Weizenbierglas sog, setzten sich drei Zechkumpanen an seinen Tisch: der steife, die Hände schwingende Warsteiner, der blonde Bullrich mit den tiefliegenden Augen und Traminer mit dem unausstehlichen, durch eine chronische Muskelzerrung bewirkten Lächeln. Ein Kellner flog mit ausdruckslosem Gesicht vorbei und platzierte drei Biere vor den Herren. Ahnungslos lächelnd prostete K. seinen Wirtshauskameraden zu. Im Hintergrund flimmerte ein Champions League-Spiel über den Bildschirm, immer wieder heulte die Meute an der Theke auf, wenn sich vermeintlich Entscheidendes tat. „Du hast Ärger mit dem Arbeitsamt“, begann der blonde Bullrich, der keine Frage, sondern eine Feststellung formulierte. Traminers ewiges Lächeln begann an den Rändern zu zittern, zu flattern. „Und ich habe gehört, du hättest gearbeitet“, rief Warsteiner vorwurfsvoll und warf die geöffneten Hände auf den Tisch, als wolle er K. anflehen, diesen ungeheuerlichen Vorwurf umgehend zu widerlegen.
K. nahm mit geschlossenen Augen einen langen Zug aus seinem Glas. Dann blickte er konzentriert in die Gesichter der anwesenden Herren, alle drei blickten ihn erwartungsvoll an. „Ja, ich habe gearbeitet“. Die Köpfe seiner Zuhörer zuckten unwillkürlich zurück, Traminer griff nervös zu seinem Glas und trank mit aufgerissenen Augen. Und ohne die näheren Umstände seiner Vorladung zur sonntäglichen Besenmesse zu erläutern, fuhr er fort: „Jemand muss mich verraten haben.“ An den Nachbartischen wurde es still, einige neue Zuhörer standen von ihren Barhockern am Tresen auf und kamen näher. „Und nun hat sich das unbestechliche Auge der Behörde auf mich gerichtet“. Das waren große Worte und die Zuhörer benötigten einen großen Schluck Bier, um alles Neue verarbeiten zu können. „Und du hast jetzt einen Arbeitsvermittler engagiert, der dir Arbeit verschaffen soll“, schaltete Warsteiner sich wieder in die Erörterung ein. K. nickte wortlos und trank wieder. Jetzt, wo alle Blicke auf ihn gerichtet waren, glaubte er, noch viel mehr als an anderen Tagen trinken zu müssen, um sich der Kameradschaft und Loyalität seiner Trinkgenossen versichern zu können.
Vorwurfsvoll hob er sein leeres Glas einem vorübereilenden Schankgehilfen entgegen, der – durch den unerkannt gebliebenen Durst dieses Gastes verärgert, denn es war doch Teil seiner Kunst, immer rechtzeitig ein neues Glas zu bringen, noch bevor im Gast auch nur die ersten zarten Andeutungen eines Wunsches nach neuer Nahrung sich zeigten – nun ein neues Glas sogleich vor K. so auf den Tisch knallte, dass der Aschenbecher in eine eigentümliche kreisende Bewegung geriet, um alsbald scheppernd stehen zu bleiben. „Ja, ich habe einen Vermittler. Aber ich werde ihm kündigen“, sagte K. und wie zur Bestätigung fügte er hinzu: „Es hat doch alles keinen Sinn. Ich weiß ja gar nicht, für was ich überhaupt taugen soll.“ Er hob das Glas, um anzustoßen. Die drei Herren begannen zu lachen. „Also arbeiten willst du“, wagte sich jetzt selbst der zuckend lächelnde Traminer hervor. „Hast du es dir denn gut überlegt“, fragte er ruhig. K. lachte: „Ja glaubt ihr denn, ich wollte irgendetwas machen“, fragte er zurück. „Ihr kennt mich doch als ruhigen und fleißigen Trinker. Nichts anderes möchte ich sein. Mag der Prozess auch meine Kräfte in Anspruch nehmen. Ich werde hier in unserer Kneipe dennoch nicht nachlassen. Ob Karneval oder Geburtstag – ihr werdet mich immer hier sehen. Den Prozess wehre ich mit einer Hand ab, während ich mit der anderen Hand trinke. Glaubt mir!“
Die drei Herren schauten ihn an und auch alle Umstehenden blickten ihn abwartend an. In der normalen Welt beobachtest du die Schauspieler auf der Theaterbühne, dachte K. Hier beobachten die Schauspieler dich. Es konnte hier in seiner Stammkneipe nur schwieriger werden. Er war unter Verdacht. Und der Verdacht einer Schuld – freilich war hier die Schuld eine andere als vor der Behörde – würde ihm Kamerad um Kamerad entziehen, die sich von ihm entfernen mussten, um nicht auch hineingezogen zu werden in die Ermittlungen der Behörde. Er würde bald einsam am Ende des Tresens sitzen müssen, neben den Salzstreuern und leeren Brotkörbchen. In einer Ecke, von der aus der Fernseher nicht zu sehen sein würde. K. trank nun wieder, wie zum Trotz, sein Glas aus und winkte mit schiefem Kopf den Kellner heran. Nur half das Trinken in dieser Lage freilich gar nichts. Und während K. sich trinkend den Kopf über seine Lage zerbrach, konnten die anderen mit einer geradezu unschuldigen Freude seinen Fall erörtern. Sie scherzten und klopften sich auf die Schultern, als säße der Gegenstand ihrer kindischen Aufgeregtheiten nicht mitten unter ihnen.

Die Strafe, Kapitel 5

An einem Freitag, bei fürchterlichem Wetter, war K. in der Kirche seiner Stadt verabredet. Er sollte einem englischen Kollegen aus der großen Blutsbruderschaft der Guinness-Freunde, einem stets aufgeschlossenen Freund der jeweiligen lokalen Kultur, das hiesige Gotteshaus und die in ihm enthaltenen Kulturgüter fachkundig vorführen. Auch wegen seiner Englisch-Kenntnisse, die freilich im allgemeinen Hörensagen wesentlich größer als in Wirklichkeit waren, war er von seinen Trinkgenossen für diese Aufgabe ausgewählt worden. Trotz der nicht weichen wollenden Dunkelheit war K. pünktlich an der Kirche, die Turmuhr schlug gerade zehn Uhr, als er das hohe Portal öffnete.
Im Inneren war es tatsächlich noch dunkler als im Freien. Eisige Kälte strömte K. entgegen, als er eintrat. Das Kirchenschiff selbst, das er nach der Öffnung einer weiteren Tür erreichte, war kaum beleuchtet und auch die bunten Fenster vermochten es an diesem Tag nicht, Licht in diesen Raum zu locken, in den K. nun trat. Vorne am Altar brannten einige Kerzen, in den vorderen Reihen kauerten zwei alte Frauen und beteten stumm. Vom Engländer war nichts zu sehen, unentschlossen schlenderte K. durch den Mittelgang langsam nach vorne. Zu seiner Linken und Rechten waren in die Wand Statuen von Märtyrern eingelassen, die für ihre Sache gestorben waren. K. kannte sie bereits, auch wenn sie bei diesen Lichtverhältnissen nur zu erahnen waren.
Als er fast am Ende des Kirchenschiffs, bei den Kerzen, den Alten und dem Altar, angelangt war, sah er rechts einen Mann in einem leuchtenden weißen Anzug stehen. Ganz am Rand der Kirche wirkte er verloren, dennoch blickte er starr zu K. hinüber. K. blickte zum Altar, hinter dem sich eine mächtige Orgel aufbaute, die er in dieser kleinen Kirche gar nicht in dieser Größe in Erinnerung hatte. Sie war gewaltig und nahm den hinteren Altarraum vollständig ein. Während das Metall des Instruments an einigen Stellen das wenige Licht reflektierte, war die Jesusdarstellung am Kreuz völlig im Dunkeln. Es waren nur Umrisse zu erkennen. K. fragte sich, zu was die beiden alten Frauen wohl beten mochten. Unvermittelt blickte er zu dem Mann zurück. Er starrte K. immer noch an, seine Backenmuskeln spielten nervös.
K. hielt dem Blick nicht stand und begann, zurück zum Ausgang zu schlendern. Sicher war es besser, den Engländer vor dem Kirchenportal zu erwarten, auch wenn er für dieses Vorhaben bei diesem Wetter seine Lungen opfern musste. Draußen war niemand zu sehen, dichter Regen ergoss sich aus dem finsteren Himmel. Also ging er wieder in die Kirche zurück, ärgerlich über den ganzen Tag und ohne eigentlichen Grund. Eine alte Frau kam ihm entgegen. Ihr schlohweißes Haar wehte in einem Luftzug, den K. nicht wahrnehmen konnte. Sie deutete stumm nach der Ecke, in der K. immer noch den Herrn im weißen Anzug vermutete. Sollte er zurückgehen? Der Engländer war es nicht, soviel war gewiss, ihn kannte K. Er ging wieder durch den Mittelgang nach vorne, die Kerzen am Altar begannen zu flackern, Schatten tanzten an den Wänden und zeigten die Märtyrer in wechselnden, grausam verzerrten Bildern an den Kirchenwänden.
Als K. vor dem Altar angekommen war, fuhr ein gewaltiger Klang durch die Orgel. K. erschrak – und nun stand auch schon der Mann im weißen Anzug nahe bei ihm. Es war ganz eindeutig, und es gab keine Ausflüchte, er rief „Dennis K.!“ K. dachte daran, ob er sich jetzt nicht eiligst entfernen sollte, wenn er es jetzt nicht tat, war keine Aussicht, dass er es während der zu befürchtenden Gardinenpredigt tun konnte. K. stockte jedoch und sah vor sich auf den Boden. Er hätte natürlich noch weglaufen können, aber das erschien ihm mit seinen dreißig Jahren inzwischen albern. Also blieb er stehen und blickte dem Fremden direkt in die Augen: „Sie wollen mir also predigen?“ „Dennis K.!“, wiederholte der Mann K.s Namen nun umso lauter. K. dachte daran, wie sehr ihm sein Name zur Last fiel. Wie schön war es doch, selbst seinen Namen zu nennen und dann erst gekannt zu werden. „Du bist angeklagt“, sagte der Mann im weißen Anzug nun besonders leise. „Ja“, antwortete K., „man hat mich darüber verständigt“.
„Ich bin Unternehmer“, begann der Fremde die Eröffnung über seine eigene Person. „Weißt du eigentlich, dass dein Prozess schlecht steht?“ K. blickte zur Seite: „Diese Einschätzung teile ich bisweilen. Aber ich gebe mir alle Mühe, der Behörde gegenüber meine Lebensführung zu verteidigen.“ „Ich befürchte dennoch, dass es schlecht enden wird. Vielleicht wird dein Prozess gar nicht über das Stadium der untersten Sachbearbeitung hinaus kommen. Zumindest vorläufig hält man deine Schuld für erwiesen.“ K. schüttelte heftig den Kopf: „Wie kann denn ein Mensch überhaupt schuldig sein? Wir sind doch alle Menschen, wer soll Richter, wer soll Angeklagter sein?“ Der Mann lachte leise und antwortete: „Das ist richtig. Aber so pflegen die Schuldigen zu reden.“ Und nach einer kurzen Pause: „Ich könnte dir sicher helfen. Was willst du als nächstes in deiner Sache tun?“
„Ich habe einige Hilfe von Freunden und einer Frau, die mir geneigt ist und der Behörde nahe steht. Ich habe in dieser Hinsicht noch nicht alle Möglichkeiten der Einflussnahme ausgenutzt. Frauen haben eine große Macht, auf allen Ebenen der Behörde. Ein helles Lachen, das Zurückstreifen einer Strähne hinter das perlenbesetzte Ohr, eine wie zufällig hingeworfene Bemerkung, ein zartes Flüstern – und das Urteil ändert sich schnell.“ K. war durch die eigene Rede fast wieder zuversichtlich geworden. Er blickte den Unternehmer erwartungsvoll an. „Siehst du denn nicht zwei Schritte weit!“ brüllte dieser wie entfesselt. Er war bei diesem Schrei leicht in die Hocke gegangen und hielt die geballten Fäuste vor der Brust, als bereite er eine umfangreiche Ausscheidung vor. K. zuckte wie unter einem Stromschlag. Nun wurde der Mann wieder ruhig und trat ganz nahe an K. heran. „Lass mich dir eine Geschichte erzählen, die deine Täuschungen bezüglich der Behörde auflösen wird. Im Arbeitsgesetz heißt es:
Vor der Arbeit steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in die Arbeitswelt. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt diesen Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er denn später werde eintreten dürfen. ‚Es ist möglich‘, sagt der Türhüter, ‚jetzt aber nicht‘. Also zieht der Mann eine Nummer, setzt sich auf eine Wartebank und beginnt alsbald, mit seinen Mantelknöpfen zu spielen und zu pfeifen. Er beobachtet den Türhüter Tag für Tag, Woche für Woche, wie dieser, gutmütig schnaufend mit seinem mächtigen Bauch an den ehernen Speer – den er aber immer fest umklammert hielt - gelehnt, auch die schönsten Stunden des Tages verschläft. Nachdem ihm die Zeit lang geworden ist, beginnt der Mann, den Türhüter um die Erlaubnis zum Eintritt zu bitten. Über Jahre ermüdet er den Türhüter mit seinen Einlassungen. An guten Tagen stellt der Türhüter – nicht um tatsächlich etwas in der Sache des Fremden zu unternehmen, sondern zur eigenen Kurzweil im Rahmen eines ansonsten recht eintönigen Dienstes – dem Mann Fragen und führt kleinere Verhöre bezüglich dessen Arbeitserfahrungen und Belegen irgendwelcher Bildungsinstitutionen durch. Er nimmt auch winzige, freilich wertlose Bestechungsgeschenke an, nur um dem Mann nicht den Eindruck vermitteln zu müssen, er hätte etwas in seiner Sache unterlassen. Als der Mann nach vielen Jahren des Wartens alt und kindisch wird, bettelt er selbst den Hirsch auf der Kräuterschnapsflasche des Türhüters um Hilfe an. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, sein Leben geht dem Ende zu. Alle seine Gedanken sammeln sich in einer letzten Frage und er winkt dem Türhüter zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. ‚Was willst du denn jetzt noch wissen‘, fragt der Türhüter, ‚du bist unersättlich‘. ‚Alle wollen doch Arbeit‘, sagt der Mann mit ersterbender Stimme, ‚warum ist denn in all diesen Jahren niemand hier vorbeigekommen‘. Der Türhüter lacht, dann klingelt sein Handy und er wendet sich von dem Mann ab, der sein Leben endgültig aushaucht.“
„Der Türhüter hat also den Mann getäuscht“, sagte K. sofort, von der Geschichte sehr stark angezogen. „Lass dich nicht vom ersten Eindruck überwältigen. Der Türhüter hat nur seine Pflicht getan. Pflicht des Bittstellers wäre es gewesen, nachdrücklicher Einlass in die Arbeitswelt zu fordern. Stattdessen hat er sich gleich am Eingang niedergelassen und es sich bequem gemacht.“ „Warum glaubst du, dass der Mann vor der Tür zur Arbeit eine Pflicht zu erfüllen hat? Immerhin hat er sich offenbar auf den Weg zu diesem Tor gemacht und ist auch in all seiner Zeit, die noch kommen sollte, nicht von diesem Tor gewichen.“ Der Mann im weißen Anzug schüttelte das gesenkte Haupt: „Aber der Bittsteller ist nicht bis zur Arbeit vorgedrungen und hat sein Leben sinnlos vergeudet.“ K. antwortete fest: „Aber woher soll der arme Mann denn wissen, dass er unbedingt durch diese Tür muss. Auch außerhalb der Tür gab es ja offenbar ein Leben, denn in all den Jahren des Wartens ist er nicht verhungert.“ „Du denkst zu viel über diesen Mann nach und zu wenig über die Arbeit“, schloss der Unternehmer. K. war zu müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehen zu können. Es waren auch ungewohnte Gedankengänge, eher geeignet zur Besprechung zwischen Arbeitnehmern, nicht für ihn. „Manche sind eben nicht zur Arbeit geschaffen. Sie lassen einfach das Leben durch sich hindurch fließen und veredeln es dadurch. Durch ihre Freude und ihre Anteilnahme, durch ihren Geist und ihre Ideen.“ Der Unternehmer lachte und winkte dabei mit der Hand, als ob er weitere Eingaben dieser Art verhindern wolle.
„Ich muss jetzt gehen. Man wartet auf mich.“ K. versuchte, das Gespräch zu beenden. „Ich weiß auch gar nicht, was ihr alle von mir wollt.“ „Die Arbeitswelt will nichts Besonderes von dir. Sie nimmt dich auf, wenn du kommst. Und sie entlässt dich, wenn du gehst“. K., beim Herauslaufen schon mutig geworden, warf zurück: „Und wenn ich gar nicht kommen will?“ Dann begann er zu rennen, durch das Kirchenportal, über den verregneten Vorplatz, durch Gassen, über große Verkehrsadern. Er lief, bis er seine Wohnung endlich erreicht hatte. Frau Braubach wartete auf ihn mit einem Handtuch und ließ es sich nicht nehmen, ihm persönlich die nassen Haare und das Gesicht zu trocknen. Ihr mütterliches Schluchzen beruhigte K., gab ihm aber zugleich eine dunkle Vorahnung kommender Gefahren durch die behördlichen Ermittlungen.

Die Strafe, Kapitel 6

K. begann nun, an einer Rechtfertigung für die Behörde zu arbeiten. Immer, wenn er abends oder nachts aus seiner Stammkneipe nach Hause fand, setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb an einem längeren Text, in dem er alle Phasen seines bisherigen Lebens beschreiben und alle Entscheidungen für sein vergangenes Handeln begründen wollte. Je länger er darüber nachdachte und je größer der Stapel vollgeschriebener Blätter wurde, desto klarer wurde K., dass er keines Arbeitsvermittlers bedurfte und vielmehr selbst die Dinge in die Hand nehmen musste. Nur eine eigenständige Idee, welche die Behörde überraschen musste, konnte K. wirklich helfen. Vielleicht sollte er dem zuständigen Amt vorschlagen, ihn als Stadtschreiber einzustellen und ihm das einjährige, knapp bemessene Stipendium zu gewähren, welches neben der Wohnung in einem alten Turm der früheren Stadtbefestigung die einzige Vergünstigung für diese Anstellung war. Freilich hatte K. noch nie eine Erzählung oder ein Gedicht geschrieben, hoffte aber, durch aufrichtigen Eifer wenigstens den Anschein zu erwecken, dieser Stellung gerecht zu werden.
Als er sich endlich entschlossen hatte, dem Arbeitsvermittler Hump wirklich zu kündigen, war er erleichtert. Die Entscheidung hatte ihm viel Kraft entzogen, er war kaum zum Trinken gekommen. In manchen Nächten - die freilich für die Ausarbeitung seiner Schrift an die Behörde sehr wichtig gewesen wären – musste er daher diverse Pflichtpartien am Skattisch und an der Dartscheibe nachholen. Manche behandelten K. auch einfach wie einen Durchreisenden, Bekanntschaften lösten sich. Der Prozess forderte seinen Tribut. Dennoch gab sich K. freundlich wie immer. In Gedanken bereitete er seinen Besuch beim Arbeitsvermittler vor. Er würde Lilly ein letztes Mal sehen. Das war zu berücksichtigen. K. hatte sich vorgenommen, klar und bestimmt ins Zimmer von Hump vorzudringen, um ihm – ohne freundschaftliche Ausschweifung oder gar Abschwächung, ohne jegliche Rücksichtnahme auf dessen Gesundheitszustand  in einer flüssig und bestimmt vorgetragenen Rede den Vermittlungsauftrag zu entziehen.
Es war ein trüber, zeitlos und wie erfroren wirkender Nachmittag, als K. zur Agentur aufbrach. Er hatte zur Stärkung einige Biere in seiner Stammkneipe zu sich genommen, ein Schmalzbrot diente als Unterlage, so dass noch der eine oder andere Schnaps ohne weiteres seinen Weg zu K. fand. In den Straßen und auf den Plätzen meist alte Frauen und übergewichtige Männer mit Hunden. K. ging ohne Hast und betrachtete mit eher ironischer Anteilnahme das Leben dieser Stadt. Wie konnte sich dieses Leben überhaupt erhalten? Nirgendwo sah er Menschen, die Arm in Arm gingen oder sich küssten. Dennoch hatte dies alles offenbar Bestand und war mächtig genug, Behörden zu bilden, die einen Spaziergänger wie K. unbarmherzig verfolgen konnten. Diese Behörden verfügten immer über die ausreichende Anzahl an Mitarbeitern, so dass alle Schuld immer vollständig abgedeckt werden konnte. Hier auf einen Fehler zu hoffen, war durch nichts zu rechtfertigen.
Das erste Läuten am Haus des Arbeitsvermittlers war, wie gewöhnlich, zwecklos. Erst als K. zum zweiten Mal den Knopf drückte, zeigte sich nach einer Weile ein Augenpaar. Es war jedoch nicht Lilly, sondern der Kaufmann Blöd. Er öffnete die Tür und lief dann mit einem triumphierenden „Er ist es!“ durch die Vorhalle davon. K. trat ein und sah, wie Lilly in Unterwäsche durch eine Seitentür verschwand. K. folgte dem Kaufmann in die Küche, weil er zuerst einen Überblick der vorliegenden Verhältnisse erhalten wollte, noch bevor er seinen eigentlichen Gesprächswunsch zu äußern gedachte. „Sind Sie Lillys Liebhaber?“ fragte K. ohne Umschweife. Blöd sog lautstark die Luft ein und schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin Klient wie sie. Aber ich wohne hier, um möglichst rasch auf alle Arbeitsangebote reagieren zu können, von denen der Arbeitsvermittler Hump erfährt.“ Blöd deutete K.s offenen Mund derart, dass er in seinen Erklärungen fortfuhr: „Ich war bis vor einigen Jahren Kaufmann, im Einzelhandel. Aber meine Firma machte pleite. Seitdem bin ich hier bei Hump und bemühe mich um neue Arbeit.“ „Aber das ist ja schrecklich“, entfuhr es K. „Ja, meine ganzen Ersparnisse habe ich Hump gegeben. Schließlich hatte ich nichts mehr. Also lebe ich hier in diesem Schrank“. Und Blöd öffnete wirklich einen kleinen Küchenschrank und zeigte K. das darin befindliche karge Bettzeug. In den oberen Schubladen bewahrte er den Schriftverkehr in seiner Angelegenheit auf.
K. musste über die kleine Ordnung des Kaufmanns in diesem Schrank lächeln. Blöd schämte sich ein wenig und wechselte das Thema: „Lilly mag Sie. Lilly wird förmlich von der Faulheit angezogen. Und sie sind genau ihr Typ“. Jetzt lächelte er. K. begriff, dass er gerade mit der unwichtigsten Person in diesem Haushalt sprach. Wo blieb Lilly? Warum war sie denn nicht längst an seinen Hals geflogen, wenn selbst ein tumber Geselle wie der Kaufmann Blöd ihre Zuneigung zu K. richtig erkannt hatte? War der Arbeitsvermittler Hump zu sprechen? K. hatte keinen Termin vereinbart, er war einfach gekommen. Ohne Lilly war er hier hilflos den weinerlichen Selbstbespiegelungen des Kaufmanns ausgesetzt. Zornig riss K., während Blöd sich mit beiden Händen an den Kopf griff und warnend mit den Augen rollte, den Kühlschrank auf, um nach alkoholischen Getränken Ausschau zu halten. In den einzelnen Kühlfächern fanden sich jedoch nur Akten, die den Vermerk „Eilt!“ trugen.
Endlich betrat Lilly die Küche. Sie trug einen schwarzen Lederminirock, dunkle Strümpfe und eine helle Bluse. Als sie sich an K. drängte, wehrte er sie zunächst ab. „Du versteckst einen Geliebten in deiner Küche“. Lilly hielt sich beim Lachen die Hand vor den Mund. „Ach, das ist doch nur Blöd. Er haust in einem Schränkchen und verrichtet allerlei nützliche Tätigkeiten für die Agentur. Er darf die Kohlen holen, das ist eine seiner vielen schönen Pflichten“. Blöd strahlte unter diesen Worten, seine Hände gruben sich verlegen in die Mütze, die er zwar in der Wohnung nie aufsetzte, aber dennoch ständig bei sich trug. K. war vorläufig beruhigt und küsste Lilly auf den Mund. Diese Frau verstand es offensichtlich, ihre Arbeit so zu organisieren, dass viel Zeit für ihre eigenen Vorhaben abfiel. K. genoss den Augenblick und schloss die Augen. Als er die Augen öffnete, sagte er zu Lilly: „Melde mich bei Hump an! Am besten sofort.“ Lilly sah ihm eine Weile tief in die Augen. „Ich werde ihm gleich eine Suppe bringen. Dann melde ich dich an.“ Dann senkte sie den Blick und ging zum Herd hinüber.
Endlich fand K. bei Hump Einlass. „Ich warte schon sehr lange auf Sie“, sagte der Arbeitsvermittler vom Bett aus und legte ein Schriftstück, das er beim Licht einer Kerze gelesen hatte, auf das Nachttischchen und setzte sich eine Brille auf, mit der er K. scharf ansah. „Diese Mühe werde ich Ihnen nächstens ersparen“, antwortete K. und zog sich einen Sessel ans Bett des Arbeitsvermittlers. Hump lachte, verfiel in ein hässliches lang anhaltendes Husten und lachte dann wieder. „Haben Sie denn nicht wenigstens böse Träume wegen ihrer Arbeitslosigkeit?“ K. schüttelte den Kopf und erwiderte Humps Blick: „Glauben Sie, ich träume, ich würde mich in ein ungeheures Ungeziefer verwandeln?“ Der Arbeitsvermittler vermischte erneut Husten und Gelächter. Er rückte sich umständlich im Bett zurück und erwartete K.s nächsten Satz.
„Ich werde Ihnen leider, auch wenn Sie in diesen Angelegenheiten der unendlich erfahrenere Mann sind und ich Ihnen bereits in der ersten Begründung meiner Entscheidung rettungslos unterlegen bin, die Vertretung meines Falles entziehen müssen.“ Der Arbeitsvermittler blieb ruhig und betrachtete eine Weile das Schälchen mit Pralinen, das auf seinem Nachttisch stand. „Sie sind sehr ungeduldig“, sagte er leise. „Ich bin nicht ungeduldig“, antwortete K. schon ein wenig gereizt, „ich habe nur kein sonderliches Interesse an diesem Prozess. Ich weiß ja gar nicht, was man überhaupt von mir will. Ich habe nichts getan.“ Der Arbeitsvermittler lächelte wieder, aber diesmal schmaler, melancholischer: „Das ist es doch aber gerade.“ K. verstand nicht und war jetzt auch durch einige Geräusche abgelenkt, die Lilly offenbar außerhalb des Zimmers verursachte, um ihn zu sich heraus zu locken.
Hump rückte seinen Leib umständlich im Bett neu zurecht und begann mit weicher Stimme: „Ich führe hier eine kleine Agentur, die sich auf Fälle wie den Ihren spezialisiert hat. Sicher werden Sie sich wundern, warum ich eine so winzige Agentur führe, wenn mich doch so viele Menschen wie beispielsweise Ihr Freund Günter kennen. Aber ich habe mich aus dem allgemeinen Betrieb zurückgezogen und wende mich den Fällen zu, die ich für wesentlich halte. Es lockt mich die große Arbeit, nicht die vielen kleinen Angelegenheiten der Behörde. Auch wenn es meine Kraft fast vollständig aufsaugt.“ K. glaubte schon zu wissen, was ihn weiter erwarten würde, das seidenartige Geflüster der Berater, das schulterklopfende Treiben in die falsche Richtung des Lebens, schließlich die lebenslange Gehirnwäsche einer Berufstätigkeit. Er hörte Hump nur noch aus Höflichkeit zu. Es würden doch nur unbestimmte Hoffnungen und unbestimmte Drohungen in Humps Reden abwechseln, ohne dass sich für K.s Leben selbst irgendwelche Schlüsse ziehen ließen.
K. erhob sich. „Noch lebst du! Noch stehst du unter meinem Schutz!“ rief der Arbeitsvermittler und hob den rechten Arm gegen K. Doch es war zu spät. K. öffnete die Zimmertür und Blöd huschte zwischen seinen Beinen ins Zimmer und stürzte sich auf den kleinen Teppich vor Humps Bett. Nach einem kurzen glücklichen Liebkosen des Stofffetzens richtete er sich auf und küsste die ausgestreckte Hand des Arbeitsvermittlers. Blöd jammerte wie ein kleines Hündchen vor Zufriedenheit, aber der Arbeitsvermittler brummte nur unwillig und drehte sich dann mit einer gewaltigen Bewegung auf die andere Seite. K. sah die Szene bloß aus den Augenwinkeln und rannte wie befreit zum Haustor. Niemand sah ihn, als er hinaus schlüpfte und dem nächsten Gasthaus zustrebte.
(hier endet das Manuskript des 6. Kapitels)

Die Strafe, Kapitel 7

Am letzten Wintertag – es war gegen sechs Uhr morgens, die Zeit der Stille auf den Straßen – kamen zwei Herren in K.s Zimmer. In ihren bunten Uniformen sahen sie aus wie exotische Singvögel. Auf der Brust trug ihr latexartiges Trikot die Aufschrift „Bundesamt für Aufschwung“. Die Farben kamen ihm aus seiner südlichen Heimat bekannt vor. Bisher hatte er in dieser Stadt nur wenige Farben wahrgenommen. Jetzt war K. verwirrt von dieser regenbogenartigen Vielfalt. Er hatte an seinem Schreibtisch auf den Besuch gewartet und war völlig in Schwarz gekleidet. Beim Eintreten der beiden Herren hatte er ruhig begonnen, seine feinen Lederhandschuhe sorgfältig über die einzelnen Finger zu streifen.
„Sie sind also für mich bestimmt“, sagte K. und blickte dem vorderen Herren in die Augen. Er nickte und wies stumm auf seinen Hintermann, der daraufhin die Andeutung einer Verbeugung machte. K. blickte ein letztes Mal aus seinem kleinen Fenster. Auf der anderen Straßenseite war alles ruhig, die Fenster waren geschlossen. Offenbar schlief dort noch alles, K. lächelte. Dann verließ er sein Zimmer, die beiden Herren folgten dicht hinter ihm. Das Treppenhaus lag ruhig vor K., er spürte jede einzelne Stiege unter seinen Füßen. Auf der Straße war es noch recht dunkel, die Laternen glommen schwach im frühen Nebel. K. hatte bisher seine Begleiter kaum wahrgenommen, sei es aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse allenthalben, sei es aufgrund der Farbenpracht ihrer Kostüme. Nun versuchte er, ihre Gesichter zu erkennen. Es waren glatte Gesichter mit geraden schmalen Nasen, Gesichter, an denen der Blick abglitt und die im Gedächtnis keine Erinnerung hinterließen.
Sie liefen weiter durch die Gassen, die oberen Geschosse der Häuser wurden bereits vom ersten Morgendämmern in helles Grau getaucht. Aus einer Seitengasse kamen ihnen plötzlich Warsteiner, Bullrich und Traminer entgegen. Offenbar kehrten sie gerade von einem Wirtshausbesuch zurück. Sie senkten das Haupt und schlichen an der Häuserwand an ihnen vorbei. Bald erreichten K. und seine Begleiter den Stadtpark, die beiden Herren liefen nun neben K., so dass ihre Schultern sich gelegentlich berührten. Hier in diesem Park hatte sich K. oft und gerne gestreckt, hier hatte er den jungen Damen nachgesehen, die ihre neuesten Modeerwerbungen zur Schau stellten. Hier hätte er gerne im Sommer ein Eis gegessen.
Dann liefen sie eine steil aufsteigende Straße empor, die aus der Stadt hinaus führte. Sie begegneten einem Polizisten, der nur kurz herüber nickte, um auf diese Weise schon von Ferne die Richtigkeit der Verurteilung zu bestätigen. Kurz vor Sonnenaufgang erreichten sie die letzten Wohnhäuser der Stadt, an die sich, fast ohne Übergang, weitläufige Felder anschlossen. Im Hintergrund war ein kleines Wäldchen zu erkennen. Sie gingen nun querfeldein und die beiden Herren beschleunigten ihre Schritte. K. hatte Mühe mitzuhalten. Einige Male stolperte er, aber die Herren fassten ihn jedes Mal sogleich fest an den Oberarmen, so dass er nicht stürzen konnte. Kurz vor dem Wäldchen, an dass K. sich noch voller Wärme erinnern konnte, da er hier einige Spaziergänge unternommen hatte, und in dem eine winzige Quelle entsprang, war ein Steinbruch, in den K. nun hinab geführt wurde.
Im Steinbruch waren die beiden Herren zunächst unsicher. Sie hießen K., stehen zu bleiben, um ihn sogleich an eine andere Stelle des Steinbruchs zu zerren. Dann besprachen sie sich, K. fröstelte es währenddessen. Einer zog ein Spritzbesteck aus dem Innenfutter seines engen Anzugs. Ruhig bereitete er eine Injektion vor. Der andere führte K. zu einem großen flachen Felsblock und bedeutete ihm, sich dort hinauf zu legen. Er streckte sich der Länge nach auf dem Stein aus. Weit entfernt war das letzte Haus der Stadt zu sehen, aus dem jetzt eine Frau, nur schwach und dünn zu erkennen, zu K. hinüber winkte. Vielleicht winkte sie auch einem sehr nahen Menschen. Das war nicht genau zu erkennen. Jedenfalls ragte der geschwenkte Arm weit aus dem Fenster heraus in seine Richtung. War hier Hilfe zu erwarten? Konnte diese Frau ihn noch retten? Gab es Einwände, die man vergessen hatte?
Nach einigem leisen Fluchen hatte einer der Herren die Spritze gebrauchsfertig gemacht und reichte sie nun dem anderen – über K.s ausgestreckten Leib – herüber. Dieser betrachtete die Spritze angewidert und gab sie zurück. K. bestaunte die aufgehende Sonne, deren Strahlen nun die Szene zu betasten begannen. Er lächelte leicht und hob die schmalen Hände. Da spürte er plötzlich den scharfen Stich der Spritze in seiner Schulter. Mit brechenden Augen sah K. noch, wie ihn die beiden Henker ohne sichtbare Erregung beobachteten, die Köpfe eng beisammen. „Wie ein Junkie!“ sagte K., während er bewegungslos in die vergehende und dennoch ewige Nacht empor starrte. Es war, als sollte die Faulheit ihn überleben.

Die Strafe - Fragmente

(die folgenden Passagen wurden vom Autor gestrichen. Der Herausgeber hat sich dennoch entschlossen, diese Textfragmente im Anhang zu veröffentlichen)
Am Tresen fragte ihn ein anderer Trinker: „Was ist los mit dir? Es ist Samstagabend, aber du bist nur besoffen und nicht sturzbesoffen?!“ K. verscheuchte den Geier von seiner Schulter und nahm einen tiefen Zug aus seinem Bierglas. Der Wirt sah wie immer nichts und spielte gedankenverloren an seiner Zapfanlage. Sie schauten einander lange nicht an.
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K. war aufgewacht aus einem unruhigen Traum. In dieser Nacht war er ein ungeheures Ungeziefer, dessen gepanzerter Rücken unter der Bettdecke verborgen war. Wenn in diesem Augenblick jemand in K.s Zimmer getreten wäre – alles wäre verloren gewesen. K. versuchte, die vielen flimmernden Beinchen an seinem Körper zu ignorieren. Sollte er versuchen, den Kleiderschrank zu verrücken, um sich hinter ihm verstecken zu können? Fieberhafte Angst vor dem gewohnheitsmäßigen Klopfen der Frau Braubach überfiel ihn, welches am frühen Morgen den Tag der Wohngemeinschaft einzuleiten pflegte. Wenn die morgendliche Zeremonie des Erwachens einmal begonnen hatte und das gemeinschaftliche Frühstück in der, freilich saalgroßen, Küche der Wohnung zum Verzehr bereit stand, wäre K.s Fehlen sicher aufgefallen und hätte zu allerlei besorgten Gesprächen Anlass gegeben. Gerade weil Frau Braubach beim Frühappell keine Ausnahmen duldete, hätte seine Abwesenheit ganz sicher zu einem vernichtenden Urteil der anderen Bewohner, also der geradezu auf K.s Niederlagen versessenen Studenten der Betriebswirtschaftslehre, geführt. K. träumte nur von dieser Situation, aber seine Angst war größer, als stünde er in Wirklichkeit vor der Frage, wie er der Frau Braubach seinen Insektenkörper erklären könne. Nervös fuhr er mit seinen Fühlern über die Augen und versuchte, noch einmal Schlaf zu finden und womöglich in einem günstigeren Zustand wieder auf zu wachen.
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In der Kirche: K. suchte einen Zigarettenautomat. Er war nervös und wollte rauchen. Der Himmel verfinsterte sich, auch in der Kirche war fast nichts zu sehen. K. ging die äußere Galerie der Kirche ab; Heilige, deren steinerne Augen voller Leid waren. Schließlich kam er zu einem Kaugummiautomat und fluchte leise. Ein Hinkender schlurfte vorbei und grüßte matt mit leicht erhobener Hand. Und in dieser Geste glaubte K. schon die Verneinung der Frage nach einer Zigarette erkennen zu können. Nervös kratzte er sich die unrasierte Wange und drehte sich um. Aber da war niemand sonst. Auch der Engländer fehlte völlig.
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Lilly küsste seine Augen und seine Stirn. Nachdenklich lächelnd blickte sie in K.s Augen und ließ dann ihren Blick über dessen Gesicht wandern. „Dein Gesicht ist so glatt und schön. Du arbeitest nicht. Das sehe ich dir gleich an. Deine Augenbrauen wirken nicht so düster und zusammengepresst. Sie sind offenbar nie in Sorge zusammen gezogen worden. Deine Mundwinkel sind nicht nach unten gebogen wie bei so vielen. Du lachst viel, deine Augen leuchten. Schau dir die Menschen an, die den ganzen Tag hart arbeiten müssen. Ihre Augen sind erloschen. Es sind lebende Tote, die durch die Warenhäuser und Geschäfte wandern. Aber du bist anders. In dir ist noch das alte Leben“. K. fühlte sich zugleich unendlich geborgen und unendlich allein. Wie sollte er Lillys Vorstellungen gerecht werden? Nahm er Arbeit auf, erlosch in ihren Augen der Glanz seiner Persönlichkeit. Verweigerte er die Arbeit, würde ihn die Behörde so erbarmungslos verfolgen, dass für Gedanken an Lilly keine Zeit mehr bleiben konnte. Am Ende drohte sogar - ihm schauderte bei der Vorstellung - nicht nur Arbeit, sondern womöglich auch noch eine Heirat? Sollte er wirklich in die Armee der Toten eintreten?
P.S.: „Die Strafe“ habe ich 2004 in einer einzigen Nacht geschrieben. Um Mitternacht habe ich mich an den Computer gesetzt und bis um neun Uhr morgens geschrieben, weil ich einmal erleben wollte, wie sich der Arbeitsrhythmus des parodierten Franz Kafka anfühlt. Wie Philip K. Dick, der Dutzende Seiten am Stück schreiben konnte, habe ich Amphetamine und Alkohol als Hilfsmittel benutzt. In der Kunst ist Doping bekanntlich nicht verboten. Wie viele Bilder, Bücher oder Lieder gäbe es nicht, wenn staatliche Kommissionen regelmäßige Doping-Kontrollen im Kunstbetrieb durchführen würden?
Interpol – Leif Erikson. http://www.youtube.com/watch?v=k7g5gOg3kZs

Donnerstag, 25. Dezember 2014

Sprüche der Väter

Drei Zitate aus „Sprüche der Väter“, einem Traktat der Mischna:
„Wer ist weise? Der von allen Menschen lernt (…). Wer ist ein Held? Der seine Leidenschaften überwindet (…). Wer ist reich? Der sich bescheidet (…).“
„Womit ist der zu vergleichen, dessen Weisheit größer ist als seine Taten? Mit einem Baum, der viele Zweige aber wenig Wurzeln hat. Der Wind bläst und entwurzelt ihn und wirft ihn um.“
„Viererlei Gesinnungen gibt es unter den Menschen: Das Meine ist mein, und das Deine ist dein: die gewöhnliche Gesinnung, manche sagen auch, die von Sodom. - Das Meine ist dein, und das Deine ist mein: die eines Menschen aus dem einfachen Volk. - Das Meine ist dein, und das Deine ist dein: die eines Gerechten. - Das Meine ist mein, und das Deine ist mein: die eines Gottlosen.“
P.S.: Einer alten Legende nach soll es sechsunddreißig Gerechte geben, deren Existenz der Grund ist, warum Gott diese fürchterliche Welt noch nicht vernichtet hat. Niemand weiß, wer diese Gerechten sind, nicht einmal sie selbst. Es kann ein dummer oder ein kluger Mensch sein, reich oder arm, jung oder alt, Mann oder Frau. Aber diese Menschen hüten das Licht des Lebens mit ihren Taten.
Lee Marvin - Wandering Star. https://www.youtube.com/watch?v=xnbiRDNaDeo