Donnerstag, 30. April 2015

Süßer Durst

„Schicke das Kind, das Du liebst, auf Reisen.“ (japanisches Sprichwort)
Die Dinge werden schlechter. Bier zum Beispiel. Das Industriebier, das uns die Konzerne (Motto: „Das Universum expandiert, wir auch“) in die Supermärkte stellen, ist von erbärmlicher Qualität und alle bekannten Marken schmecken inzwischen gleich. Nur die Etiketten sind verschieden. Sozialistischer Realismus, der uns als Markwirtschaft verkauft wird.
Darum fahre ich aus meinem Weinanbaugebiet, wo ich meine Grundnahrungsmittel direkt vom Erzeuger beziehen kann (Motto: „Hier bedient Sie der CEO persönlich“), auch jedes Jahr mehrere Male nach Franken, um Bier zu trinken, das noch nach echtem Bier schmeckt. Kleine Brauereien, bedroht wie Naturvölker am Amazonas, die ihr flüssiges Glück im Familienbetrieb nach Rezepturen herstellen, die seit Generationen vererbt werden. Wer in Deutschland noch ein gutes Glas Bier trinken möchte, das von ehrlichen Handwerkern hergestellt wird, die nicht zum Nachteil ihrer Kunden und Gäste an der Qualität der Grundstoffe und beim Produktionsprozess sparen, sollte nach Franken kommen.
Vom 1. bis 3. Mai bin ich daher nicht im Netz anwesend. Wer den Mut hat, den direkten Kontakt zur deutschen Gegenwartsliteratur zu suchen, findet mich im Gasthaus „Schwarzer Adler“ in End. Für ein Glas Bier erkläre ich Ihnen gerne, wie man einen Essay aufbaut. Für einen Schweinebraten mit Knödeln zeige ich Ihnen den Weg ins Himmelreich der Weltliteratur.
Daily Terror - Sind so kleine Biere. https://www.youtube.com/watch?v=FBWhcAE0v_A

Mittwoch, 29. April 2015

Biedermanns Abendgemütlichkeit

“If You Have Nothing to Hide, You Have Nothing to Fear” (NSA)
https://nsa.gov1.info/data/index.html

 
„Vor meiner Haustür steht 'ne Linde,
In ihrem Schatten sitz' ich gern,
Ich dampf' mein Pfeiflein in die Winde
Und lob' durch Nichtstun Gott, den Herrn.
Die Bienen summen froh und friedlich
Und saugen Blütenhonig ein,
Und alles ist so urgemütlich,
Daß ich vor innrer Rührung wein'.
Und hätt in Deutschland jeder Hitzkopf
Wie ich 'ne Linde vor der Tür
Und rauchte seinen Portoriko
Mit so beschaulichem Pläsier:
So gäb' es nicht so viel Krakehler
In dieser schönen Gotteswelt
Die Sonne schien' nicht auf Skandäler,
Und doch wär' alles wohl bestellt.
Amen.
(Joseph Victor von Scheffel: Des Biedermanns Abendgemütlichkeit)

Der Schutzpatron der Winzer und Nazis

„Man ist oft weit und breit für einen größeren Narren bekannt als man selbst weiß.“ (Heinrich Heine: Der Rabbi von Bacherach)
Gerade habe ich das Romanfragment „Der Rabbi von Bacherach“ gelesen, das Heinrich Heine 1840 veröffentlicht hat. Schon der erste Satz ist großartig: „Unterhalb des Rheingaus, wo die Ufer des Stromes ihre lachende Miene verlieren, Berg und Felsen, mit ihren abenteuerlichen Burgruinen, sich trotziger gebärden, und eine wildere, ernstere Herrlichkeit emporsteigt, dort liegt, wie eine schaurige Sage der Vorzeit, die finstre, uralte Stadt Bacherach.“ Es geht in dieser Geschichte um die jüdische Gemeinde in diesem Städtchen am Mittelrhein, die seit der Gründung des Ortes durch die Römer hier lebt. Und in dieser Geschichte geht auch um den Märtyrer Werner von Oberwesel.
Der sechzehnjährige Tagelöhner aus armen Verhältnissen wird 1287 ermordet aufgefunden. Seine übel zugerichtete Leiche findet man am Rheinufer in der Nähe von Bacharach. Schnell werden die Juden von den Honoratioren des Ortes beschuldigt, einen Ritualmord an dem Jungen begangen zu haben, um sein Blut am Pessach-Fest zu trinken. Es kommt daraufhin zu einem Pogrom, bei dem die Christen über dreißig Juden ermorden. Anschließend plündern die Bürger die Häuser ihrer Opfer und entledigen sich zugleich ihrer Schulden bei den jüdischen Geldverleihern. Ein gutes Geschäft. Nicht nur in Bacharach, sondern in vielen Orten an Rhein und Mosel kommt es in den folgenden Wochen zu Judenpogromen.
Aber das Geschäft soll noch weiter gehen. Es entsteht ein regelrechter Kult um Werner, der von der katholischen Kirche heiliggesprochen wird. Prächtige Wallfahrtskirchen entstehen am Mittelrhein, um zahlungskräftige Pilger und spendenfreudige Gläubige anzulocken. Im Namen des heiligen Werner wird in den folgenden Jahrhunderten immer wieder zum Judenmord aufgerufen. Die Ruine der Wernerkapelle in Bacharach, das Wahrzeichen der Stadt und ein beliebtes Motiv der Rheinromantik, ist in Wirklichkeit ein Monument des Fremdenhasses, der Gewalt, des deutschen Antisemitismus und der Intoleranz.
„War das nur in Bacharach so? Und nur einmal? Überall, hinauf und hinunter, von Basel bis Straßburg und Mainz und von da bis Worms und Köln und bis in die Niederlande hinunter, überall jüdische Seufzer und Schreie, die sich mit dem rauschenden Strome vermischten, jüdischer Tränen, die in die Wellen flossen, jüdisches Blut, das das Wasser färbte...“, heißt es in einem Reisebericht über Bacharach, der am 25. Juni 1925 in der Zeitung „Der Israelit“ erscheint.
1963, die jüdische Gemeinde von Bacharach ist längst endgültig ausgelöscht, streicht die katholische Kirche Werner endlich aus ihrem Verzeichnis der Heiligen. Bis zu diesem Jahr wurde immer am 19. April das Wernerfest gefeiert. Dennoch gilt er bis heute als einer der sieben Weinheiligen („Der gute Winzerknabe Werner“) und wird in meiner Heimat als Schutzpatron der Winzer verehrt.
UB 40 – Red Red Wine. http://www.youtube.com/watch?v=zXt56MB-3vc

Der Erfolg und ich

Und wieder einmal frage ich mich bei einer Geschäftsidee: Warum bin ich nicht darauf gekommen? Wir verdanken sie dem Königreich der Niederlande, dem sympathischen Kifferstaat am Meer: Der Urnen-Dildo.
Die Asche der teuren Verblichenen wird in einen Dildo eingearbeitet. So ist Ihnen der Ehegatte oder ein Verwandter immer ganz nahe. Die Vorfreude auf das Erbe erfährt eine libidinöse Steigerung.
http://www.taz.de/Unsterbliches-Verlangen/!159009/
Geht es noch besser? Namenspatenschaften für die Fäkalbakterien von Prominenten? Mit Echtheitszertifikat und einer Urkunde, die man sich selbst ausdrucken und an die Wand hängen kann? Für 9,90 €? Ernst gemeinte Anfragen bitte an kiezschreiber@ihrseiddochallebekloppt.org

Dienstag, 28. April 2015

Eine kurze Bemerkung zum Stichwort „Revolution“

„Man trägt die Revolution nicht auf den Lippen um von ihr zu reden, sondern im Herzen um für sie zu sterben.“ (Che Guevara)
Gab es jemals eine erfolgreiche Revolution? Nach der französischen Revolution 1789 folgten die jakobinische Schreckensherrschaft und der Aufstieg des korsischen Kleinbürgers Napoleon zum Kaiser, der ganz Europa in den Krieg stürzte. Nach der russischen Revolution 1917 folgte der Aufstieg des georgischen Kleinbürgers Stalin zum Diktator, dessen Horrorshow mehr Menschenleben gekostet hat als jede Zarenherrschaft zuvor. Nach der deutschen Revolution 1918 folgte der Aufstieg des österreichischen Kleinbürgers Hitlers, der die Welt in den größten Krieg der Geschichte gestürzt hat. Was hatten wir neulich? Den arabischen Frühling. Auch gescheitert.
„1968“? Das war keine Massenerhebung, das waren höchstens ein paar zehntausend Leute, vorwiegend Studenten. Später hat der Staat die Bewegung unterwandert und diskreditiert bzw. die Mitglieder mit fetten Jobs zugeschissen. Einfach mal „Peter Urbach“ in die Suchmaschine eingeben. Oder „Joschka Fischer“. „1989“? Die Ostmenschen wurden mit Westwaren in die Falle gelockt und bekamen am 1. Juli 1990 die D-Mark, den ultimativen Konsumfetisch. Sehr schnell war von Veränderungen keine Rede mehr, freudig hat man dem Konzernkapitalismus die eigene Kehle dargeboten. „2015“? Das wohltemperierte Rollenspiel zum Thema Revolte, das die deutsche Jugend alljährlich am 1. Mai in Kreuzberg zur Aufführung bringt, ist ein fester Bestandteil deutscher Sitten und Gebräuche geworden, ein liebgewonnenes Ritual wie der Kölner Karneval oder das Vatertagsbesäufnis, die allesamt im Wesentlichen den Saturnalien der Antike nachempfunden sind.
Wer sollte eine Revolution machen? Wo finden wir in diesem Land ein revolutionäres Subjekt? Die Grundbedürfnisse nach billigem Fusel, Tiefkühlpizza, Internetpornographie und albernen Fernsehshows sind befriedigt. Alle anderen Bedürfnisse hat man den Menschen erfolgreich ausgeredet. Besteht Hoffnung auf Veränderung? Ja, aber nicht für uns. In den Zentren der Welt hat sich eine tödliche Dekadenz breitgemacht. Erloschene Köpfe, wir haben aufgehört zu träumen. Wir sind so alt, bequem und dick geworden wie die Bürger Roms am Tag vor dem Untergang des Imperiums. Die Deutschen sind mit ihrer Lebensweise nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Wenn eines Tages der Aufstand kommen sollte, dann wird er von den Rändern der Welt, von ihrer Peripherie auf die Zentren in Nordamerika und Europa zurasen.
Das Durchschnittsalter der Menschen im Tschad oder in Mali ist sechzehn Jahre, im Jemen und in Afghanistan um die siebzehn Jahre. Kein Land in Afrika südlich der Sahara – mit Ausnahme von Südafrika - hat ein Durchschnittsalter von über zwanzig Jahren. Der Deutsche ist im Durchschnitt 46. Gemeinsam mit Japan und Monaco bilden wir das Schlusslicht der Rangliste. Alte Menschen rebellieren nicht mehr, junge Menschen schon. Sie glauben, Uncle Sam wird mit seinen Drohnen, Bombern und Söldnern die Jugend der Welt von unserem aufgeblasenen Wohlstand fernhalten? Dann muss ich Sie enttäuschen.
Die Peripherie hat das Zentrum schon längst erreicht. Sie lebt in den Banlieues unserer Städte, in den Vierteln, in die wir uns längst nicht mehr trauen. Wer hat wohl im Morgengrauen das Obst vom Großmarkt geholt, mit dem sich die vegan lebende Yoga-Lehrerin aus dem Prenzlauer Berg ihren Smoothie mixt? Wer hat das Schiff mit den chinesischen Apple-Produkten entladen, die der Hipster aus der Werbeagentur in Konstanz und der Studienrat in Düsseldorf gar nicht mehr aus der Hand legen wollen?
Die reichen Deutschen können gar keine Revolution machen, höchstens eine Palastrevolte der Höflinge. Aber auch das wird nie passieren.
Genießen Sie die Aussicht!
The Pogues - A Pair of Brown Eyes. https://www.youtube.com/watch?v=421pZgg-vlY

Montag, 27. April 2015

Vermischtes ohne tiefere Bedeutung

„Erwarte das Glück schlafend.“ (japanisches Sprichwort)
Wieder was gelernt: Diese pudelmützenartigen, allerdings durchgehend bommelfreien Kopfbedeckungen von jungen Leuten, die den Eindruck vermitteln, als würden sie den ganzen Tag hauptberuflich Skateboard fahren, heißen Beanie. Ich freue mich stets über solche neuen Vokabeln, denn sie geben uns älteren Menschen Gesprächsstoff und einen willkommenen Anlass zu besinnlicher Heiterkeit. Beanie kommt übrigens von Bean, was wiederum Bohne heißt. Das ergibt alles überhaupt keinen Sinn, und das finde ich wirklich schön, weil es den Kopf so leicht und luftig macht.
„Die einen sind mit Dummheit geschlagen, die anderen sind mit Dummheit gesegnet.“ (Johnny Malta)
Es geht das Gerücht um, dass die CDU im Wahlkampf 2017 Fotos von Andrea Nahles veröffentlichen will, die sie vor ihrer Schönheitsoperation zeigen. Aus gewöhnlich gut informierten Kreisen heißt es außerdem, es stünden Aufnahmen von Sigmar Gabriel in der Sauna zur Verfügung, falls es für die Kanzlerin eng werden würde. Die Bundessockenpuppe Steffen Seibert wollte sich auf Anfrage nicht äußern. Er sagte auf dem Weg zu seinem Auto nur, dem Reporter von der „Bild am Samstag“ (formerly known as „Der Spiegel“), der diese Meldung in die Welt gesetzt habe, hätte man ja wohl KO-Tropfen in seinen Stroh-Rum gekippt.
Was genau ist eigentlich der Unterschied zwischen der elektronischen Fußfessel für Gefangene und dem elektronischen Armband von diesen ganzen Fitness-Heinis?
„Solange Deutschland noch das Messer der Teilung im Leib hatte, war es mir sympathischer.“ (Timothy Bandersnatch)
Neulich habe ich irgendwo gelesen, die Reichen würden immer reicher und die Armen immer ärmer. Was mache ich mit dieser Information? Auf Facebook keine Milliardäre mehr liken? Rolls-Royce und Rolex boykottieren? Das Spiel ist gelaufen. Es steht 12:0 für die Reichen, aber es gibt keinen Schiedsrichter, der abpfeift.
Der Junge in der U-Bahn hatte so viele Piercings im Gesicht – man hätte ihn als Schlüsselbrett benutzen können.
Ich höre, es gäbe zu wenig Spenderorgane. Warum reduziert man dann nicht einfach die Preise für Motorräder? Unser System hat für jedes Problem eine Lösung, der kapitalistische Mechanismus funktioniert perfekt. Darum lebe ich so gerne hier.
Grundrechte: Du hast genau zwei. Das Recht, dein ungewaschenes Maul zu halten, und das Recht, Steuern zu zahlen. Das sogenannte Grundgesetz von 1949 interessiert doch niemanden mehr. Wer sich noch auf diesen vergilbten Lappen beruft, sollte endlich mal erwachsen werden.
„The Honorable Society of the Red Machine“, eine mysteriöse Organisation, die 1748 in London gegründet wurde, ist so unglaublich geheim, dass man absolut nichts über sie im Internet finden kann.
Die frühere Pseudointellektuellenpostille „Zeit“ meldet den Tod von Paris Hiltons Schoßhund. Die Zeiten ändern sich, die „Zeit“ auch. Leider nicht zum Guten. http://www.zeit.de/zeit-magazin/leben/2015-04/paris-hilton-tinkerbell-gestorben
Eat this, Aldi-Kassiererin: Die Katze von Karl Lagerfeld hat allein im vergangenen Jahr drei Millionen Euro verdient. http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article139067538/Choupette-die-Katze-die-Millionen-verdient.html
Hugo Boss kleidet nicht nur das Management der Konzerne, die Unternehmensberater, Immobilienmakler und Rechtsanwälte dieser Welt ein. Die Firma schneiderte in der guten alten Zeit ebenfalls die Uniformen für die deutsche Wehrmacht, SA, SS und HJ. Und sahen die Nazis damals nicht auch viel besser als ihre Gegner aus?
Ich verstehe gar nicht, warum sich manche Leute über Scripted Reality im Fernsehen aufregen. Unser ganzer Politik- und Medienbetrieb ist Scripted Reality.
Nachhaltigkeit: In der dritten Welt stellen Menschen Textilien her, die sie sich selbst nie leisten könnten. Sie werden in der ersten Welt getragen, sind irgendwann zweite Wahl und gehen als Second-Hand-Klamotten zurück in die dritte Welt, wo die Näherinnen sie endlich tragen können. Das ist die perfekte Kreislaufwirtschaft.
„Wenn jemand nach dem Sinn des Lebens fragt, und ein anderer antwortet ihm, dann haben beide keine Ahnung.“ (Andy Bonetti, in: Johnny Malta (Hrsg): Männer über fünfzig erzählen, Passau 2014)
Checkpoint Charlie – Smogalarm. https://www.youtube.com/watch?v=O35bQiZoFMQ

Sonntag, 26. April 2015

Flüchtlingstick

„Jeder muss sein Leben für sich leben, mit seinen eigenen Lippen austrinken, wie man einen mit Süße und Bitternis gefüllten Becher ausschlürft.“ (José Ortega y Gasset)
Die Verhaltensweisen, die man sich als Flüchtling in Situationen der Not, des Hungers und der Angst aneignet, scheinen sich für den Rest des Lebens zu verfestigen. Meine Großmutter musste 1945 mit meiner Mutter und meinem Onkel aus Schlesien nach Rheinland-Pfalz zur Familie ihres in der Sowjetunion gefallenen Mannes flüchten. Sie waren zwischenzeitlich auch in einem tschechoslowakischen Flüchtlingslager interniert. Dresden hatten sie drei Tage vor dem Inferno hinter sich gelassen.
Meine Oma hat zum Beispiel mal in einem Café auf dem Nachbartisch ein herrenloses Körbchen mit Brötchen entdeckt und gnadenlos requiriert. Dann hat sie sich für eine Mark Butter und Marmelade bringen lassen und die ganzen Brötchen aufgegessen. Im Supermarkt ging sie gerne an der Schlange vorbei und erzählte dem Kunden ganz vorne, sie müsse dringend zum Zug. Ob man sie deswegen vorlassen würde. Und sie wurde vorgelassen. Und ich stand als kleiner Junge neben ihr. Es war so peinlich. Wir fuhren überhaupt nicht mit dem Zug, sondern gingen um die Ecke zu Fuß nach Hause. Damals gab es auch noch Preisschilder auf den Sachen im Laden, die man ganz leicht abziehen konnte. Manchmal hat meine Oma dann eiskalt die Preisschilder vertauscht und so den Einkauf um etliche Mark verbilligt. Ich wäre als Kind am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. Eine Familie von Kleinganoven. Was würde passieren, wenn sie uns erwischen? Das Kapitel Mundraub will ich hier gar nicht erwähnen …
Meine Mutter war genauso. Wir saßen im Gastraum einer Kegelbahn in Ingelheim und hatten Schnitzel mit Brot gegessen. Am Ende waren noch zwei Scheiben Graubrot übrig, die meine Mutter mit dem Kommentar „Flüchtlingstick“ in ihre Handtasche gesteckt hat. Als die Kellnerin beim Bezahlen hinter ihr stand, nahm meine Mutter das Portemonnaie aus der Tasche und die Kellnerin sah das Brot. Ist ja nicht verboten. Aber ihr Blick hat mich an diesem Tag vernichtet. Es hat viele Jahre gedauert, meine Großmutter und meine Mutter waren längst gestorben, bis ich begriffen habe, dass sie nicht anders konnten. Und dass es ein Fehler war, von ihrem Verhalten peinlich berührt gewesen zu sein. Mit jedem Handgriff haben sie mir von ihrer schrecklichen bleischweren Vergangenheit erzählt. Erst als ich reif genug für die Wahrheit war, habe ich sie erkannt.
The Chameleons - Silence, Sea and Sky. https://www.youtube.com/watch?v=6mzlxXgVveU

Samstag, 25. April 2015

Du denkst nur, du denkst

„Die Landkarte ist nicht das Land.“ (Alfred Korzybski)
Sehr geehrter Herr Professor Unrat!
Wir sind es als Europäer gewohnt, rational zu denken. Wir unterscheiden, wir vergleichen, wir messen, wir bilden eine logische Ordnung und erfinden Benennungen für alles, was uns in der sinnlich erfahrbare Welt umgibt. Wir zerlegen jeden Vorgang in Ursache-Wirkungs-Ketten, wir zerlegen jeden Organismus systematisch in seine Einzelteile. Alles hat einen Grund, eine Funktion, einen Anfang und ein Ende. Zahlen, Tabellen, Grafiken, Fahrpläne, Kalkulationen, Ranglisten. Dieses Denken ist uns so selbstverständlich geworden, dass uns jede andere Form des Denkens fremd geworden ist.
Wir wollen uns nicht auf unseren Instinkt und auf unsere Intuition verlassen, die wesentliche Elemente des „nicht-europäischen“ Denkens sind. Wir sind buchstäblich von unserem Instinkt und unserer Intuition verlassen. Was ist für uns Europäer Instinkt? Vorurteile und Gewohnheiten, Angst, Bequemlichkeit, Lebenserfahrung oder einfach nur Gedankenlosigkeit? Davon wollen wir uns frei machen. Das ist irrational.
Die Kulturgeschichte Indiens, Chinas und Japans, aber auch die Kulturgeschichte vieler Naturvölker in Afrika, Amerika, Asien und Australien ist voller Beispiele für unmittelbare Erkenntnis. Diese Kulturen kommen ohne das Seziermesser eines logischen Systems rationaler Gesetzmäßigkeiten aus. Ich möchte Ihnen zwei Beispiele für intuitives Denken aus unserem Alltag geben.
Sie denken über ein vergangenes Ereignis nach oder sprechen mit Freunden darüber. Ein Wort oder ein Name fällt ihnen nicht ein. Ein spezielles Gericht in einem Restaurant, das sie damals in einem kleinen Dorf am Meer besucht haben. Der Name einer Schulfreundin, die sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben. Sie denken angestrengt darüber nach, aber es fällt ihnen trotzdem nicht ein. Sie beschließen, an etwas anderes zu denken oder über etwas anderes zu sprechen. Sie spüren, dass dieses Wissen in Ihnen ist, aber es braucht noch etwas Zeit. Nach einer Weile, in der Sie Ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zugewandt haben, fällt es Ihnen plötzlich ein: der Name, der Ort, das Erlebnis. Es konnte Ihnen nur einfallen, weil sie nicht systematisch in Ihrem Gedächtnis nach dieser Information gesucht haben.
Kennen Sie Erasmus Bürzelschwung-Schleissheimer, den stellvertretenden Vorsitzenden des Elternbeirats des Kindergartens „Die Superwichtel“? Er wohnt in meinem Dorf. Oder Elvis Bimsmichl, den Sohn eines verbeamteten Nonkonformisten und einer linksdrehenden Musikpädagogin, der das Mini-Knoppers erfunden hat? Nein? Dann vielleicht Daniel Fürchtegott Steinmorgen, berühmter deutscher Büroangestellter (1912-1995)? Da klingelt nichts? Muss es auch nicht. Ich habe mir diesen Blödsinn nur ausgedacht. Fanden Sie es witzig? Wenn Sie gelacht haben, haben Sie die Pointen intuitiv erfasst. Wenn Sie nicht gelacht haben, werden Sie es auch nach der Erklärung jeder einzelnen Pointe nicht tun. Man lacht entweder, ohne nachzudenken, oder eben nicht. Die Pointe eines Witzes funktioniert ebenfalls nur intuitiv. Der Zen-Buddhismus beispielsweise ist voller überraschender Pointen, irrationaler Paradoxien und verblüffender Wendungen, die uns die Grenzen des logischen Denkens aufzeigen sollen.
Die Kunst ist, im Gegensatz zur Wissenschaft, das Ergebnis von Eingebungen, nicht von Berechnungen. Der Künstler erschafft spontan und intuitiv etwas Neues. Aus dem Nichts entsteht etwas, das er selbst zuvor nicht kannte. „Wo“, fragte Alexander Herzen, „ist das Lied, bevor es der Komponist ersinnt?“ Für diesen Schöpfungsakt braucht man weder Messungen noch Tabellen, weder Kalkulationen noch Fahrpläne. Kreativität ist ein unergründliches Geheimnis, das Ihnen auch ein Künstler nicht erklären kann. Warum entsteht ein Text? Sie sagen: Aus Geltungssucht und Geldgier. Für den Großteil der Veröffentlichungen in den Medien und den Verlagen mag das tatsächlich zutreffen. Aber es erklärt nicht den Kern des schöpferischen Prozesses, die pure Lust des Erschaffens. Für Eitelkeit und Habsucht gibt es lohnendere Gebiete.
Eilen Sie weiter, werter Herr Professor. Beschriften Sie die Welt mit kleinen Zetteln. Faktenwissen und das Gefühl andauernder intellektueller Überlegenheit sind keine Zeichen von Weisheit, sondern einzig Güte und Barmherzigkeit. Ewig ist nur der Wandel und nicht der Inhalt irgendeines Lehrbuchs. „Während ich still sitze und nichts tue, kommt der Frühling, und das Gras sprießt“, heißt es im Zenrin Kushu.
In der angenehmen Hoffnung, dass diese Zeilen Sie und Ihre geschätzte Familie gesund antreffen, sehe ich Ihrer Antwort mit großer Freude entgegen und zeichne mit ergebenster Hochachtung
Ihr Bodhisattwa Bonetti
Zeit: Jetzt. Nach Ihrer Zeitrechnung, die sich an der regional dominierenden religiösen Mythologie orientiert, ist gerade der „25. April 2015 n.Chr.“
Ort: Hier. Nach Ihrem anthropozentrischen Weltbild, das die Welt in Verwaltungseinheiten gliedert, befinde ich mich derzeit in „Bad Nauheim“.
Marjorie Estiano – Wave. https://www.youtube.com/watch?v=Ja8_6NdsKHM

Freitag, 24. April 2015

Mary Burns

„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“ (Karl Marx)
Manche Frauen verändern die Welt und dennoch kennen wir sie nicht. Oder sagt Ihnen der Name Mary Burns etwas? Sie war eine irische Arbeiterin. Es gibt nur wenige Zeugnisse über ihr Leben, sie wird in einigen Briefen erwähnt. Sie soll sehr schön und sehr witzig gewesen sein. 1843, sie ist zwanzig Jahre alt, lernt sie einen jungen Deutschen kennen, den damals dreiundzwanzigjährigen Friedrich Engels. Sie zeigt ihm die übelsten Arbeiterviertel von Manchester und führt ihn in die Welt des Proletariats ein. Engels, der eigentlich seine kaufmännische Ausbildung in einer Baumwollspinnerei abschließen soll, beginnt sich für das Leben der einfachen Leute zu interessieren.
Mary Burns und Friedrich Engels werden ein Paar. Zwanzig Jahre lang leben sie zusammen, heiraten allerdings nicht, da sie beide die bürgerliche Institution der Ehe ablehnen. 1845 schreibt Engels aufgrund seiner Erfahrungen und Begegnungen in Manchester „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“. 1848 folgt, gemeinsam mit Karl Marx, „Das Manifest der kommunistischen Partei“. Es erscheint in London, wo es zu diesem Zeitpunkt die einzige kommunistische Organisation der Welt gibt. Es sind nur wenige Dutzend Menschen. Die Geschichte des Kommunismus ist bekannt. Mary Burns ist bis heute eine Unbekannte geblieben. Sie stirbt 1863 an den Folgen ihrer Alkoholsucht. Niemand weiß, wo sie begraben ist.

Punch-Drunk Love

„Lieber mach’ ich mir einen Feind, als dass ich auf eine Pointe verzichte.“ (Oscar Wilde)
Es ist die schönste Liebesgeschichte, die sich im vergangenen Jahr in Wichtelbach zugetragen hat. Wäre es reine Dichtung, hätte eine Redaktion oder ein Lektorat ohnehin die Hälfte gestrichen, weil es einfach zu viel ist – aber lesen Sie selbst:
SIE leidet am Borderline-Syndrom mit allen Facetten dieser Krankheit. Sie beherbergt mehrere Persönlichkeiten, hat Bulimie und sie ritzt sich – bevorzugt die Fußsohlen, damit sie beim Laufen Schmerzen hat. Und sie läuft viel, denn sie hat zwei Hunde, mit denen sie häufig Gassi gehen muss. Nach jeder Mahlzeit geht sie auf die Toilette, um sich geräuschvoll zu übergeben, auch in Restaurants. Zuvor verschlingt sie beträchtliche Mengen und hat auch einen ganzen Wäschekorb voller Süßigkeiten in ihrer Küche stehen. Das einzige, was sie bei sich behält, ist der Alkohol. Weißwein, Eierlikör und Weizenbier in rauen Mengen. Bis vier Uhr morgens trinkt diese Frau im Regelfall, es ist eine wahre Pracht. Seit der Frühverrentung wegen ihrer psychischen Probleme lebt sie in einer kleinen Wohnung und bezieht eine Rente auf Hartz IV-Niveau. Sie hat einmal als Juristin gearbeitet, ein hervorragendes Abitur gemacht und ist die Adoptivtochter eines namhaften Politikers, der im Rotarier-Club ist. Ihr tatsächlicher Vater lebt in den Vereinigten Staaten, ihre Mutter lebt getrennt von ihm auf Hawaii. Die Mutter ist schizophren, drogenabhängig und überdies von adliger Geburt, was ihre Tochter zu einer Baroness macht. Zum Zeitpunkt der Erzählung hat unsere Heldin einen mehrmonatigen Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt hinter sich, wo sie auch ihren aktuellen Freund kennengelernt hat. Ihren Noch-Freund …
ER ist der Sohn eines Feuerwehrmanns und arbeitet im Kühllager einer Supermarktkette, wo er sich von der Hilfskraft zum Staplerfahrer hochgedient hat. Er hat achtzehn Semester Sozialklimbim studiert, ohne jemals die Universität von innen gesehen zu haben. Danach scheiterte er als Wirt einer Dorfkneipe und war Hartz IV-Empfänger, bevor er den Job als Lagerarbeiter in Frankfurt ergattert hat. Auch er trinkt gerne, ist überdies spielsüchtig und ein Messi. Seine Wohnung könnte man mühelos als Location für eine entsprechende Produktion bei RTL II verwenden. Die Toilettenspülung funktioniert schon seit zehn Jahren nicht mehr, man muss „es“ mit einem Eimer wegspülen. Er ist drei Monatsmieten im Rückstand und hat überall Schulden. Das Geld für seinen Gebrauchtwagen, mit dem er nach Feierabend noch Pizza ausliefert, hat er einer armen alten Witwe abgeschwatzt und stottert es in Monatsraten ab. Er ist depressiv und neigt zu exzessivem Selbstmitleid – bis er eines Abends SIE kennenlernt.
BEIDE treffen sich auf einem Dorffest und sind sturzbetrunken, als Amors Blitz einschlägt. Er verliebt sich in sie. Nachts steht er fortan regelmäßig vor ihrem Haus und schaut zu den Fenstern ihrer Wohnung empor. Er hofft, wenigstens ihre Silhouette zu sehen. Über Monate nähert er sich dem Objekt seiner Leidenschaft an, sie trinken zusammen, sie verstehen sich prächtig. Die Kommunikation läuft zwischendurch über SMS, da sie aufgrund ihrer Erkrankung unfähig ist, am Telefon zu sprechen. Irgendwann kommt es zu ersten Zärtlichkeiten. Einige Wochen später trennt sie sich von ihrem psychisch kranken Freund und die beiden werden ein Paar. Die Beziehung dauert nur sechs Wochen, während der sich die beiden mehrfach trennen und wieder versöhnen. Morgens schreibt sie in einer SMS, dass sie ihn liebt, abends schreibt sie in einer SMS, dass sie ihn hasst. Dazwischen ist nichts passiert. Manchmal kommt es zu dramatischen Szenen, wenn er ihr zum Beispiel vorschlägt, etwas in getrennten Zimmern zu machen, also etwa kochen und fernsehen. Dann fühlt sie sich verlassen und weint. Als er einmal am Sonntagmorgen in seine Wohnung geht, um Wäsche zu waschen, schickt sie ihm eine SMS, er hätte sie wegen der Waschmaschine verlassen und brauche auch nicht mehr wiederzukommen. Tatsächlich geht er in eine Spielothek, um zu zocken, erzählt später aber, er habe die uralte Waschmaschine permanent im Auge behalten müssen. Über die Intensität der Beziehung gibt es widersprüchliche Ansichten. Laut seiner Aussage kam es zu sexuellen Handlungen. Einmal habe er sogar neunzig Minuten ununterbrochen („Nonstop! Ich habe auf die Uhr gesehen“) mit ihr gevögelt, er hätte sogar eine Blase am Penis gehabt (und das alles ohne Viagra!). Nach ihrer Aussage gab es überhaupt keinen Sex. Er sei immer betrunken neben ihr eingeschlafen.
Am Ende trennen sie sich, versichern sich aber gegenseitig, man wolle befreundet bleiben. Ihrer Meinung nach sind sein schlechter Charakter und seine Impotenz ausschlaggebend für die Trennung, seiner Meinung nach ihre Geisteskrankheit. Als sie sich wenige Tage später im Biergarten eines Campingplatzes wiedersehen - sie ist inzwischen wieder zu ihrem alten Freund zurückgekehrt, in dessen Begleitung sie ist, er sitzt gerade bei Jägerschnitzel und Weizenbier, ich sitze mit ihm am Tisch und werde so Zeuge der Begegnung -, dreht sie sich wortlos um und geht zum Auto zurück, während er augenblicklich Messer und Gabel fallen lässt und den Gastwirt um die Rechnung bittet. Da ihr neuer und alter Freund Kampfsport betreibt, kündigt er auf dem Heimweg den Besuch eines Waffengeschäfts an. In die Dorfkneipe geht er nur noch, wenn sie nicht anwesend ist. Er schickt einen Kumpel vor, der ihm ein Zeichen gibt, ob die Luft rein ist. Und natürlich lästert er, der von der Liebe und den Frauen so enttäuscht wurde, wo er nur kann. Und so erreicht die Geschichte mit all ihren amüsanten und pikanten Details schließlich auch den ehrwürdigen Chronisten von Wichtelbach.
Sheila E. - Love bizarre. https://www.youtube.com/watch?v=-fpnJgek6QQ

Donnerstag, 23. April 2015

Aus dem Leben eines Toten (1999)

„Zuweilen stand ich auf und sah durch das Fenster hinaus, ich sah allerdings nichts, eine krustige Landschaft, aber auch das war fraglich.“ (Ror Wolf: Pilzer und Pelzer)
Drei Eingänge führen ins Amt, das mich als Sekretär beschäftigt. Da aber stets nur einer von ihnen geöffnet ist – hierbei wird willkürlich gewechselt -, rütteln die Besucher, sehr zum Vergnügen der zur Kaffeepause am Fenster versammelten Beamten, oft vergeblich an den schweren Klinken.
Das Büro, in dem ich mich den ganzen Tag lesend und schreibend über den Schreibtisch beuge, umfasst zwei Zimmer. Es sind manchmal merkwürdige, bedrohliche, scheinbar aus anderen Zeiten stammende, auch meist von völlig anderen Zusammenhängen ausgehende, fremde Gesetze und Wissenschaften anführende Briefe darunter, die mich sehr verwirren. Als wäre ein zweiter Brief noch vor dem eigentlichen ersten, der alles erklärt hätte, bei mir angekommen. So werden aber weiterführende, den eigentlichen Anlass des Briefverkehrs gar nicht mehr erwähnende Aussagen getroffen, die darüber hinaus Stellung zu Briefen nehmen, die von unserem Amt ausgefertigt und versandt sein sollen, die aber in Wirklichkeit nie existiert haben.
In solchen trüben Stunden blicke ich auf, erhebe mich müde, vorsichtig und langsam wie ein sehr alter Mann, und trete ans Fenster. Durch die blätterlosen Zweige einer Ulme schaue ich in die Fenster des gegenüber liegenden Krankenhauses. Die Menschen liegen dort so vollkommen bewegungslos in ihren Betten, dass es nach einiger Zeit der Betrachtung den Anschein hat, man sähe auf eine Sammlung von Gemälden. Graue Fassade und weißkalte Neonquadrate.
Der Weg ins andere Zimmer ist nicht durch eine Tür versperrt. Ich gehe allerdings nicht oft hinein. Eine riesige schwarze Spinne haust darin, sie hat borstiges Haar und ein einziges lidloses Auge. Den ganzen Tag über hockt sie in einer Ecke, dann krabbelt sie wieder lautlos über die fensterlosen Wände, bedenkt scheinbar einige Zeit diese Veränderung und kehrt wieder an den Ausgangspunkt zurück. Sie ist nicht gefährlich und kommt auch nie zu mir herüber, aber sie beunruhigt mich. Muss ich zur Aktenablage oder Recherche in ihr Zimmer, schaue ich immer wieder nervös in den Winkel, aus dem ihr Auge in der staubigen Dämmerung funkelt. Wie sie mich wohl in diesen Augenblicken beurteilt? Mit Unbehagen gehe ich an meinen Schreibtisch zurück.
Manchmal denke ich, es sei ungerecht, mich mit allem so zu belasten, während sie nur starr, die Beine an den Leib gepresst, in ihrem Zimmer kauert. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, sie wäre von einer höheren Instanz dazu ermächtigt, als wäre es eine wichtige, das ganze Amt umfassende und erhaltende Arbeit, die sie hier verrichtet.
The Police – Roxanne. https://www.youtube.com/watch?v=3T1c7GkzRQQ

Mittwoch, 22. April 2015

News-Update Thai Story 3

„Es gibt so komische Dinge auf der Welt, dass manche, wenn sie auch wahr sind, kaum glaubhaft erscheinen; und jene Leute, die wegen der besonderen Narrheit eines Geschehens meinen, es sei nicht wahr, kennen offensichtlich die Menschen nicht.“ (Pierre Carlet de Marivaux: Die Abenteuer des jungen Brideron)
Ein prächtiger Tag voller Sonne und Zuversicht, der japanische Kirschbaum vor meinem Fenster blüht geradezu filmreif und in meinem Glas funkelt der „Mai-Dominator“ aus einer Schweppenhäuser Mikro-Brauerei („Stromberger Urbräu“) mit seinen kraftvollen 8,5 Prozent Mentalbrennstoff. Gut, ich versuche, dem Ernst der Lage gerecht zu werden.
Eine Mail trudelt in der Detektei Eberling ein. Es ist mein einziger Klient. Ein schwerer Fall. Verliebt. Verraten. Verkauft. Aber der Reihe nach. „Es hat sich mittlerweile was ganz Neues ereignet. Damit erübrigt sich die Detektiv-Nummer fast.“ So beginnt die tragische Erzählung, meine Damen und Herren. Und wenn Sie sich jetzt noch ein paar Kartoffelchips, einen Bourbon oder Taschentücher holen wollen – nur zu. Es würde selbst mir das Herz brechen, wenn die Frauen es nicht schon längst getan hätten.
Die Thai-Perle meines Klienten hat sich seit drei Tagen nicht mehr bei ihm gemeldet. Dann ruft sie ihn über Skype an. Aus einer fremden Wohnung. Aber lassen wir den Betroffenen persönlich zu Wort kommen: „Im Hintergrund redet jemand auf Thai und ich frage sie, ob sie mir mal die Person zeigen kann. Sie schwenkt die Handykamera rüber - und da sitzt ein jüngerer Thai-Typ mit nacktem Oberkörper auf dem Bett. Mir hat‘s echt die Sprache verschlagen.“
Dann redet die junge Dame auf Thai mit ihrem Freund. Mein Klient sagt irgendwann nur noch „Have fun with your friend. Bye-bye!“ Seither haben sie keinen Kontakt mehr. Funkstille. Was ist los? Was ist passiert? Eine eilig einberufene Telefonkonferenz ergibt: Wir können es uns alle nicht erklären. Was soll man davon halten? Oder um es mit den Worten meines Klienten zu sagen: „Komisches Verhalten von einer Frau, die mir sagt: ‚Ich will ein Kind von dir. Ich liebe dich sooo sehr‘. Ich denke, damit ist es auch ziemlich egal, ob sie für Geld mit anderen fickt oder just for fun. Wie siehst du das?“
Ich sehe es so – und das habe ich ihm auch umgehend geschrieben: Kauf dir eine Flasche Jack Daniel‘s, heul, schrei, hör laute Musik. Aber vergiss die Frau. Es tut weh. Klar. Man könnte sich auch frischen Chili unter die Vorhaut und in die Augen reiben, um von den eigentlichen Schmerzen abzulenken. Aber da musst du jetzt durch.
Wer weiß, welche Katastrophe ihn erwartet hätte, wenn er tatsächlich mit ihr eine Familie gegründet hätte? Und vor zehn Tagen hat er mir genau diese Vision in rosaroten Farben geschildert. Mit fünfzig und einem wilden Reporterleben – der Mann hat mit Tony Marshall gesoffen – doch noch die Kurve kriegen und in den Hafen der Kleinfamilie einlaufen. Verliebt, verlobt, verheiratet. Stattdessen: Verliebt, verraten, verkauft. Vorbei. Bitches.
P.S.: Und das war in der folgenden Nacht die letzte Nachricht meines Klienten: „Danke für den guten Rat. Natürlich wird sie kommen mit ‚das war ja nur ein guter Freund‘ oder ‚das war mein Cousin, und ficken gehört in unserer Familie zum guten Ton‘ oder so ein Scheiß. Aber keine Frau, die einen liebt, würde so eine Situation auch noch plakativ präsentieren. Wahrscheinlich war das ihre elegante Art, die ganze Sache mit mir zu beenden. Ja, die Flasche Whiskey hab ich im Schrank ...“ No comment. Next question please.
P.P.S.: Gerade eben hat mich eine weitere Mail meines Klienten erreicht. Sie entschuldigt sich wortreich und behauptet tatsächlich, einen Verwandten in Bangkok besucht zu haben, wo ihr Auto gerade in der Werkstatt sei. Der letzte Satz der Mail, die mir zu Dokumentationszwecken im Wortlaut vorliegt, "Ich bin deine Droge oder dein Medikament" klingt ja fast schon wie in einem schlechten Roman. Aus dem wissenschaftlichen Beirat erreicht mich zur gleichen Zeit folgende Analyse: „Erklärung 1: das war ihr Bruder. Wahrscheinlichkeit: 2 Prozent. Erklärung 2: sie hat realisiert, dass die Nummer durch ist, weswegen es ihr egal war, dass sie auffliegt. Wahrscheinlichkeit: 49 Prozent. Erklärung 3: Sie ist ziemlich doof. Wahrscheinlichkeit: 49 Prozent." Diskutieren Sie diese Arbeitshypothese bitte in den zuständigen sozialen Medien!
Smoove - I'm A Man. https://www.youtube.com/watch?v=N9viPN8XrBc

Ich will ein Buch von dir

Als Schriftsteller werde ich oft gefragt, welche Bücher ich empfehlen kann. Nun, das ist natürlich ein weites Feld. Bevor ich meine Leserschaft, deren Geduld vermutlich begrenzt sein dürfte, mit einer ellenlangen Liste langweile, hier mein ultimativer Tipp:
„Windeln, Stöckchen, strenge Gouvernanten“ des Autorenduos Pampersboy / Schwester Incontinenzia. Womöglich handelt es sich bei diesen Namen um Pseudonyme. Worum geht es? „Erwachsene ‚Babies‘, eingesperrt im Laufställchen, mit Schnuller und Sprechverbot, stundenlang volle Hosen ... Träume von strenger Hosenscheißer-Erziehung wie anno dazumal.“ Ein Werk von inhaltlicher Stringenz und politischer Relevanz, das auch bei Ihnen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen dürfte.
http://www.marterpfahlverlag.com/Autoren-P-T/windeln-stoeckchen-strenge-gouvernanten.html
Was ist los da draußen?
Madness - One Step Beyond. https://www.youtube.com/watch?v=C9N8piRFVcU

Antihumanitärer Schutzwall

Kennen wir überhaupt die genaue Zahl der toten Flüchtlinge an Europas Grenzen? Würde bitte jemand so freundlich sein, mir einen Namen zu nennen, den man auf ein Kreuz schreiben kann?
Die Mauertoten von 2015 werden bald vergessen sein, da sie sich politisch nicht gegen Russland oder wen auch immer instrumentalisieren lassen.
Für diese Kinder und ihre Eltern wird niemand im Kölner Dom eine Kerze anzünden.

Dienstag, 21. April 2015

Unerlässliche Informationen für den Connaisseur

„Künstler ist nur einer, der aus der Lösung ein Rätsel machen kann.“ (Karl Kraus)
Bonettis autobiographisch gefärbte Erzählung „Bourbon, Burger, Bunga Bunga“ wurde mit dem goldenen Agamemnon, dem Literaturpreis der Stadt Füssen, ausgezeichnet. Sein Pamphlet „Liebesbriefe und andere verbale Anstrengungen zum Zwecke der Fortpflanzung“ wurde mit der Blechzitrone der Frauenzeitschrift Clothilde ausgezeichnet - für den frauenfeindlichsten Text ever. Ever.
Am 11.11.2001 schloss Andy Bonetti sich im Martin-Gropius-Bau in Berlin ein, wo an diesem Tag eine Ausstellung anlässlich des 250. Todestages des französischen Philosophen Julien Offray de la Mettrie eröffnet werden sollte. Er ließ zwei Tage lang niemanden ins Gebäude, in dem er angeblich mehrere Bomben deponiert hatte, und schrieb in dieser Zeit seinen berühmten Essay „Ich bin drin und ihr nicht“. Der Text erschien in Bonettis bahnbrechendem Werk „Gott – die frühen Jahre“ (Unglaublich Productions, Bad Nauheim 2003). La Mettrie starb übrigens am Hofe Friedrichs des Großen in Potsdam, als er bei einem Wettessen an einer Pastete erstickte.
„In früheren Zeiten drangen die Barbaren von außen in eine Zivilisation ein und zerstörten sie. Heute ist es die Zivilisation selbst, die Barbaren hervorbringt.“ (Andy Bonetti in einem Interview mit der New York Times)
Andy Bonetti hat 1993 versucht, sich selbständig zu machen. Seine Geschäftsidee: Ein All-You-Can-Eat-Lieferservice in Bad Nauheim. Nach einem halben Jahr musste er Konkurs anmelden.
Bonetti gehörte als junger Mann zu einer Gruppe von Bad Nauheimer Intellektuellen, die unter dem Namen „Ratio Aktiv“ in den achtziger Jahren ein politisches Manifest mit dem Titel „Wir wollen eine andere Zukunft“ veröffentlichte.
Wenn Andy Bonetti in Hessen unterwegs ist, hat man den Eindruck, ein Scheinwerfer würde über das Land wandern. Wo auch immer er auftaucht, sind Presse, Funk und Fernsehen anwesend. In Kassel sehen wir ihn bei der Eröffnung einer Ausstellung kubistischer Backwaren. In Wiesbaden trifft er bei der Einweihung einer Minigolfanlage die Kulturstaatssekretärin Petronella Lobesam. In Hanau hebt er das Sektglas anlässlich des neunzigsten Geburtstags des ehemaligen Kreistagsabgeordneten Rainer Strohsack. In Darmstadt nimmt er an der Premiere eines Musicals über das Leben von Ronald Pofalla teil. Beim Gartenfest des saarländischen Botschafters plaudert er angeregt mit der Operndiva Anastasia Herkulanowa. Die hessische Kultur ist ohne Andy Bonetti schlichtweg unvorstellbar.
„Acht Uhr morgens. Erlebnisbäckerei Hufnagel im Bahnhof von Bad Nauheim. Mettbrötchen. Aaah! Fingerdick frisches Schweinemett. Schön viel Zwiebeln. Eine Prise Pfeffer. Das bringt dich morgens richtig in Fahrt. So frühstückt Batman. Chuck Norris isst acht Stück von der Sorte. Nix für Montessori-Bionade-Luschen mit Betroffenheitsbefall.“ (Anfang von Andy Bonettis Kurzgeschichte „Wir sehen uns hinterm Bahnhof, Gringo“)
„Erst wenn ich weg bin, wird man erkennen, welche Lücke ich hinterlassen habe.“ (Andy Bonetti in einem Interview mit Asahi Shimbun)
Den Satz „Ich möchte an dieser Stelle meine Tante Gisela in Koblenz grüßen“ musste das Lektorat aus Bonettis erstem Roman „Der Sohn der Nonne“ streichen. Außerdem wurde der Titel geändert, weil bereits ein Roman von Maxim Gorki diesen Titel trägt. Bonettis Debütroman erhielt den Titel “Betrachtungen und Ansichten eines unbekannten Bewohners der Stadt Bad Nauheim, nebst einer Darstellung etlicher Vorfälle, die sich daselbst zugetragen, nach fremden Berichten wie auch nach eigener Beobachtung geschildert” und wurde erwartungsgemäß ein Reinfall. Nur 17 Exemplare wurden verkauft, die heute unter Sammlern als kostbare Rarität gelten.
Neu erschienen: „Melanie und Aporie – der Mann als moderner Sisyphos zwischen Ehe und Beruf“. ABC (Andy Bonetti Collection), Band 23.
„Pro Rektum“, eine Forschungsstelle der Universität Münster, die sich mit der Relevanz von Literatur für die deutsche Gesellschaft befasst, sieht Andy Bonetti nach dem Tod von Günter Grass als einflussreichsten Schriftsteller der Gegenwart.
Zur Frankfurter Buchmesse im Herbst erscheint die lang erwartete Biographie „Andy Bonetti – Inferno und Ekstase“ von Prof. Dr. Hansi Winkelmeyer. Der Titel der englischen Übersetzung von Timothy Bandersnatch lautet „It’s fucking great to be alive – The Bonetti Story“.
Dakota Slim, der im Internet die Fanseite „Bonettis Multiversum“ betreut, heißt in Wirklichkeit Alfons Waldspecht.
„Der Deutsche des Jahres 2015 wirkt insgesamt etwas weichgespült, lauwarm und pastellfarben.“ (Andy Bonetti in einem Interview mit Le Monde)
Weitere Informationen, die Sie dringend benötigen:
DHL und andere Lieferdienste arbeiten jetzt mit den Krankenkassen zusammen. Deswegen werden die Pakete auch nicht mehr an die Haustür geliefert, sondern bei den Nachbarn abgegeben. Die Nerds, die alles im Netz bestellen, sollen sich auf diese Weise mehr bewegen und an die frische Luft kommen. Die Distanz wird übrigens von Paket zu Paket gesteigert.
1923 wurde der elektrische Parmesanhobel von Antonio Flipperoni aus Bologna erfunden.
Der Haltitunturi ist der höchste Berg Finnlands.
Toyah - It's A Mystery. https://www.youtube.com/watch?v=hgee3IGYZsU

Montag, 20. April 2015

Deutsche Diskussionen

„Ich werde auf eure Gräber spucken” (Roman von Boris Vian, 1946 erschienen)
Du musst immer wissen, mit wem du dich auf eine Diskussion einlässt. Ein Bekannter von mir, den ich bei einem Familienbrunch am Sonntagmorgen in der „Alten Wache“ in Bingen treffe, hat früher Farben und Lacke in Behindertenwerkstätten und Nervenkliniken geliefert. Eines Tages stand in einer geschlossenen Abteilung ein kahlgeschorener Hüne vor ihm und sagte: „Ich will deine Jacke.“ Er antwortete: „Du kriegst meine Jacke nicht.“ Es waren drei Pfleger erforderlich, um ihn wieder aus dem Schwitzkasten zu befreien, in den ihn der irre Koloss genommen hatte. Manchmal hilft gesunde Vorsicht mehr als kluge Argumente.
Noch eine wahre Geschichte: Ich sitze gestern mit einem Freund nach einer kleinen Wanderung in einer sehr empfehlenswerten Gaststätte auf dem Westerberg in Ingelheim namens „Brauser’s Bergschänke“. Natürlich ist dieser Geröllpickel so wenig ein Berg wie der Kreuzberg oder der Prenzlauer Berg. Aber Uwe Brauser ist ja eigentlich auch kein Schankwirt, er hat nur am Wochenende geöffnet. Der Gast bedient sich selbst, es gibt selbstgebackene Käsebrezel und Kuchen sowie diverse Getränke, sanftmütige Hunde, die sich von jedem streicheln lassen, Sonne und Gelassenheit.
Eine Freundin und ein Freund von ihr setzen sich zu uns. Nach einer kurzen Diskussion über die Merkwürdigkeit unserer rheinhessischen Sprachwelt, in der es ein „abenes Licht“ am Fahrrad (d.h. ein fehlendes), eine „zuene Tür“ (d.h. eine geschlossene) und „besser als wie“ gibt, erzählen die beiden Ex-Ingelheimer, die jetzt in Mainz wohnen, von einem merkwürdigen Klamottenladen, den sie in Mainz entdeckt haben. Der Freund der Freundin erzählt, er sei in den Laden gegangen und wollte sich ein Hemd kaufen. Der Verkäufer hätte ihm auch ein Hemd gegeben, hätte sich aber anschließend nicht mehr um ihn gekümmert. Dann hätte das Telefon geklingelt und der Verkäufer hätte während des Telefonats immer etwas von Kaliber und Munition geredet. Er wäre dann einfach gegangen. Der Laden sei verdächtig oft geschlossen. Er fragte uns, wie so ein Laden überhaupt in Mainz existieren könne.
Ich muss lachen und kläre ihn auf. Im selben Haus, in dem der Klamottenladen ist, lebt ein guter Freund von mir, den ich zufällig eine Stunde nach dem Gespräch besuche, weil wir zusammen in ein Brauhaus in Mainz-Kastel gehen wollen. Außerdem hatte ich mal in derselben Straße schräg gegenüber eine halbes Jahr in WG-Zimmer. Tatsächlich ist der Laden nur eine Tarnung. Eigentlich ist es ein Waffengeschäft. Hier kaufen allerdings keine Ganoven ihre Uzi, sondern Waffensammler historische Schusswaffen. Es würde auch nichts nutzen, ins Ladengeschäft einzubrechen. Dort sind zur Tarnung ein paar Hosen und Hemden vorrätig. Die teuren Sammlerstücke sind im Hinterhaus gelagert. Ich kenne die Eingangstür zum Lager, denn ich komme immer an ihr vorüber, wenn ich meinen Freund besuche – Fort Knox nix dagegen. Manche belanglose Läden bergen ein großes Geheimnis.
Am Abend sitze ich mit besagtem Freund bei Bier und Schnitzel im Brauhaus. Er ist Literaturfan wie ich und natürlich sprechen wir über den Tod von Günter Grass. Karasek sagte ja in einem Interview, der größte Romanautor des 20. Jahrhunderts sei gestorben. Uns schwellen die Halsschlagadern vor Zorn und wir diskutieren über die Plausibilität von Peter Watsons These aus „Der deutsche Genius“: Deutschland habe nach Ausschwitz nur technologisch wieder Anschluss an die Welt gefunden, aber nicht geistig und künstlerisch. Bach, Beethoven, Haydn, Händel, Mozart und wie sie alle hießen in der Musik. Was kam nach dem Untergang des Dritten Reichs? Kraftwerk fällt mir ein. Es ist überschaubar. Es gibt viele berühmte bzw. bekannte Gruppen, Sängerinnen und Sänger – aber bei ihrer Nennung würde man sich ja selbst beschmutzen. Kant, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche und wie sie alle hießen in der Philosophie. Selbst Fichte und Schelling sind ja Lichtgestalten gegenüber Habermas, Adorno oder Gadamer.
In der Literatur haben Lessing, Goethe, Schiller, Heine, Novalis, Kafka, Hesse, Mann Werke in deutscher Sprache hinterlassen, die unvergessen bleiben werden. Was kam nach 1945? Böll, Lenz, Handke, Walser, Strauß und eben jener Grass – also niemand im Vergleich zu den Titanen der Vergangenheit. Selbst Bernhard, Fauser oder Herrndorf wirken wie Hilfskellner, die einem Kafka bestenfalls das Wasser reichen dürfen. Darum bewegen mein Freund, mit dem es am 1. Mai wieder gemeinsam nach Franken geht, und ich uns geistig fast ausschließlich im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Was bieten uns die Lebenden an Lektüre?
Wir haben BMW und SAP, ARD und CDU. Aber es gibt seit siebzig Jahren keinen klugen Kopf mehr in diesem Land. Und dann werden Arschkrampen wie Grass oder Schirrmacher bei ihrem Tod abgefeiert, als hätten wir eine Jahrhundertgestalt verloren. Von unserer Zeit wird nichts bleiben. Man wird sich an uns nicht erinnern. Wir haben es nicht verdient, weil wir nichts geleistet haben. Wir waren fleißig und haben uns stets bemüht, wird es einmal verächtlich heißen. Aber wir hatten keine Ideen und haben außer Atommüll und Naturvernichtung kein Erbe hinterlassen. Unsere Nachkommen werden uns wechselweise auslachen und verfluchen.
Nachts fahre ich mit dem „Lumpensammler“ (dem letzten Zug) von Mainz zurück nach Bingen und mit dem Taxi nach Schweppenhausen. Gemeinsam mit dem türkischen Fahrer rege ich mich über die Unfähigkeit der deutschen Politik auf, in diesem reichen Land eine funktionierende Infrastruktur auf die Beine zu stellen. Der Türke erzählt mir, er würde seit 1980 in Deutschland leben und habe den Eindruck, die Deutschen seien von ihrer Mentalität her Soldaten. Gehorsam, aber ohne tiefere Einsicht. Landsknechte in Nadelstreifen. Da gebe ich ihm Recht. Darüber müssen wir nicht diskutieren.
P.S.: Ich war heute auf großer Rheinhessen-Tournee in Mainz, Ingelheim und Bingen. Worüber diskutiert man in diesem Landstrich? Es geht um die zentrale Frage, ob das Logo der Mainzer Dachdeckerfirma Neger (doch, liebe Berufsbetroffene von der Tugendmafia, die Familie heißt so), das einen werkzeugschwingenden afrikanischen Eingeborenen zeigt, rassistisch sei. Sonst haben wir keine Sorgen. Es geht uns zu gut. Viel zu gut. In Rheinhessen wird diese von Felix Schmitt, stellvertretender Pressesprecher der Grünen-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz, angestoßene Diskussion mit großer Inbrunst geführt (Debattenbeiträge zu diesem Thema können Sie inzwischen aber auch in der FAZ, der Washington Post usw. nachlesen), während in diesen Tagen Tausende von echten NEGERN (ich bitte an dieser Stelle das Sprachkommissariat der feministischen Reichsschrifttumskammer Kreuzberg, Unterabteilung Zigeunerschnitzel, um einen mahnend erhobenen Zeigefinger), die uns um Hilfe bitten, jämmerlich vor Europas Küsten ersaufen. Ich wünsche diesem Land von ganzem Herzen eine tödliche Seuche oder einen dritten Weltkrieg („Finale dahoam“). Ein solches Purgatorium würde uns allen gut tun.
Duke Ellington "All Stars" Octet – Solitude. http://www.youtube.com/watch?v=9KFCCGVj52g

Sonntag, 19. April 2015

Die Melancholie der Ruinen

„Eines der winzigen Privilegien, die früher der Mensch genoss, war die Stille, das Recht auf eine gewisse Dosis Stille. Vorbei.“ (José Ortega y Gasset)
Auf der Autobahn kurz vor Berlin, 6:30 Uhr. Zwei junge Frauen sitzen in einem Fernreisebus von TOTAL, einem neuen Anbieter von äußerst günstigen Busreisen.
Jutta: Ich hab seit Stuttgart kein Auge zugemacht.
Anke: Ich auch nicht. Scheiße. Ich dachte, man könnte auf der Fahrt ein bisschen pennen.
Jutta: Wie denn auf den engen Sitzen? Und jetzt könnte ich mal aufs Klo. Aber hier im Bus geh ich nicht.
Anke: Ich auch nicht. Die Jungs da vorne haben die ganze Nacht Bier getrunken und sind so oft auf dem Klo gewesen – ich möchte echt nicht wissen, wie es da drin jetzt aussieht.
Jutta: Wir sind ja gleich da. Dann gehen wir erst mal in ein Café. Trinken einen Kaffee Latte und gehen aufs Klo.
Anke: Hat denn um die Uhrzeit was auf?
Jutta: Notfalls gehen wir zu McDonald’s.
Anke: Auf dem Ticket steht, dass wir am ZOB ankommen. Ist das der Bahnhof Zoo? Zoo Berlin? Weißt du das?
Jutta: Nee, keine Ahnung. Da müssen wir mal fragen.
Anke: Ich guck mal bei wikipedia. Augenblick …
Jutta: Und?
Anke: Also ich hab hier drei Einträge. Zentraler Objektschutz Berlin. Zentraler Omnibusbahnhof. Und dann noch was Polnisches. Eine jüdische Kampforganisation im Warschauer Ghetto.
Jutta: Na, Hauptsache, wir landen nicht im Berliner Ghetto.
Anke: Hahaha! Hör auf, ich muss doch aufs Klo.
Jutta: Kannst ja mal gucken, wo der ZOB Berlin ist.
Anke: Moment … Masurenallee. Am Messegelände. Da ist dieser Funkturm in der Nähe, von dem meine Mutter erzählt hat.
Jutta: Den müssen wir aber nicht besichtigen, oder?
Anke: Nee. Das ist auch gar nicht in der Innenstadt. Aber das Brandenburger Tor und die East Side Gallery sollten wir uns schon anschauen.
Jutta: Ich will vor allem die Friedrichstraße und den Prenzlauer Berg sehen. Da soll es die geilsten Klamottenläden geben.
Anke: Du immer mit deinen Klamottenläden. Mach doch auch Zalando. Lass dir ein paar Sachen schicken und was dir gefällt, trägst du Samstagabend, wenn du weggehst. Und dann schickst du alles wieder zurück.
Jutta: Ach, das ist nicht dasselbe. Ich muss in die Läden rein, den Stoff fühlen. Das geht im Internet nicht so gut. Und wenn wir schon mal in Berlin sind ...
Anke: Die Läden machen ja erst um zehn Uhr auf. Was machen wir bis dahin?
Jutta: Wir fahren erstmal zum Potsdamer Platz. Mit der U-Bahn. Die Berliner U-Bahn soll ja echt schräg sein. Voller krasser Typen.
Anke: Um die Uhrzeit? Da gehen doch die ganzen Normalos zur Arbeit.
Jutta: Bei uns in Stuttgart vielleicht. Hier kommen sie um die Zeit aus den Clubs. Und arbeiten tut hier doch sowieso keiner.
Anke: Und wir gehen am Boxhagener Platz oder in der Kastanienallee zu Mittag essen. Da sollen die ganzen coolen Leute abhängen. Musiker und Schauspieler.
Jutta: Klar, sobald ich das erste Paar Schuhe gekauft habe.
Anke: Hey, die Sonne geht auf. Guck mal da, die ganzen Ruinen.
Jutta: Das war früher mal die Grenze. Also zwischen uns und der DDR.
Anke: Wahnsinn. Warum machen die nix mit dem Gelände?
Jutta: Ganz Berlin ist voller Ruinen. Denk doch nur mal an die Gedächtniskirche.
Anke: Da müssen wir aber nicht hin, oder? KaDeWe ist echt für Spießer.
Jutta: Ganz meine Meinung. Außerdem fährt heute Abend um zehn Uhr ja schon wieder der Bus.
Anke: Das ist echt der Hammer. Nach Berlin und zurück für neun Euro.
Jutta: Jenny und Nadine sind so blöd. Die hätten ruhig mitkommen können.
Anke: Mit denen ist halt nix los. Die bleiben lieber daheim.
Tamikrest - Toumast Anlet. https://www.youtube.com/watch?v=3XrvpNjNs3c

Der Kuss

Welcher Mann kann davon berichten, dass ihm einmal die Hand geküsst wurde? Mir ist es in dieser Woche passiert. Ich war auf einem Spaziergang in der Nähe des Dorfes, als ich eine Bekannte traf, die mit ihren zwei Hunden unterwegs war. Sie unterhielt sich gerade mit einer anderen Frau, die mit ihren zwei kleinen Kindern am Wegesrand stand. Ich blieb stehen, wir unterhielten uns ein wenig und dann ging ich in die Hocke, um die Hunde zu streicheln. Eines der Kinder, ein dreijähriges Mädchen, sah mir dabei interessiert zu. Sie hatte eine Blume in der Hand und traute sich selbst offenbar nicht, die Hunde anzufassen. Also hat sie meinen linken Handrücken geküsst, während ich dem Hund über den Kopf streichelte. Wie kam sie nur auf diese Idee? Aber ich wollte sie auch nicht fragen. In diesem Augenblick war es etwas ganz Natürliches. Stattdessen erklärte ich ihr den unglaublichen Geruchssinn des Hundes, der an meiner Hand riechen kann, was ich vorgestern gegessen habe. Ob sie mir diese schräge Story geglaubt hat?
Ich erinnere mich an ein kleines Mädchen in Berlin, mit dem ich früher oft gespielt habe. Ich war mit ihren Eltern befreundet und habe mit ihr viele Stunden in ihrem Kinderzimmer verbracht, damit ihre Mutter in Ruhe an ihren wissenschaftlichen Fachaufsätzen arbeiten konnte oder der Vater nach der Arbeit mal einen Augenblick Ruhe hatte. Der sanfte helle Ton, mit dem sie mich nach meinem Lieblingstier oder meiner Lieblingsfarbe gefragt hat. Das zufriedene Summen, wenn wir ein Lego-Haus nach ihren Vorstellungen gebaut haben. Die ganz selbstverständlich klingende Antwort „Das weiß ich doch nicht“, wenn ich sie gefragt habe, was sie gerade malt. Wenn sie die Tür zugemacht hat, damit wir zu lauter Musik tanzen können. Wenn sie die Eltern, die gelegentlich mal reingeschaut haben oder etwas zu essen vorbei brachten, genervt vor die Tür gesetzt hat. Einmal hat sie mir ihren Namen als Tattoo auf den Unterarm gemalt. Ein wunderbares Alter, drei Jahre … - dieses Jahr wird sie zwölf und bescheißt beim Monopoly-Spiel wie eine Große.

Samstag, 18. April 2015

Oh Boy

Am Mittwoch lief auf Arte ein wunderbar lakonischer Berlin-Film von Jan-Ole Gerster. So einfach und klar wie eine japanische Keramik.
„Oh Boy“ ist noch bis nächste Woche in der Mediathek zu sehen. Wer ihn noch nicht kennt:
http://www.arte.tv/guide/de/043495-000/oh-boy?autoplay=1

Roth und Grau

„Ich bin ein eingefleischter Individualist. Das ist das ganze Problem.“ (Werner Finck)
Hans-Peter Grau sitzt am Steuer seines VW Passat. Er ist im fortgeschrittenen Alter, untersetzt und trägt einen anthrazitfarbenen Anzug. Neben ihm sitzt ein junger Mann mit platinblond gefärbtem Out-of-Bed-Look auf dem Schädel und Lederjacke. Er heißt Fabian Roth und hat einen Rucksack auf seinem Schoß. Der Wagen befindet sich auf der Autobahn kurz hinter Berlin und fährt in Richtung Westen.
Roth: Danke, dass Sie mich mitgenommen haben.
Grau: Nichts zu danken. Wusste gar nicht, dass es noch Tramper gibt.
Roth: Wusste gar nicht, dass Tramper noch mitgenommen werden. Aber ich habe kein Geld für die Rückfahrkarte.
Grau: Zu meiner Zeit sind wir ja jedes Wochenende getrampt. Zu Konzerten oder Partys. Sie sind der erste Tramper, den ich seit vielen Jahren mitnehme.
Roth: Finde ich gut. Ich habe gerade Jack Kerouac gelesen. „On the road“. Da wird ständig getrampt.
Grau: Wo soll’s denn hingehen?
Roth: Wolfsburg. Fahren Sie in die Richtung?
Grau: Ich muss nach Hannover. Ist kein Problem, ich kann Sie in Wolfsburg rauslassen.
Roth: Das wäre echt super. Ich bin total fertig.
Grau: Die Nacht durchgemacht, was? Haben wir früher auch.
Roth: Wenn’s nur das wäre. Ich war auf einer Demo gegen Nazis. Überall Bullen und Glatzen. Echt krass.
Grau: Ist Ihnen was passiert?
Roth: Nein. Aber es war stressig. Wir haben bei Freunden auf dem Boden gepennt. Und am nächsten Tag mussten wir die Demo erstmal finden. Die war in Hellersdorf. Das ist am Arsch der Heide.
Grau: Kenn ich nur vom Hörensagen. Ich bin immer nur in der Innenstadt. Hab einen alten Studienfreund in Charlottenburg besucht.
Roth: Sie haben in Berlin studiert?
Grau: Ja, sechszehn Semester Politikwissenschaft. Da haben wir auch eine Menge Demos veranstaltet.
Roth: Sieht man Ihnen gar nicht an.
Grau: Nach der Wende wurden für den Osten unheimlich viele Verwaltungsbeamte gebraucht. Ich habe eine Stelle bei der Stadtplanung in Magdeburg bekommen.
Roth: Und was machen Sie dann in Hannover?
Grau: Inzwischen habe ich mich versetzen lassen. Ich komme ursprünglich aus Neustadt am Rübenberge. Ist da ganz in der Nähe.
Roth: Politikwissenschaft. Ist ja echt witzig. Will ich nämlich auch studieren. Nach dem Abi.
Grau: Wann sind denn die Prüfungen?
Roth: In zwei Monaten. Aber an den Unis ist ja nix mehr los, was man so hört. In den sechziger Jahren waren die noch voll auf dem Revolutionstrip. Und zu Ihrer Zeit war sicher auch noch eine Menge los, oder?
Grau: Kann man so sagen. An unserem Institut waren eigentlich alle Marxisten. Die Studenten sowieso, aber auch die Profs. Wir haben gestreikt. Es gab Hausbesetzungen. Riesendemos. Die Knüppelgarde des Senats ist aufmarschiert, Wasserwerfer und Tränengas. Am 1. Mai herrschte Ausnahmezustand.
Roth: Da wäre ich gerne dabei gewesen. Marx hab ich nicht gelesen. Ist mir zu textlastig. Heute hast du ja gegen das System keine Chance mehr. Die überwachen dich auf Schritt und Tritt. Und die Bullen machen mit den Nazis gemeinsame Sache. NSU und so.
Grau: Mit einer Demo verändert man ja auch nichts. Ich habe es in Berlin schon öfters gesehen. Da gehen die jungen Leute eine Stunde um den Block, das Handy in der einen und die Bierdose in der anderen Hand. Und hinterher hocken sie in der Kneipe und erzählen, sie hätten was gegen das System gemacht. Nö, haben sie nicht.
Roth: Was habt ihr denn damals anders gemacht?
Grau: Wir waren die ganze Zeit aktiv. Da gab es autonome Seminare, in denen diskutiert wurde. Wir haben eine Menge phantasievolle Aktionen gestartet. Wenn uns was nicht gepasst hat, haben wir das ganze Institut besetzt und den kompletten Lehrbetrieb lahmgelegt.
Roth: Und was hat das gebracht?
Grau. Eine ganze Menge. Wir haben gelernt, dass man sich nicht alles gefallen lassen muss. Dass man sich wehren kann. Dass man Strukturen verändern kann.
Roth: Verstehe ich nicht. Welche Strukturen habt ihr denn geändert?
Grau: Gute Frage. Wenn ich so darüber nachdenke, hat sich an der Uni und in der Stadt nicht allzu viel verändert. Wir haben dann alle nach der Uni angefangen zu arbeiten und haben unsere Ideen umgesetzt. Umweltschutz, erneuerbare Energien, veränderte Lehrpläne an den Schulen und manche sind in der Uni geblieben.
Roth: Aber eigentlich ist alles beim Alten geblieben, oder? Ich meine, eine Revolution sieht anders aus.
Grau: Revolution ist ein großes Wort. Meine Erzieherin hat schon 1968 von der Revolution geredet, als ich noch im Kindergarten war. Die haben es auch nicht geschafft. Es geht um Veränderungen, verstehen Sie? Wenn man jung ist, will man alles ganz schnell. Aber Veränderungen brauchen Zeit.
Roth: Aber im Augenblick verändert sich doch alles zum Schlechten. Die Erde wird zerstört, die Menschen werden wie Dreck behandelt, Bonzen und Nazis schießen wie Pilze aus dem Boden.
Grau: Geht mir genauso. Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden. Aber was sollen wir machen?
Roth: Eine Revolution! Die ganze Scheiße in Schutt und Asche legen. Die verdammten Kapitalistenschweine an die Wand stellen. Pest und Verderben, Deutschland verrecke!
Grau: Das wollten wir ja damals auch. Feuer und Flamme für diesen Staat.
Roth: Und?
Grau: Wir haben es nicht geschafft. Und jetzt ist es zu spät. Ich habe zwei Kinder. Es hat mich zwölf verdammte Jahre gekostet, das Reihenhaus abzubezahlen.
Roth: Für mich ist es nicht zu spät.
Grau: Aber mit euren Online-Petitionen und Alibi-Demos kommt ihr doch auch nicht weiter.
Roth: Ich weiß. Wir brauchen dringend ein paar neue Ideen.
Grau: Ich bin schon gespannt.
Roth: Mit euch Alten ist jedenfalls nicht zu rechnen, das merke ich schon. Bequem und saturiert. Mit Pensionsberechtigung.
Grau: Ich bin 52 und Diabetiker. Was soll ich sagen?
Roth: Schon gut. Kann ich hier rauchen?
Grau: Wäre nicht so toll. Wir sind eine Nichtraucherfamilie und in dem Wagen fahren auch meine Kinder mit.
Roth: Kein Problem.
Grau: Danke.
The Unknown Cases – Masimbabele. https://www.youtube.com/watch?v=WQGk8qbb258

Freitag, 17. April 2015

US-Truppen in der Ukraine

In dieser Woche wurden 300 Fallschirmjäger der 173rd Airborne Brigade in die Ukraine verlegt. Name der Operation: Fearless Guardian.
Quelle: Die offizielle Homepage der U.S. Army. Den deutschen Medien war es selbstverständlich keine Meldung wert.
http://www.army.mil/article/146549

News-Update Thai Story 2

„Ich denke, die Wahrheit ist wie eine im Sand versunkene Stadt. Je mehr Zeit vergeht, desto tiefer wird sie vom Sand begraben.“ (Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki)
Thailand muss einmal ein Paradies gewesen sein, bevor die Amerikaner kamen. Sechziger Jahre, Vietnamkrieg. Es wurde nicht nur in Vietnam gekämpft, sondern auch in Kambodscha und Laos. Inoffiziell. Das alte Königreich Siam war jedenfalls ein Hort des Friedens in Südostasien, in dem sich GI Joe von den endlosen Scharmützeln mit dem Vietcong erholen konnte. Die US Army hat Saigon in den größten Puff der Erde und in eine Drogenhölle verwandelt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nur das Publikum ist inzwischen international geworden und an der Hotelbar prahlt ein deutscher Lkw-Fahrer, dass er für zehn Euro „richtig geil“ einen geblasen bekommen hat. Smoke my dick, wie es im Thai-Pidgin heißt, das auch der deutsche Hauptschulabsolvent mit Führerscheinklasse CE schnell gelernt hat.
Habe ich eine dieser unschuldig aussehenden Thai-Frauen zu einer unsittlichen Handlung verführt? Zur Erinnerung: Ich habe mich über meinen Facebook-Account, den ich unter Pseudonym (eine meiner Romanfiguren) angelegt habe, gegenüber einer Urlaubsbekanntschaft eines Freundes als Immobilienmakler aus Berlin ausgegeben, der im nächsten Monat geschäftlich in Bangkok zu tun hat, im Siam Kempinski residieren wird und für eine Woche eine Frau sucht – „Full-time-service“. Das ist im Thai-Pidgin schon recht eindeutig. Der short-time-service ist entweder hand-job, blow-job oder bum-bum. Sie hat mir geantwortet, dass sie mich kennenlernen möchte. Das war verdächtig. Dann fragte sie mich aber, was sie für meine Firma machen soll. Ich schrieb ihr zurück: Escort-Service and more if you know what I mean. Smiley. Außerdem habe ich mein Angebot auf 40.000 Bath, also umgerechnet 1200 Euro, erhöht. Darauf hat sie bisher nicht geantwortet. Mein Freund will explizit wissen, ob sie für Sex käuflich ist. Er will den rauchenden Colt sehen. Den ultimativen Beweis. Schriftlich. Ich habe „den Schweden“ kontaktiert. Netter Kerl übrigens. Er hatte keinen Sex mit ihr.
Ist sie also doch keine Nutte? Vielleicht. Hat sie andere Einnahmequellen als den Job als Coyote-Tänzerin in einer Strandbar? Wahrscheinlich. Ist sie auf der Suche nach einem Sugar-Daddy, nach dem Exit aus ihrem bisherigen Leben? Diese These erscheint mir und meinen Beratern hochplausibel. Spielt sie ein Spiel mit den Männern? Spielen wir ein Spiel mit ihr? Wer ist die mieseste Ratte am Pokertisch? Fortsetzung folgt.

Das Praktikum

Die gesellschaftliche Funktion des Praktikums ist einfach zu erklären: Nur Kinder von Besserverdienenden können es sich finanziell leisten, Praktika zu absolvieren. Die Eltern aus der Unterschicht können es sich nicht leisten, ihren Nachwuchs auch nach dem Studium noch jahrelang durchzufüttern. Es ist eine Art Versorgungsmarathon, den nur die wohlhabenden Familien durchstehen können. So wird gewährleistet, dass ausschließlich Angehörige der oberen Mittelschicht und der Oberschicht die lukrativen Posten in den Unternehmen bekommen. Man bleibt auf diese Weise unter sich. Erwünschter Nebeneffekt: Das obere Management bleibt – bis auf ein paar Ausnahmen zur Imagepflege und zu Repräsentationszwecken - migrantenfrei.
David Bowie - Golden Years. https://www.youtube.com/watch?v=TKUy6ygUgP0

Donnerstag, 16. April 2015

Ich kann nicht mehr

„Die Zeit wird kommen, wo unsere Nachkommen sich wundern, da wir so offenbare Dinge nicht gewusst haben.“ (Seneca)
Ja, ja, ich weiß. Ich kann es auch nicht mehr hören. Griechenland. Hängt mir zum Hals raus. Will ich gar nicht mehr wissen. Die armen Leute, die bösen Bonzen, die fiesen Banker und die unfähigen Politiker. Schon tausend Mal gehört, tausend Mal ist nix passiert. Deswegen mache ich es kurz:
Hätte-Hätte-Fahrradkette man vor fünf Jahren, als Griechenland schon pleite war, das Land einfach Bankrott gehen lassen – es wäre besser gewesen. Eine heilsame Lektion in Sachen Marktwirtschaft. Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Aber so ist das Leben nun einmal. In Deutschland wären nach Auskunft von Insidern (die ich kenne und Sie nicht, kleiner Scherz am Rande) die Commerzbank und die HVB kollabiert, sie hätten im Zuge ihres Bankrotts zahlreiche Unternehmen mit in den Abgrund gerissen. Eine Kettenreaktion, die Deutschland nach dem Absturz 2009 gleich die nächste Krise beschert hätte. Frankreich, Italien und vielen anderen Ländern wäre es ähnlich ergangen.
Aber mal im Ernst: Hätte so ein Schock nicht eine gewaltige pädagogische Wirkung in ganz Europa, möglicherweise sogar weltweit entfalten können? Wir hätten erkennen können, dass Marktwirtschaft auch seine negativen Seiten hat, dass etwas schief gehen kann und dass der Markt allein kein Allheilmittel für alle organisatorischen Fragen einer Gesellschaft sein kann. Wir hätten in der Krise einen Teil unseres Wohlstands verloren, aber eine wertvolle Erkenntnis gewonnen: Manches überlässt man dem Markt (Kartoffeln zum Beispiel), manches überlässt man dem Staat (Bildung zum Beispiel). Wir wären vielleicht sogar zur sozialen Marktwirtschaft meiner Kinder- und Jugendtage zurückgekehrt.
Wer erinnert sich noch an die Zeit vor Helmut Kohl und seiner „geistig-moralischen Wende“, die mit Geist und Moral nie etwas zu tun hatte, sondern immer nur mit Geld und Macht? Ich war damals in den Ferien oft im Betrieb meiner Eltern, weil beide berufstätig waren und ich nicht alleine zu Hause bleiben sollte. Meine Eltern arbeiteten in verschiedenen Teilen eines riesigen Industriebetriebs mit qualmenden Schornsteinen und tausenden Arbeitern in verschiedenfarbigen Kitteln. Innen drin ging es aber sehr gemütlich zu. Man kannte sich, man hielt ein Schwätzchen, wenn man sich auf dem Flur traf, in der Schreibtischschublade lagerten Schnaps- und Weinvorräte und die Kioske boten kaltes Bier. Jeder Geburtstag oder meinetwegen der Namenstag des Hundes wurde in der Abteilung ausgiebig gefeiert. Da ging nach der Mittagspause gar nichts mehr. Und die Mittagspause war lang, weil die Leute erst mal ein Nickerchen gemacht haben, nachdem sie aus der Werkskantine gekommen waren. Ich selbst bin den ganzen Tag in der Abteilung herumgestromert, habe mir alles angeschaut und durfte das Kopiergerät bedienen, das ich damals ganz toll fand. Zwanzig Kopien von meiner linken Hand? Warum nicht? Alle Menschen waren nett zu mir und hatten Zeit für mich, wenn ich in ihre verqualmten Büros gekommen bin.
Das Leben war vor vierzig Jahren nicht schlechter. Wir lebten damals genauso gut wie heute. Wesentliche Dinge wie Pommes frites oder Orangenlimonade waren bereits erfunden. Ich habe nicht den Eindruck, dass der Wohlstand seitdem gestiegen wäre. Es gibt einen Haufen neuen Schnickschnack wie Smartphones oder Wochenendreisen nach Rom, aber das gute Gefühl, ein angstfreies und gemütliches Arbeitsleben mit netten Kollegen zu verbringen, ist verschwunden. In die Firma, in der meine Eltern gearbeitet haben und noch heute meine Schwester arbeitet, sind übrigens Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal die Unternehmensberater gekommen. Plötzlich hingen Parolen an der Wand: „Vision and Leadership“. Mit den Parolen kam die Kürzung des Weihnachtsgelds – schließlich mussten die Unternehmensberater ja bezahlt werden. Ich habe es als Werkstudent noch miterlebt. Mann, bin ich froh, dass ich heute Schriftsteller bin.
Dion & the Belmonts - Na na hey (kiss him goodbye). https://www.youtube.com/watch?v=EOVC3ELpeTY

Mittwoch, 15. April 2015

Trollfabrik ARD

Was waren das noch für Zeiten, damals in meiner Jugend. Wenn die „Schwarzwaldklinik“ oder „Wetten, dass …?“ kam, waren um die 25 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher. In der alten Bundesrepublik wohlgemerkt - Zuschauer in der DDR, Österreich und der Schweiz nicht mitgezählt. Fernsehserien, über die ganz Deutschland spricht, gibt es nicht mehr. Und die Wett-Show hatte am Ende noch fünf Millionen Zuschauer, dann wurde sie beerdigt. Nur die Fußballnationalmannschaft schafft noch solche Einschaltquoten – wenn sie in großen Turnieren mindestens das Halbfinale erreicht.
Ich habe mir mal die Quoten angeschaut, die vorgestern erreicht wurden. Auf Platz 1 ist die Tagesschau. Mit gerade einmal fünf Millionen Zuschauern. In einem Land mit über achtzig Millionen Einwohnern. Auf Platz 2 ein Film mit drei Millionen Zuschauern. Traurige Werte. Rechnet man die Quote auf die Gesamtzuschauerzahl hoch, so haben um 20 Uhr, als die Tagesschau begann, insgesamt knapp dreißig Millionen Menschen vor dem Fernseher gesessen. Zur besten Sendezeit. Was machen die anderen fünfzig Millionen? Eine andere Frage: Wie werden die Quoten erhoben? Es sind ausgewählte Haushalte, die von der GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) im Auftrag der „Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung“ - dahinter verbergen sich die großen privaten und öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten – zu ihrem Fernsehkonsum befragt werden. Es sind fünfttausend Haushalte mit etwa 10.500 Personen, die für eine angeblich repräsentative Erhebung ausgewählt wurden. Aufgrund dieser Daten wird die Reichweite ermittelt, die natürlich erheblichen Einfluss auf die Werbeeinnahmen der Sender hat. Die Sender ermitteln die Daten zu ihrer Reichweite also selbst, es gibt keine unabhängigen Daten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Ob die Mediadaten manipuliert sind, kann uns egal sein. Dann wird eben ein Waschmittelhersteller oder eine Bank verarscht und abgemolken. Kein Mitleid. Etwas anderes ist die Manipulation der Inhalte. Gestern Abend gab es in den ARD-Tagesthemen mal wieder einen Bericht über Putins Internet-Trolle, die das böse Internet, das eine ständig wachsende Zahl von Nutzern von den Old School-Medien (die sich selbst früher etwas hochnäsig als „Leitmedien“ bezeichnet haben) weglockt, inzwischen völlig im Griff zu haben scheinen. Inkasso-Iwan holt sich inzwischen auch deine Meinung. Aufpassen, deutscher Michel! Tatsächlich war es wieder einmal derselbe Troll, der auch schon durch die Printmedien gegeistert ist. Die gesamte Berichterstattung der letzten Wochen basiert also auf der Aussage eines einzigen Russen. Eines Russen! Hallo?! Kann man ihm trauen? Und er ist mit Bild und vollem Namen ständig in den Medien, hetzt gegen Putin – und lebt noch? Wenn der Typ echt wäre und die Russen so fies, wie sie in den Medien dargestellt werden – warum treibt seine von Kugeln durchsiebte Leiche noch nicht auf der Wolga?
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich vermute, dass Putin Trolle einsetzt. Ich vermute, dass die Amerikaner Trolle einsetzen. Ich vermute auch, dass die Amerika-Versteher in der ARD, dem ZDF, im Spiegel und der Bild, in der Zeit und im Focus derlei Personal beschäftigt und damit zur erfreulich niedrigen Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland beiträgt. Auch die Unternehmen beschäftigen Leute, die freundliche Kommentare zu ihren Produkten abgeben. Warum sollte das Internet besser sein als die Gesellschaft, die es nutzt? Menschen, ob Journalisten oder Damenschuhverkäufer, werden nicht ehrlicher oder liebenswürdiger, wenn sie online sind. Aber wenn die Trolle so primitiv sind wie in der ARD, wenn sie den Zuschauer für so dämlich halten, dass er die Sache nicht durchschaut, müssen sie sich nicht wundern, wenn – parallel zu den sinkenden Auflagen der Printmedien (Focus verkauft wöchentlich noch 75.000 Exemplare am Kiosk, die Bild verliert jedes Jahr gut zehn Prozent ihrer Leser) – die Zahl der Fernsehzuschauer weiter sinkt.
Fazit: Die politische Berichterstattung im Fernsehen kann man sich längst schenken. Ich akzeptiere von den sogenannten Leitmedien noch die Sportnachrichten, die Wettervorhersage (manchmal) sowie die allgemeinen Nachrichten über Verkehrsunfälle und Grubenunglücke, Hochzeiten und Todesfälle im VIP-Bereich usw.
Talk Talk - Such a Shame. https://www.youtube.com/watch?v=-12qAAsnSpM

Dienstag, 14. April 2015

Blogstuff 1

“No matter how bad things get they always get better. And then they get worse. Then better again. Then worse again. You see the pattern.” (God@twitter)
„Alles Schöne macht uns friedlich. Das Hässliche schürt den Hass. Seht euch die Behausungen der Armen an! Seht euch die operierten Gesichter der Reichen an!“ (Jesaja, 13/24)
„Man muss erst aufstehen, um sich widersetzen zu können.“ (Graffito)
Wie günstig Lebensmittel doch geworden sind. Um 1900 kostete ein Kilo Schweinefleisch 1,50 Mark, heute fünf Euro. Damals hat ein Hafenarbeiter 61 Mark im Monat verdient, das entspricht eine Menge von gut 40 kg Fleisch. Heute verdient er etwa 1800 Euro netto, das entspricht 360 kg Fleisch. Damals kostete der halbe Liter Bier 12 Pfennige, der Arbeiter hätte von seinem Einkommen also über 500 Flaschen kaufen können. Heute, wenn man 60 Cent pro Flasche rechnet, bekommt er 3000 Flaschen für sein Geld.
„Am Anfang ist man ein Niemand und hat große Träume. Dann hört die Sache mit dem Träumen auf. Am Ende freut man sich über eine Bockwurst mit Kartoffelsalat. Keiner wurde jemals Astronaut oder Prinzessin.“ (Johnny Malta)
Eine tolle Seite: http://www.sloganizer.net/ So bin ich zu den großartigen Slogans „Appetit auf Darmbakterien?“, „Hitler will keiner missen“, „Kiezschreiber erreicht die Grenzen des guten Geschmacks“ und „Merkel - Irgendwann ist der Spaß vorbei“ gekommen. Was wäre ich ohne das Internet? Einfach mal ausprobieren!
Werbung: Neu von Apple, in Zusammenarbeit mit NSA und BND: Das Kinderüberwachungsei. Spiel, Spaß, Spionage, Schokolade.
Pink Floyd - Astronomy Domine. https://www.youtube.com/watch?v=pJh9OLlXenM

Auswärtsspiel: Weddingweiser 4

Es wird gruselig. Eine Hinrichtung auf dem Gartenplatz …
https://weddingweiser.wordpress.com/2015/04/13/gartenplatz-ort-fur-schauergeschichten/

Montag, 13. April 2015

News-Update Thai Story 1

Folgende Mail habe ich gerade an diverse Freunde verschickt. Das Medien-Business ist unglaublich dreckig und verkommen, finden Sie nicht auch?
„Rate mal, wer Kontakt mit "dem Schweden" aufgenommen hat? Und was bei einem ausführlichen Chat rausgekommen ist? Nächste Frage: Welcher Berliner Real Estate Manager hat gerade im Siam Kempinski in Bangkok eingecheckt? Wem bietet er 30.000 Bath für "Long-time-service", also eine Woche inklusive Golfball und Gartenschlauch?
Ich fürchte, ich muss mit dem Preis ein wenig raufgehen. Pizza und Bier reichen da nicht mehr. Was hälst du von 50 Euro für ein paar wirklich äußerst aufschlussreiche Informationen (talk-job)?
Ein Sith-Lord aus Schweppenhausen, der es gut mit dir meint“
Für das, was ich in den letzten 24 Stunden gesagt und getan habe, werde ich ganz sicher in die Hölle kommen. Aber wissen Sie was? Es war es mir wert.

„SS-Günther tot aufgefunden“ (BILD)

Ab morgen sind die Schaufenster aller Buchhandlungen schwarz dekoriert. Die Feuilletons sind im Nachruffieber. Die Druckerpressen laufen heiß, die Großhändler schicken gerade ganze Wagenladungen „Blechtrommel“ usw. auf den Weg. Die meisten Käufer werden den Roman nicht durchhalten. Er ist furchtbar. Ich habe auf Seite 60 oder 70 aufgegeben.
Jetzt steht Andy Bonetti in der deutschen Literaturszene allein auf weiter Flur. Ungebeugt, aufrecht. Die deutsche Sperrholzplatte. Oder so. Wir werden es von Franz Josef Wagner erfahren. Gebt ihm ein Glasfläschchen für seine Krokodilstränen, einen Stift und seinen Schnaps.
P.S.: Tatsächlich bekomme ich wenige Stunden nach Bekanntwerden des Grass-Ablebens eine Mail von einem befreundeten Buchhändler, der für eine namhafte, bundesweit vertretene Buchhandelsgesellschaft arbeitet. Er habe die Nachricht von den Verlagen schon vor den Nachrichtenagenturen erhalten und sich gleich bei Steidl und dtv eingedeckt. Schon Minuten nach Veröffentlichung der Meldung durch die Agenturen und die Medien hätte man nichts mehr bestellen können. Der Mechanismus der deutschen Wirtschaft funktioniert einwandfrei.

Ein Teufel namens Liebe

„Der Weise hat niemals Mangel.“ (Heliodoros: Die Abenteuer der schönen Chariklea)
Das Leben ist für einen Schriftsteller unerschöpflich. Er muss den wahren Geschichten kein einziges Nanogramm an Phantasie oder Übertreibung hinzufügen. Seine Aufgabe ist es, den Rohstoff zu fassen, dem Material eine Fassung aus Worten zu geben, es zu bändigen, zu bewältigen, obwohl man für diesen Stoff wahrlich die Hände eines Riesen bräuchte … - wo soll ich anfangen?
Am Sonntag war ich mit einem Reporter im Wald spazieren und anschließend eine Pizza essen. Die Geschichte, die er mir erzählt hat, ist viel besser als seine ganzen Reportagen, die jemals über den Sender gegangen sind. Diese Geschichte kann er nicht öffentlich erzählen, dazu braucht man gute Freunde, frische Luft und die Einsamkeit des Waldes. Er ist gerade von einem dreimonatigen Thailandaufenthalt zurückgekommen. Er war dort nicht aus gesundheitlichen Gründen oder in kultureller Absicht, offen gestanden ging es ihm um Sex. Seine Frau hat sich von ihm getrennt und lebt jetzt mit einem Beamten zusammen, von dem sie im Herbst ein Kind erwartet. Und in Thailand gibt es Bars, wo zungenfertige *Pfeifton*, während man am Tresen sitzt, dein *Pfeifton* aus der Hose holen und dir *Pfeifton*, dass dir Hören und Sehen vergeht. Quasi wie mit dem Golfball, der durch einen Gartenschlauch angesaugt wird. Durch kleine Löcher in der Vertäfelung unterhalb der Theke. Hat er jedenfalls erzählt.
Aber im letzten Monat seines Urlaubs hat er eine Frau kennengelernt, die „ganz anders“ war, wie er mir erzählte. Und als erfahrener Zuhörer weiß ich: Wer von einer Frau erzählt, die angeblich ganz anders ist als alle anderen Frauen, steht bereits mit einem Bein in der Hölle. Er brauchte volle zwei Wochen, um sie das erste Mal ins Bett zu bekommen. Er hat sich in sie verliebt. Sie hat sich in ihn verliebt. Sagt sie. Er wurde sogar ihren Eltern in einem Dorf vorgestellt, das viele Kilometer von seinem Strandhotel entfernt war. Sie hat studiert und ist eine ausgebildete Grundschullehrerin. Jetzt hat sie ein Besuchsvisum beantragt und möchte zunächst für zwei Monate nach Deutschland kommen. Das ist gar nicht so einfach. Wenn wir nach Thailand wollen, gehen wir ins Reisebüro und fertig ist die Laube. Wenn Sie als Thailänder nach Deutschland wollen, brauchen Sie einen Deutschen, der für Sie bürgt. Sie müssen bei der deutschen Botschaft in Bangkok einen Antrag stellen, wobei man nicht nur Ihren Beruf, Ihr Einkommen und Ihr Vorstrafenregister überprüft, sondern zum Beispiel auch Kontoauszüge sehen will. Am Ende der Prozedur steht ein persönliches Bewerbungsgespräch in der Botschaft. Und selbst dann kann man noch ohne Angabe von Gründen abgelehnt werden. Aber das nur am Rande.
Er hat sich also im Urlaub in eine Thailänderin verliebt und jetzt kommt sie zu ihm nach Deutschland. Bei mir klingeln sämtliche Alarmglocken und ich spiele bei diesem Spaziergang und später beim Essen den Advocatus Diaboli. Du selten dämlicher *Pfeifton* *Pfeifton* *Pfeifton*, für diese Frau bist du doch nur ein wandelndes Portemonnaie. Sie finden das zynisch? Hören Sie sich an, welche Informationen ich im Laufe mehrerer Stunden aus ihm herausgeholt habe: Seine Angebetete arbeitet derzeit als rudimentär bekleidete Coyote-Tänzerin in einer Reggae-Bar am Strand und hat operierte Riesenbrüste. Er hat sie bei einem Gespräch mit einem Kunden belauscht, bei dem es um die Preise für Sex mit den Tänzerinnen ging. Sie sind nach „Hand-Job“, „Blow-Job“ und „Bum-Bum“ gestaffelt, wobei „Bum-Bum“ 4000 Baht, also umgerechnet 120 Euro, kostet (zum Vergleich: eine Grundschullehrerin verdient 6000 Baht im Monat). Als er sie darauf ansprach, sagte sie ihm, sie hätte den Kunden nur die Preise anderer Tänzerinnen genannt. Sie selbst sei keine Prostituierte. Sie hätte erst zwei feste Freunde in ihrem Leben gehabt. Sie ist 28 Jahre alt. Sie zahlt eine Eigentumswohnung und ein Auto per Leasing-Vertrag ab, allein diese Fix-Kosten betragen 15000 Baht monatlich.
Jetzt kommt sie nach Deutschland. Obwohl sie mit ihm nur wenige Wochen in Thailand verbracht hat, möchte sie ein Kind von ihm. Ich finde das Tempo recht sportlich. Apropos sportlich: Sie benimmt sich im Bett wie eine erfahrene Prostituierte, erzählt er mir. Selbstverständlich ist ihre Landebahn rasiert. Freunde, die thailändisch sprechen, versicherten ihm, dass sie wie eine Prostituierte reden würde. Andere Menschen in Thailand warnen ihn vor dieser Frau. Aber er ist verliebt. Er kann sich eine Familie mit ihr vorstellen. Ich rechne ihm vor, dass allein ihr zweimonatiger Besuch ihn fünftausend Euro kosten wird: Flug, Shopping, Essen gehen. Sie wird ihn ausnehmen wie eine Weihnachtsgans. Sie tanzt halbnackt in einer Bar – und mit dreißig ist man bei diesem Job schon alt. Vielleicht ist das ihre Exit-Strategie? Ein deutscher Sugar-Daddy, dem ein paar Eigentumswohnungen gehören. Warum nicht?
Sie schwört, sie hätte noch nie als Prostituierte gearbeitet. Sie hat ein Facebook-Profil mit 5000 Freunden, meist thailändische Männer. Sie postet nichts in ihrem Account, chattet aber täglich stundenlang. Ich vermute, dass sie als Cam-Girl im Internet unterwegs ist oder selbstgedrehte Pornos vertreibt. Als er bei Facebook seinen Beziehungsstatus ändert und öffentlich macht, dass er mit ihr zusammen ist, bittet er sie, ihren Single-Status auch zu ändern. Sie weigert sich. Als die beiden skypen, legt sie ihm – es ist ihr Vorschlag! - einen professionellen Striptease hin, während er im Hintergrund etwa alle dreißig Sekunden ein elektronisches Piepen hört. Als er sie danach fragt, sagt sie, das seien Job-Angebote. Entweder ist der thailändische Arbeitsmarkt am Rande der Vollbeschäftigung oder sie hat ihm einen Bären aufgebunden. Diese Frau ist ein Rätsel. Ich werde sie hoffentlich bald kennenlernen und bin schon sehr gespannt, wie diese Geschichte weitergeht.
Und bei all diesen Fakten frage ich mich, wo sein journalistischer Instinkt und seine Fähigkeit zur Analyse von Informationen geblieben sind. Was ist los mit dir, *Pfeifton*? Du hast eine teure Scheidung mit einer Russin vor dir und reitest dich mit einer Thailänderin gleich wieder in die Scheiße? Wir sind in einem Alter, in dem die emotionalen und finanziellen Wunden nicht mehr so schnell heilen. Hör nicht auf den Teufel der Liebe, hör auf den Mann, der die Geschichten erzählt …
P.S.: Mein armer Kumpel hat heute Nacht ein Foto, das ihn zusammen mit ihr zeigt, mit ein paar netten Liebesworten in ihrem Facebook-Account gepostet. Sie hat es sofort gelöscht. Und ich habe ihr eine Freundschaftsanfrage geschickt und bin jetzt ihr Facebook-Freund. Habe zum Beispiel gelesen, dass sie gestern einen Mann in Schweden angeschrieben hat: “Where r u?“ Weitere News-Updates folgen.
Robert Palmer – Addicted To Love. http://www.youtube.com/watch?v=XcATvu5f9vE

Sonntag, 12. April 2015

Wie es enden wird

„An dem Punkt, wo der Spaß aufhört, beginnt der Humor.“ (Werner Finck)
Grandiose Hypothese: Ich bin Gott. Mit meinem Tod lösche ich das gesamte Universum aus.
Wer mich in einer Telefonwarteschleife nervt, spielt mit seinem Leben. Und mit dem Leben an sich.
Wer mich an der Supermarktkasse nicht vorlässt, obwohl ich nur eine Flasche Bourbon in der Hand habe, riskiert ein Inferno.
Menschen, die dumme Fragen stellen, provozieren den Opfertod der gesamten Gesellschaft.
Busfahrer, die nicht auf einen Zehn-Euro-Schein herausgeben können, legen Feuer an die Wurzeln unserer Zivilisation.
Fernsehsender, die zur schönsten Abendstunde Rosamunde-Pilcher-Filme zeigen, betteln um ihre Vernichtung.
Deine Welt besteht aus Fahrradhelm, Riesterrente und vegetarischem Brotaufstrich? Du bist zum Scheitern verurteilt, denn ich bin Gott! (wird fortgesetzt)
Blondie - Heart of glass. https://www.youtube.com/watch?v=gbnbMMCfyoc

Samstag, 11. April 2015

Der Schatz von Arcadia

„Sie erinnerte sich an die wunderbaren Lügen ihrer Kindheit, als sie sich eine Muschel ans Ohr hielt, die sie vom Urlaub am Meer mitgebracht hatte. Ihre Mutter hatte ihr damals erzählt, in dieser Muschel könne man das Meeresrauschen hören.“ (Andy Bonetti: Abschied von Delmenhorst)
Dichter Nebel lag über den Hügeln und die Zinnen einer Burgruine ragten grau und pathetisch aus dem milchigen Dunst. Der Kulissenmaler hatte ganze Arbeit geleistet. Es würde eine wundervolle Szene werden, bewegend, rührend. Ein angemessener Schluss, der den Kinozuschauer mit einem Gefühl von Stolz und Zufriedenheit über die gemeinsam bewältigten Abenteuer erfüllen sollte. John Hart war bereits in diesem Augenblick stolz und zufrieden. Ein schwieriger Drehtag lang hinter ihm. Sie hatten in einer unübersichtlichen Kulisse eine Dschungelszene mit echten Pavianen gedreht. Dafür mussten mehrere Kameras eingesetzt werden, denn einem Zuschauer konnte man es in den dreißiger Jahren unmöglich zumuten, eine Horde kreischender Affen direkt auf sich zukommen zu sehen.
John Hart hieß in Wirklichkeit Ambrose Plantagenet und verdankte seinen schauspielerischen Erfolg seinem edlen britischen Akzent, der vermuten ließ, er sei ein Oxford-Absolvent, aber ausschließlich das Ergebnis harten Trainings war, und seinen kantigen Gesichtszügen, die von einem winzigen Grübchen in seinem Kinn gekrönt wurden. Die Sonne Kaliforniens hatte sein Gesicht braun gebrannt. Über seinen Schultern lag ein leichter hellblauer Pullover, dessen Ärmel über seiner breiten Brust verknotet waren.
Als er das Studio betrat, hatte er sofort Rosetta Stone erblickt, die bereits an einem der langen Tische saß und ihn anlächelte. Sie war seine Filmpartnerin und war noch am Nachmittag mit einem formvollendet gespielten Ohnmachtsanfall in seine Arme gesunken. Als er gerade zum Buffet hinübergehen wollte, stellte sich ihm ein hagerer kleiner Mann in den Weg. Harold Falterman, der Regieassistent. Der King of Kassengestell mit seinem bemerkenswert unmarkanten Kinn. Eine jener unsichtbaren Existenzen, die wie Kobolde ihre Arbeit verrichteten, ohne von anderen jemals auch nur bemerkt zu werden.
„Mister Hart. Kann ich Sie kurz sprechen? Wir hatten das Thema schon einige Male in den vergangenen Tagen. Die ersten Szenen sind ja schon entwickelt und Mister Kensington hat sie sich angeschaut. Sie sind bei den Nahaufnahmen zu oft im Halbprofil, sie sollten knapp an der Kamera vorbeischauen. Sonst ist ihr Gesicht nicht richtig ausgeleuchtet.“
George Kensington, der übergewichtige Regisseur mit dem gewaltigen Glatzkopf. Reverend Rainmaker, wie er in Hollywood wegen der großen Erfolge seiner Filme genannt wurde. Der Mann, der den „Schatz von Arcadia“ zu einem Kassenknüller machen würde. Der aber leider nicht kapierte, dass John Harts dramatisches Heldengesicht erst richtig zur Geltung kam, wenn eine Hälfte im Schlagschatten seiner langen schmalen Nase lag.
„Ist Ihnen dieses Profil recht?“ fragte er den Regieassistenten und drehte ihm den Rücken zu. Am Tisch der Schauspieler lachten alle, als er Falterman einfach stehen ließ und zum Buffet ging.
Als er seinen Teller gefüllt und sich einen Becher Kaffee geholt hatte, setzte er sich neben Rosetta Stone. Sie kam aus Kansas, einem der vielen Staaten im Herzen Amerikas, aus denen sich ein unaufhörlicher Strom von sensationell dämlichen Typen und sagenhaft schöner Frauen an die Landesküsten ergoss. Ihr wirklicher Name war Betty Kowalski und sie hatte nicht den blassesten Dunst, was Rosetta Stone bedeutete oder was sie nach Abschluss der Dreharbeiten machen würde.
Sie strahlte ihn mit ihren hellgrünen Augen an. „Du warst wunderbar heute, John. Ich hatte wirklich ein wenig Angst vor diesen Affen.“
Hart grinste. „Du musst dich vor Leuten wie Falterman nicht fürchten. Ende des Monats ist Weihnachten. Ich werde ihm am Boxing Day ein Bild von uns beiden schenken." Der 26. Dezember wurde Boxing Day genannt, an diesem Tag bekam traditionell das Dienstpersonal seine Weihnachtsgeschenke von den Herrschaften und durfte Weihnachten feiern, da es ja am 25. seinen Dienstpflichten nachzukommen hatte.
„Was machst du an Weihnachten, John?“
Er sah ihr tief in die Augen. „Mit dir am Strand von Santa Barbara feiern, wenn du möchtest.“
Sie nickte lächelnd.
Bauhaus - She's In Parties. https://www.youtube.com/watch?v=QCg4i1f_oDY