Dienstag, 27. Juni 2017
Das kleine Tier
Ich beobachte schon eine ganze Weile ein winziges Insekt auf meinem Schreibtisch. Wo will es hin? Was hat es vor? Das finde ich ja immer spannender, als dem Primateninstinkt zu folgen, und das Tierchen zu jagen oder in seinem Weg zu beeinflussen.
Die meisten Tiere sind den ganzen Tag unterwegs, schauen sich um und freuen sich, wenn sie etwas zu futtern finden. Unser Leben ist dagegen langweilig. Wenn wir Hunger haben, gehen wir zum Kühlschrank. Wenn der Kühlschrank leer ist, gehen wir zum Supermarkt.
Dieses kleine Tier läuft morgens los und mitten hinein ins Abenteuer. Es hat keine Ahnung, was den ganzen Tag über passieren wird. Keine Termine, keine Uhr, kein Kalender. Es folgt einfach der Lust zu essen und der Lust sich auszuruhen. Wer weiß? Vielleicht trifft es auch ein anderes kleines Tier und die beiden mögen sich?
Sonntag, 25. Juni 2017
V 3
Am nächsten Morgen kam ich mit fünfhundert Euro, einem veritablen Kater und einer mehrfach verlorenen Unschuld ins Antiquariat. V lächelte unverschämt, als er mich sah, unterließ aber jede Form von Kommentar.
Er war mit den Geschäften zufrieden, die komplette Fachliteratur, etwa viertausend Bücher, hatte er an einen Händler für die Pauschalsumme von viertausend Euro verkauft. Zusammen mit den Einnahmen vom Vortag waren neunzig Prozent seiner Kosten gedeckt, er konnte Aufsesser das Geld überweisen und es blieben ihm noch 1800 Romane, Anthologien und Lyrikbändchen für den weiteren Verkauf.
Es kehrte wieder Ruhe ein und ich konnte es kaum erwarten, nach Geschäftsschluss mit meinen Bonettis nach Hause zu gehen, um sie in Ruhe zu studieren. „Meer ohne Salz“ und „Wüste ohne Sand“, ohne die das Œuvre des Meisters nicht zu denken wäre. Es handelt sich dabei um fiktive Fortsetzungen von Hans Henny Jahnns „Fluss ohne Ufer“. Angeblich gab es noch „Frikadelle ohne Fleisch“ und „CDU ohne Programm“, aber das waren nur satirische Fake News irgendeines Online-Magazins.
Endlich war es soweit. Ich trug meinen Schatz in mein Arbeitszimmer und machte mir eine große Tasse Irish Coffee mit ganz wenig Kaffee. Dann begann ich, im ersten Band zu blättern. „Meer ohne Salz“. Der Schnitt des Buches hatte die Patina von altem Elfenbein angenommen, aber die Seiten hafteten noch leicht aneinander. Ein Zeichen, das Professor Aufsesser es nicht gelesen hatte. Auf dem Vorblatt stand eine Widmung, die mit dunkelblauer Tinte geschrieben war: „Viel Vergnügen bei der Lektüre, F. S.“.
Genüsslich schlürfte ich die Tasse leer und vertiefte mich in die erste Kurzgeschichte. Es ging um eine Bande von Grabräubern, die in Bad Nauheim ihr Unwesen trieb. Dann blätterte ich nach hinten, wo das Inhaltsverzeichnis war. Da entdeckte ich eine Zahlenfolge, die auf der Innenseite des Einbands stand: 210341365. Sie war mit Bleistift geschrieben.
Was hatte das zu bedeuten? War ich auf ein Geheimnis gestoßen? War es ein Code? Eine Schließfachnummer? Eine Telefonnummer? Ich nahm mein Handy und tippte die Nummer ein. Ich hörte nur eine Bandansage: „Willkommen bei den Mystery Men. Sie versuchen, uns zu kontaktieren? Wir werden Sie finden. Wir werden alles über sie erfahren.“ Dann war ein Wolfsheulen zu hören. Warum hört man eigentlich nie ein Besetztzeichen, wenn man wildfremde Leute anruft?
Es könnte natürlich auch eine Nummer aus dem Bestandsverzeichnis einer Bibliothek sein. Ich tippte auf die Stabi an der Potsdamer Straße. Erstens hatte sie bis 21 Uhr auf und zweitens war ich nach dem Whiskey einfach abenteuerlustig. Ich fuhr also mit dem Bus in die Potsdamer Straße. Es dauerte eine Weile, bis ich das richtige Regal gefunden hatte. Aber es gab keine Nummer 210341365. Die -64 und die -66 standen an ihrem Platz, aber ausgerechnet mein Buch fehlte. Rätselhaft, oder?
Ich wollte schon gehen, als mir einfiel, einen Blick hinter die Bücher zu werfen. Vielleicht war es ja verrutscht? Tatsächlich fand ich einen Zettel mit der Aufschrift „Suche den Elefanten und befrage ihn mit der Hand“. Was sollte das bedeuten? War vielleicht vom Elefantentor am Zoologischen Garten die Rede? Der junge Aufsesser hatte erzählt, dass der Zoo die Leidenschaft seines Vaters gewesen sei.
Ich fuhr zum Zoo und kletterte einen der der steinernen Elefanten empor. Befrage ihn mit der Hand? War eine Botschaft in seinem Maul versteckt? Tatsächlich! Ich fand einen winzigen Lederbeutel. Ich kletterte wieder hinunter. Auf dem Bürgersteig waren einige Menschen stehengeblieben, die mich neugierig beobachteten. Ich spielte den Betrunkenen und torkelte davon.
Zu Hause öffnete ich den Beutel und fand eine zweite Botschaft. „Eiffels Frau hält es in der Faust. Öffne Sie!“ Eiffels Frau? Ich dachte fieberhaft nach. Sollte ich ein Grab öffnen? Oder handelte es sich um ein Bauwerk? Er hatte Türme und Brücken gebaut, aber keine Skulpturen. Ich stöberte ein wenig im Netz. Die Freiheitsstatue in New York. Eiffel hatte die Stahlkonstruktion entworfen, die mit Kupferplatten verkleidet worden war.
Am nächsten Morgen nahm ich das erste Flugzeug vom BER nach New York. Mit dem Taxi fuhr ich zur Südspitze Manhattans und nahm von dort die Fähre nach Liberty Island. An Bord fielen mir zum ersten Mal die beiden Männer in den dunklen Mänteln auf. Einer von ihnen sah aus wie Nicolas Cage in „Das Vermächtnis der Tempelritter“, der andere sah aus wie Nicolas Cage in „Das Vermächtnis des geheimen Buches“.
Ich bestieg die Statue und kletterte auf den Arm, der die Fackel hielt. Es wehte ein kräftiger Wind und es war sehr gefährlich. Tatsächlich war in der Faust eine kleine Nische, in der ich ein Pergament fand. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, blickte ich in die Mündung von vier Revolvern.
„Ich nehme an, Sie sind die Mystery Men“, fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
Fortsetzung folgt – im Dezember in einem Kino Ihrer Wahl. Vermutlich wird dieses bleigesättigte Rachefinale mit Nicolas Cage in der Hauptrolle verfilmt. Weitere Orte der Schnitzeljagd: Golden Gate Bridge, Tadsch Mahal, Topkapi-Palast und Bad Nauheim.
Montell Jordan - This Is How We Do It. https://www.youtube.com/watch?v=0hiUuL5uTKc
Samstag, 24. Juni 2017
V 2
Am Montagmorgen kam ich ins Antiquariat und sah V, der vor zwei großen Kisten stand. Er lächelte mich an. Dann begann er, mit Sammlern und bibliophilen Freunden zu telefonieren.
Fünfzehn Minuten später stand ein Mann im Geschäft, der große Ähnlichkeit mit Pavarotti hatte.
„Wo ist es?“ rief er, während er schnaufend nach Atem rang. Er musste gerannt sein.
V zog ein schmales Bändchen aus der Kiste.
„Bei dieser kostbaren Rarität habe ich sofort an dich gedacht, Egon.“
Freudestrahlend nahm der schwarzhaarige Riese das Buch in die Hand. „Diesmal hat das Schwein ein Bolzenschussgerät“ las ich auf dem Einband.
„Wer ist denn Lupo Laminetti?“ fragte ich die beiden Herren und erntete nur ein mitleidiges Lächeln.
„Laminetti ist ein hessisches Kryptoanarchist. Dieses Buch ist sein surrealistisches Frühwerk, das er im Eigenverlag herausgegeben hat. Es gibt nur hundert Exemplare“, antwortete V.
„Was möchtest du für dieses Juwel?“ fragte Egon.
„Für dich kostet es nur fünfzig Euro.“
„Das kannst du unmöglich machen“, rief der Riese. „Das ist ja geschenkt.“
V lächelte versonnen und blickte auf die beiden Schatztruhen aus Pappe hinunter.
Jetzt war ich selbst neugierig geworden und begann, in den Kisten zu stöbern. Und tatsächlich: „Meer ohne Salz“, sowie die Fortsetzung „Wüste ohne Sand“. Von Andy Bonetti. Meinem großen Vorbild. Dem Meister aller Klassen.
Strahlend vor Glück hob ich die beiden Bände V entgegen. Er schüttelte nur bedauernd den Kopf.
„Gleich kommt die Herzogin, Sie hat das Vorkaufsrecht.“
Tatsächlich rauschte wenig später eine stark geschminkte und geradezu fontanehaft kostümierte Dame ins Antiquariat.
„Gretel, meine Liebe“, flötete V. Bussi links, Bussi rechts.
Konzentriert nahm sie einige Bücher in die Hand, murmelte Unverständliches und bildete zwei Stapel, die im Laufe der Zeit immer höher wurden und bedrohlich zu schwanken begannen.
Sie deutete mit dem Zeigefinger auf den linken Stapel. „Geh, Spatzerl, die lässt du mir schön einpacken und von deinem Ladenschwengel heute Abend in meine Residenz bringen.“
„Selbstverständlich. Soll ich die Rechnung schon fertig machen?“
„Gerne. Was macht es denn?“
V begann mit Bleistift und Zettel zu rechnen. „560 Euro. Für dich fünfhundert glatt.“
„Du bist ein Schatz. Baba.“ Dann rauschte sie wieder hinaus.
Die beiden Bonetti-Bände waren noch da, aber es kamen weitere Kunden in den Laden. Ein dürrer kleiner Mann ohne Kinn, der mit einem hellgrauen Dreiteiler und einer dunkelroten Hakennase ausgestattet war: Doktor Wiesengrund, ein Privatgelehrter. Die Cortez-Zwillinge, die sich gegenseitig die Bücher zeigten. Langsam leerten sich die Kisten, während V sicher an die fünftausend Euro eingenommen hatte.
Gegen Abend war der Laden endlich leer und V ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken.
Wieder nahm ich die beiden Bonetti-Bände, die in herrliches weiches Kalbsleder gebunden waren. „Wieviel?“ fragte ich.
V warf einen Blick auf die Bücher und lächelte müde. „Wenn du nachher noch die Bücher zur Herzogin bringst und abkassiert hast, schenke ich dir die Bücher.“
„Vielen Dank!“
„Weißt du, solche Tage sind der wahre Ertrag meiner Tätigkeit. Wenn du die Schätze und die Schatzsucher zusammenbringst, wenn du den Büchern neues Leben einhauchen kannst.“
Es war schon dunkel, als ich vor dem Haus in Friedenau ankam. Ich stieg die Treppe des Mietshauses aus der Gründerzeit empor. An der Wohnungstür erwartete mich schon die Herzogin – in einem Negligé.
Sie warf mir einen hauchdünnen Seidenschal um den Hals und zog mich ins Wohnzimmer. „Geh, Burli. Magst einen Marillenschnaps?“
Ich nickte und legte das Paket und die Rechnung auf den Tisch.
Fortsetzung folgt
Ini Kamoze - Here Comes The Hotstepper. https://www.youtube.com/watch?v=w0N4twV28Mw
Freitag, 23. Juni 2017
V
Auf Anraten meines Therapeuten sollte ich mich Situationen aussetzen, denen ich normalerweise aus dem Weg gehe. Außerdem sollte ich den Kontakt mit anderen Menschen suchen, da ich als alleinstehender Schriftsteller ein sehr einsames Leben führe und einer quasi autistischen Tätigkeit nachgehe. Also hatte ich mich entschlossen, ein vierwöchiges Praktikum bei Amadeus Vogelkopf zu absolvieren. Arbeit! Fremde Menschen!!
Herr Vogelkopf war ein netter älterer Herr, der seit zwanzig Jahren als Geschäftsführer und einziger Mitarbeiter von „Andy Quariat“ in der Winterfeldstraße in Berlin-Schöneberg seinen Lebensunterhalt bestritt. Ich hielt es für eine gute Idee, der Welt der Bücher weiterhin verbunden zu sein und gleichzeitig Material für meine Veröffentlichungen zu sammeln. V, wie ich ihn insgeheim liebevoll nannte, enttäuschte mich nicht. Ich kannte ihn von gelegentlichen Besuchen seines Antiquariats.
Während der langen Stunden, in denen niemand die Geschäftsräume betrat, die bis unter die Decke mit tausenden von Büchern angefüllt waren, die nach der unergründlichen Ordnung ihres Besitzers aneinandergereiht auf weiß gestrichenen Regalbrettern standen, erzählte mir V aus seinem Berufsleben. Er hatte Myriaden von Studenten überstanden, die ewig suchten und nichts kauften. Penner, die sich aufwärmten, und Rentnerinnen, die ihn aus Langeweile in ein Gespräch verwickelten, ohne dass ihn ein zweiter Kunde retten konnte. Leute, die feilschten. Leute, die ein gelesenes Buch gegen ein neues tauschen wollten. Leute, die versuchten, ihm die Konsalik-Sammlung ihrer Oma anzudrehen.
Niemand käme je auf die Idee, ein Antiquariat zu eröffnen, um reich zu werden. Eigentlich habe ich mich immer gefragt, wovon Antiquare überhaupt leben. Alles in der ersten Woche meines Praktikums hat mich in dieser Einstellung bestätigt. Diese Beschäftigung ist auf eine so unkomische Art traurig, isn’t it? Bis Martin Aufsesser das Geschäft betrat.
Es hatte geregnet und es dauerte eine ganze Weile, bis der Mann auf seine seltsam unbeholfene und umständliche Art den Regenschirm geschlossen hatte, seine Brille mit einem Tuch getrocknet und wieder aufgesetzt hatte, um an den Verkaufstresen zu treten, hinter dem V und ich die Szene beobachtet hatten.
„Guten Tag“, sagte er. „Darf ich erfahren, wer von Ihnen Herr Vogelkopf ist?“
„Das bin ich“, sagte V. „Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Es geht um einen Nachlass. Mein Vater ist gestorben. Professor Aufsesser. Vielleicht haben Sie den Namen schon einmal gehört?“
„Germanistik. Freie Universität. Ich habe eine Vorlesung von ihm besucht.“
Auch ich kannte Aufsesser. Er schrieb nach seiner Emeritierung vor zwanzig Jahren regelmäßig Rezensionen für den „Tagesspiegel“.
„Mein Vater hat eine umfangreiche Bibliothek hinterlassen. Meine Mutter möchte gerne in eine kleinere Wohnung in der Innenstadt ziehen, wir werden das Haus verkaufen und seine Bibliothek können wir weder bei mir noch bei meiner Mutter unterbringen.“
„Um wie viele Bücher handelt es sich denn?“
„Es dürften über sechstausend sein.“
V blickte Aufsesser ungerührt an, während ich leise durch die Zähne pfiff.
„An welche Summe hatten Sie gedacht.“
„Wir wären mit zehntausend Euro zufrieden. Gerade die Fachliteratur aus seiner Zeit als Professor ist vermutlich selbst für einen erfahrenen Antiquar wie Sie nicht zu verkaufen. Aber die Romane werden sicher ihre Leser finden.“
„Gut, Herr Aufsesser. Kann ich mir die Bücher am Samstagnachmittag nach Geschäftsschluss anschauen?“
„Sehr gerne. Ich gebe Ihnen die Adresse.“
Eine Villa in Dahlem. Ich hatte es nicht anders erwartet.
So fing es an.
Fortsetzung folgt
Sergio Mendes feat. Black Eyed Peas - Mas Que Nada. https://www.youtube.com/watch?v=Tfa6fRjPlUE
Donnerstag, 22. Juni 2017
Gespräch über Gott
„Wenn es einen Gott gibt, warum lässt er dann die Grausamkeiten und das Elend in der Welt zu?“ fragt der Atheist den Gläubigen.
„Wenn es keinen Gott gibt, warum lässt du dann die Grausamkeiten und das Elend in der Welt zu?“ fragt der Gläubige den Atheisten.
(Es sind exakt drei Buchstaben, die den Unterschied zwischen beiden Fragen ausmachen)
Mittwoch, 21. Juni 2017
So lasset uns denn eine Pyramide bauen
Friedrich der Große, über den Napoleon nach der Eroberung Berlins sagte „Man würde nicht bis hierher gekommen sein, wenn Friedrich noch lebe“, verfügte testamentarisch, man möge ihn nachts mit kleinstem Gefolge beim Schein einer Laterne beerdigen. Heute ruht er unter einer einfachen Steinplatte im Garten seines Schlosses Sanssouci.
Helmut Schmidt lehnte in alter hanseatischer Tradition den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland mit Stern und Schulterband ab, weil er nur seine Pflicht erfüllt habe. Er fand 2015 im Familiengrab auf dem Friedhof von Hamburg-Ohlsdorf unter einer schlichten weißen Platte, auf der nur die Namen sowie Geburts- und Todestage vermerkt sind, seine letzte Ruhe.
Helmut Kohl wird, von ihm selbst gewünscht, als erster Politiker mit einem europäischen Staatsakt geehrt. Einen deutschen Staatsakt lehnte seine Witwe ab. Sein Leichnam wird wie bei einer Prozession mit dem Schiff über den Rhein nach Speyer gefahren, obwohl er immer in der Malocherstadt Ludwigshafen gelebt hat. Dort wird er unmittelbar neben dem Dom, in dem die Gebeine einiger deutscher Kaiser liegen, beerdigt werden. Noch im Pomp um seinen Tod ist dieser Mann geistig armselig.
Dienstag, 20. Juni 2017
Wo waren Sie am 27. September 1998?
Wo waren Sie, als die bleierne Zeit der Kanzlerschaft Helmut Kohls 1998 zu Ende ging? Ich war gerade in Boston und besuchte mit meiner Freundin eine ihrer Kolleginnen aus Berliner Zeiten. Es war ziemlich schwierig, Informationen zu bekommen, wenn man einen teuren Telefonanruf in der Heimat vermeiden wollte. Die Zeitung „USA Today“ brachte auf Seite 7 eine winzige Meldung, dass die Ära Kohl zu Ende gegangen war. So wird bei uns über einen Auffahrunfall in der Eifel berichtet. Tage später kaufte ich für viel Geld auf dem Campus von Harvard, wo unsere Gastgeberin als Soziologiedozentin arbeitete, eine aktuelle Ausgabe des „Spiegel“, um die genaueren Umstände des historischen Regierungswechsels zu erfahren. Es war vollbracht! Wie lange hatte ich auf das politische Ende von „Birne“ gewartet? Er hat mich nicht enttäuscht – mit der Parteispendenaffäre hat er sogar noch einen draufgesetzt. So einen Abgang wird die Trantüte aus der Uckermark nie schaffen.
Die Corelli-Brüder
Damals hatte ich diesen Job an einer Tankstelle in der Schweiz. Ich durfte ganz unten anfangen, im Service, und dort bin ich auch geblieben. Den Tank vollmachen, Scheiben putzen, die Leute fragen, ob ich mal nach dem Öl schauen soll. Old School – das war das Konzept. Es war weniger die miese Bezahlung, die mich störte, als der Overall, den ich trug. Aus der Ferne sah er aus wie eine Biker-Kluft, auf meinem Rücken stand „Tells Angels“. Ziemlich müde Nummer, wenn Sie mich fragen.
Dann fuhr dieser metallicbraune Wagen vor und zwei Männer stiegen aus. Schwarze Haare, leicht unrasiert, vielleicht so um die vierzig.
„Ein Ford Granada. Wow. Sieht man heute aber selten.“
Der Fahrer grinste und nahm die Sonnenbrille ab. „Ja, ein echtes Schmuckstück. Du kennst dich echt gut aus.“
Wir plauderten ein bisschen über alte Autos. Ich hatte ein Faible für Fahrzeuge, die sich von der gesichtslosen Masse der heutigen Wagen abhoben, die alle aus demselben Windkanal zu kommen schienen.
„Hast du Lust, für uns zu arbeiten? Wir suchen noch einen Mann, der sich mit Autos auskennt. Ist kein schwerer Job. Wirst schon sehen.“
Ich tankte ihren Wagen voll, sie bezahlten im Tankstellenshop und dann tat ich das, wovon mir meine Eltern immer abgeraten haben: Ich stieg zu fremden Männern ins Auto.
Nach einer halben Stunde kamen wir an ein würfelförmiges Gebäude, das im Gewerbegebiet eines Dorfs am Waldrand stand.
Die Corelli-Brüder stellten mich dem Abteilungsleiter Filmanalyse vor. Ein älterer Herr mit einem freundlichen Lächeln. Er führte mich in der Abteilung herum und zeigte mir die einzelnen Boxen im Großraumbüro, in denen jeweils ein Mensch vor einem großen Fernseher saß und sich Notizen machte.
Mein Job war es von nun an, mir Verfolgungsjagden in Spielfilmen und Fernsehserien anzuschauen. Ich sollte mir die Marken und Modelle der Autos notieren. Es ging darum, wie ein Fahrzeug im Film abschnitt. War es ein Gewinner oder ein Verlierer? Fährt der Held den Wagen oder der Bösewicht? Wirkt es schnell oder langsam, elegant oder lächerlich? Möchte man dieses Auto gerne selbst haben oder ist es eine Gurke, mit der man nirgendwo gesehen werden möchte? Diese Analysen wurden an große Autokonzerne verkauft.
Und so saß ich jeden Tag in meiner Box, hatte den Kopfhörer auf und sah mir Filme an. Ich schrieb alles auf, was mir auffiel. Manchmal hatte ich auch eine gute Idee für eine kleine Geschichte, während ich einen Krimi sah. Ich schrieb nebenbei Kurzkrimis, ein Hobby von mir. Leider war ich nicht gut genug, deswegen hatte ich den Job an der Tanke angenommen.
Als ich gerade mal wieder ein paar Notizen in mein Buch machte und es wieder in meine Jackentasche zurückgesteckt hatte, tippte mir jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehte mich um und nahm den Kopfhörer ab.
Es war einer der Corelli-Brüder. „Du klaust doch nicht etwa Büromaterial?“ Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus amüsiertem Grinsen und spöttischen Blick.
„Nein“, antwortete ich. „Das ist mein eigenes Notizbuch. Ich schreibe gelegentlich. Wollen Sie es sehen?“
„Gerne.“
Dann blätterte er eine Weile in den Seiten. Stichwortartige Plots, kleine Dialoge und Zeichnungen wechselten einander ab.
„Willst du für uns Geschichten schreiben?“
„Na klar.“
Noch am gleichen Tag kam ich in eine neue Abteilung. Ich hatte mein eigenes Büro mit Blick auf das Dorf und das Tal. Dort entwickelte ich Figuren und Erzählungen, hauptsächlich Kriminal- und Abenteuergeschichten.
Die Corelli-Brüder hatten eine Maschine erfunden, die diesen Figuren und Erzählungen für einen Tag eine Seele einhauchen konnte. Dann vergingen sie wieder. Die Kunden kamen in unsere Firma, setzten sich einen Datenhelm auf und gingen als eine von uns geschaffene Person durch eine von uns geschaffene Geschichte.
Ich arbeite heute noch für die Corellis und bin sehr zufrieden.
This Mortal Coil - Song To The Siren. https://www.youtube.com/watch?v=HFWKJ2FUiAQ
Montag, 19. Juni 2017
Wie fing es an, wann hört es auf?
Es mag vielleicht zynisch klingen, aber meiner Meinung nach hat der Terrorismus aus dramaturgischer Sicht sehr nachgelassen. Beschleunigung ist das Wasserzeichen unseres Zeitalters, so auch im Bereich Terror und Mord. Es geht offenbar nur noch darum, sehr schnell möglichst viele Menschen zu töten und dabei selbst zu sterben. Oder man schickt eine gesichtslose Drohne, um die Arbeit zu erledigen.
Die Perspektive eines Autors ist naturgemäß eine andere. Personen und Handlungsstränge müssen behutsam entwickelt werden, es geht nicht um hastige Aktionen, die – wie im Falle der Terroranschläge in Europa in den vergangenen Jahren – nur noch eine Sache von Minuten sind. Der Todes-Quikie ist im Grunde genommen so unbefriedigend wie alles andere, das heutzutage viel zu schnell vorbei ist.
Wie es früher war, möchte ich Ihnen im Folgenden schildern. Achtziger-Jahre-Terror – gewissermaßen „old school“. Die Konstellation ist die gleiche wie in unserer spannungsarmen und dennoch hysterischen Gegenwart: arabische Muslime gegen den Westen. Es ist der Fall der „Achille Lauro“, einem italienischen Kreuzfahrtschiff, das in die Hände einer Gruppe gut ausgebildeter Palästinenser gerät. Am Ende wird es nur einen einzigen Toten geben, über die aufregende Begebenheit wird jedoch eine ganze Oper geschrieben und ein Spielfilm gedreht, in dem Burt Lancaster die Rolle des Leon Klinghoffer spielt. Tage voller Dramatik liegen vor uns, als das Schiff Anfang Oktober 1985 in Alexandria in See sticht …
Die vier jungen Männer, die gemeinsam an Bord gehen, wirken nicht wie Touristen. Sie verbringen die meiste Zeit in ihrer Kabine und zeigen sich an Deck nur mit einem Koffer in der Hand. Damals gab es keine Gepäckkontrollen und so war es kein Problem, Kalaschnikows und Handgranaten an Bord zu bringen. Während ein Großteil der Passagiere einen Tagesausflug zu den Pyramiden unternimmt, stürmen die vier Männer den Speisesaal des Schiffs und schießen einige Salven in die Decke. Dann treiben sie die Passagiere im Saal zusammen und stellen ihre Nationalität fest. Zwölf US-Bürger, sechs Briten und ein österreichisches Ehepaar – es sind Juden – werden ausgesondert.
Die Männer geben sich als Angehörige der Palestine Liberation Front (PLF) zu erkennen und forderten die Freilassung von fünfzig Gesinnungsgenossen, die in israelischen Gefängnissen sitzen. Außerdem fordern sie Asyl in Syrien, ansonsten würde man die Geiseln erschießen – angefangen mit den Amerikanern. Bei einem Angriff von Spezialeinheiten würden sie das Schiff in die Luft sprengen, drohen sie. Die „Achille Lauro“ nimmt auf ihren Befehl hin Kurs auf Syrien.
Exkurs:
Ein einziger Nicht-Palästinenser ist in dieser Gruppe, deren Befreiung erpresst werden soll: Odfried Hepp, ein deutscher Neonazi aus der Wehrsportgruppe Hoffmann, die sich nach ihrem Verbot und dem 1980 von einem ihrer Mitglieder verübten Sprengstoffanschlag auf das Münchner Oktoberfest in den Libanon absetzt, um sich dort dem Kampf der Palästinenser gegen Israel anzuschließen. Hepp kehrt jedoch nach Deutschland zurück, gründet eine neue Gruppe und greift die dort stationierten US-Truppen mit Autobomben an. 1982 wird er IM der Stasi, zwischenzeitlich entzieht er sich der Fahndung in der Bundesrepublik durch Flucht in die DDR, wo er im selben „Gästehaus“ bei Briesen, südöstlich von Berlin malerisch an der Spree gelegen, untergebracht wird wie die RAF-Mitglieder. Er kehrt in den Westen zurück, wird 1985 in Paris verhaftet und zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Danach wird er in die Bundesrepublik abgeschoben, wo er zu weiteren zehn Jahren Haft verurteilt wird. Er sagt als Kronzeuge aus und wird 1993 entlassen. Anschließend studiert er Sprachen an der Universität Mainz und arbeitet heute als Dolmetscher für Französisch und Arabisch.
Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, wird Leon Klinghoffer ausgewählt. Er ist Amerikaner, Jude und sitzt im Rollstuhl. Er kann sich nicht wehren. Die Terroristen fahren ihn in seinem Rollstuhl an die Reling, einer von ihnen setzt ihm die Gewehrmündung an den Kopf und drückt ab. Dann befehlen sie zwei Besatzungsmitgliedern, die Leiche mitsamt dem Rollstuhl ins Meer zu werfen. Falls Syrien sie nicht aufnehme, würde die nächste Geisel sterben, lassen sie den Kapitän über Funk durchgeben.
Syrien weigert sich, die Terroristen aufzunehmen. Die Fahrt geht weiter nach Zypern – auch hier werden sie nicht an Land gelassen. Schließlich fahren sie zurück nach Port Said, einem ägyptischen Hafen. Die Regierung in Kairo verspricht ihnen sicheres Geleit, im Gegenzug sollen alle Geiseln freigelassen werden. Die US-Regierung möchte eigentlich eine Militäroperation auf offener See durchführen, die italienische Regierung, unter deren Flagge das Schiff fährt, lehnt jedoch ab. Als die Ägypter die Terroristen mit einer Boeing 737 der EgyptAir entkommen lassen, gibt Ronald Reagan den Befehl, das Flugzeug von Jagdbombern der USS Saratoga abfangen zu lassen.
Südlich von Kreta geht die Maschine in die amerikanische Falle. Der Funk der EgyptAir-Maschine wird gestört, so dass der Pilot keine Anweisungen der ägyptischen Behörden für das weitere Vorgehen bekommen kann. Die Kampfflugzeuge zwingen den Jet zur Landung auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Sigonella am Fuß des Ätna auf Sizilien. Fünfzig Elitesoldaten der amerikanischen Delta Forces umstellen die Maschine – und werden ihrerseits von italienischen Soldaten und Carabinieri umstellt, da sich die Terroristen auf italienischem Staatsgebiet befinden. Fünf Stunden stehen sich die schwer bewaffneten Einheiten gegenüber, während die Maschine der Terroristen auf dem Rollfeld steht.
Die Italiener setzen sich schließlich durch, die Amerikaner ziehen sich zurück und überlassen die Terroristen den heimischen Behörden. In Ägypten hat auch der PLF-Boss Abu Abbas die Maschine bestiegen, wie erst jetzt bekannt wird. Mittlerweile hat Ägypten das italienische Kreuzfahrtschiff festgesetzt und gibt die Weiterfahrt erst frei, wenn man seine EgyptAir-Maschine zurückbekommt. Die Regierung des Sozialisten Craxi entscheidet sich, die Terroristen nicht an die USA auszuliefern, wo sie wegen Mordes an Klinghoffer vor Gericht gestellt werden sollen.
Die Terroristen werden schließlich nach Rom auf den Flughafen Ciampino ausgeflogen, permanent verfolgt von einem US-Kampfflugzeug, dass sogar auf dem Verkehrsflughafen der Hauptstadt eine Notlandung vortäuscht, um den Kontakt nicht abreißen zu lassen. Nach der Landung in Rom versuchen die USA, einen internationalen Haftbefehl über Interpol zu erwirken, der in Italien vollstreckt werden soll. Ägyptens Staatschef Mubarak bezeichnet die USA öffentlich als „internationale Piraten“, PLO-Chef Arafat droht den Italienern, er könne für die Besatzung der „Achille Lauro“ nicht garantieren, wenn seine Landsleute ausgeliefert würden.
Italien lässt Abu Abbas nach Belgrad ausreisen, von dort fliegt er weiter über Aden nach Bagdad. Dort wird er 2004 schließlich von US-Spezialeinheiten festgenommen und stirbt kurz darauf in einem amerikanischen Militärgefängnis. Die vier Terroristen werden in Italien zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.
Im Nachhinein stellt sich heraus, dass sie eigentlich in einem israelischen Hafen, den die „Achille Lauro“ anlaufen sollte, einen Anschlag verüben wollten. Ihre Waffen seien aber vorher schon zufällig von einem Besatzungsmitglied gefunden worden, weshalb man sich zur Schiffsentführung entschlossen habe.
Was für eine Story! Allein die dreitägige Irrfahrt, in der niemand dieses Schiff ins seinem Hafen haben will. Da gäbe es heute im Stundentakt „Brennpunkte“ in der ARD und „Pizza Speciale“ im ZDF.
P.S.: Achille Lauro, der Namenspatron des Schiffes, war ein italienischer Faschist, der von den Alliierten nach der Kapitulation 1943 für knapp zwei Jahre ins Gefängnis geworfen wurde, bevor er als Bürgermeister von Neapel seine Karriere fortsetzen konnte. Für die Neofaschisten saß er bis 1979 im italienischen Parlament.
Tears for Fears - Pale Shelter. https://www.youtube.com/watch?v=d7UEPxY9_Ek
Sonntag, 18. Juni 2017
Da lacht die Redaktion
Der Praktikant stürmt völlig außer Atem durch das Vorzimmer, in dem drei Ärzte warten, ins Büro des Chefs.
„Mister Bonetti, ich habe noch eine großartige Idee, wie man mein Manuskript verbessern könnte.“
„Tut mir, leid, junger Mann. Die Papierkörbe sind schon geleert worden.“
Half Pint - Crazy Girl. https://www.youtube.com/watch?v=lZAkwUyn9L8
Samstag, 17. Juni 2017
Ein kurzer Blick in den Rückspiegel
Wenn ich auf die Tage zurückblicke, in denen Helmut Kohl, die ewige pfälzische Weinbergschnecke, plötzlich die Chance zur deutschen Einheit ergreift, dann frage ich mich, ob er das Lob wirklich verdient hat. Ja: Er ist „Vater der Einheit“. Aber: Nein, das war keine gute Idee.
Was wäre, wenn ein anderer Mann oder eine andere Frau Kanzler gewesen wäre? Sein damaliger Widersacher Lafontaine oder ein anderer Mensch? Wieso wird die Einheit immer als Glücksfall dargestellt? Die DDR hatte unter der Wiedervereinigung zu leiden, erst viele Jahre später besserten sich die Lebensverhältnisse der Menschen.
Vielleicht wäre ein Zögern, ein Respektieren der Leistung der Bevölkerung, die selbstbewusst „Wir sind das Volk“ rief, besser gewesen? Die demokratische DDR-Regierung hätte einen neuen Staat aufgebaut, so wie es die anderen Ostblockstaaten auch geschafft haben. Der Wahlkampf im Februar und März 1990 wäre nicht vom Westen dominiert worden.
Die Betriebe hätten sich reformieren können, ohne dass es zu Massenentlassungen gekommen wäre. Die Treuhand hätte nicht den Besitz eines ganzen Staatsvolks an einen Haufen von Geldgeiern verhökert. Was wäre denn so schlimm an einem zweiten deutschen Staat innerhalb der NATO und der EU gewesen?
Was von uns bleibt
„Er war wie die Ameise unter dem Kühlschrank: Er diente einer höheren Sache, auch wenn es nicht immer danach aussah.” (Johnny Malta: Nächstes Jahr wird alles besser)
Eine einfache Gedächtnisübung: An welche Ereignisse aus dem Jahr 2012 können Sie sich noch erinnern? Mir fällt spontan ein Urlaub in der Schweiz ein und „Berliner Asche“, ein Roman, den ich in diesem Jahr geschrieben habe. Gerade an die einwöchige Reise habe ich noch gute Erinnerungen. Mit dem Flugzeug nach Zürich, ein Spaziergang durch die sündhaft teure Bankenmetropole. Selbst die Bratwurst am Bahnhof war unglaublich teuer, bevor es mit dem Zug nach St. Moritz weiterging. Im „Weißen Kreuz“ in Bergün stehe ich am Fenster meines Zimmers und sehe, wie in einer Stunde der Ort komplett eingeschneit wird. Am nächsten Tag wandere ich mit meinem Reisegenossen durch das Tal zu einem kleinen Dorf, wo wir die einzigen Gäste in einem Lokal sind. Die alte Witwe, die das Lokal betreibt, setzt sich zu uns und wir plaudern eine Weile. Bei einem anderen Spaziergang, den ich alleine unternehme, komme ich an einem Bauernhaus vorbei, vor dem in einer Art Laufstall aus bunten Plastikteilen zwei neugeborene Kälber stehen. Bei meinem Anblick sind sie so erfreut, dass sie kaum zu halten sind. Ich gehe auf das Grundstück und streichle sie ausgiebig und spreche mit ihnen, obwohl es mir peinlich ist. Aber ich kann nicht anders. Zum Glück hat mich niemand gesehen.
Ansonsten erstmal nichts. Und bei Ihnen? Eine zweite Gedächtnisübung: An welche Mahlzeiten des vergangenen Jahres erinnern Sie sich? Vermutlich nur an zwei oder drei. Richtig tolle Abende mit Freunden, wo es etwas Außergewöhnliches zu essen gab. Wir speichern einen großen Teil unserer Vergangenheit nicht ab, die ganze Routine, die Stunden im Büro oder bei der Hausarbeit, im Auto oder im Supermarkt. Noch nicht einmal uns selbst ist es wichtig genug. Unser Bewusstsein löscht es, so wie nach einer Weile unsere Mails automatisch gelöscht werden. Nur das Ungewöhnliche, die Ausnahme, der besondere Augenblick bleiben uns im Gedächtnis. 99 Prozent unseres Lebens sind schon zu unseren Lebzeiten Asche. Vielleicht ist unsere Existenz bedeutungsloser als wir denken?
Animotion – Obsession. https://www.youtube.com/watch?v=ACPXOufElKU
Freitag, 16. Juni 2017
Wie schreibe ich einen guten Roman?
„Um über gewisse Gegenstände mit Dreistigkeit zu schreiben, ist fast notwendig, dass man nicht viel davon versteht.“ (Georg Christoph Lichtenberg)
Eigentlich hätte ich es mir denken können. Im Nachhinein ist es mir natürlich sonnenklar. Die Kernfrage ist doch: Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Liegt es daran, dass ich diese Tipps nie gebraucht habe, weil ich mit einem unglaublichen Talent als dreister Schwadroneur und leichtfertiger Schaumschläger gesegnet bin?
Wenn ich ein guter Autor werden will – wo schaue ich zuerst nach? Natürlich bei Youtube. Alles andere ist Quatsch. Und so lerne ich aus diversen Videoclips, dass man sich vor dem ersten Roman nicht vorstellen sollte, wie man mit einem Riesenapplaus bei einer Lesung empfangen wird, nachdem man aus seiner Limousine gestiegen ist. Es werden wichtige Fragen diskutiert: „Wie lang ist denn so ein Buch?“ Das folgende Video – pars pro toto ausgewählt – besticht vor allem durch seinen unsterblich witzigen Anfang. So habe ich es mir immer vorgestellt, von einem Erfolgsautor in seine Geheimnisse eingeweiht zu werden:
https://www.youtube.com/watch?v=Yx7XGYGa4Kc
Aber nicht nur der Anfang hat mir Tränen in die Augen getrieben, auch die folgende Formulierungsempfehlung ist einfach unschlagbar. Warum bin ich nicht so wie Christian Kißler? „Der adrette Mann öffnet die verschlossene Tür und betritt den obskuren Raum.“ So schreibe ich einen guten Roman.
P.S.: Es gibt selbstverständlich keine einzige Veröffentlichung von Christian Kißler.
Fatboy Slim – Praise You. https://www.youtube.com/watch?v=Ex1qzIggZnA
Mittwoch, 14. Juni 2017
Kinder, wie die Zeit vergeht!
Vor 250 Jahren, am 14. Juni 1767, wurde vom französischen Schriftgelehrten Jean de la Copie, der am Hofe des Herzogs von Bordeaux lebte, das Plagiat erfunden. Insbesondere im fränkischen Hochadel und in Politikerkreisen wird dieser Festtag mit feierlichen Lesungen aus diversen Doktorarbeiten, Feuerwerk und Champagner begangen.
Retro-Look ins Zeitschriftenregal
„Schreib alles auf; gerade wenn sich etwas zuträgt, glaubt man, es nie zu vergessen, weil die Gegenwart glänzt; aber die nächste tut‘s auch, und dann vergisst man.“ (Jean Paul)
Es geht doch nichts über leichte Lektüre an heißen Nachmittagen, wenn ich auf der Terrasse sitze, von Ferne ein Rasenmäherbrummeln heranweht und rabenschwarze Sechziger-Jahre-Musik aus den Lautsprechern quillt. Erich Maria Remarque muss wieder einmal dem Besten aus Reader’s Digest weichen.
Mai 1986. Ich bin 19 Jahre alt und mache Zivildienst. Helmut Schmidt erklärt in einem Vorwort: „Wir leben in einer Welt gegenseitiger Abhängigkeit. Kein Land ist heutzutage in der Lage, seine politischen und wirtschaftlichen Probleme allein zu lösen.“ Könnten Schulz oder Steinmeier heute noch als Satzbaustein verwenden.
Auf Seite 18 erfahre ich: „Die Bundesrepublik Deutschland ist eine der führenden Videonationen der Erde.“ Jeder fünfte Haushalt besitzt einen Videorekorder, so wie in den USA. Es gibt 3500 Videotheken und selbst Buchhandlungen haben Kassetten in ihr Programm aufgenommen. 1987 soll jeder dritte Haushalt Video haben – der Fortschritt ist nicht aufzuhalten.
In der Reportage „Bonn – eine Hauptstadt macht Karriere“ geht es um den Aufstieg der Provinzstadt am Rhein. Ältere Leser erinnern sich womöglich noch an das Palais Schaumburg (bis 1976 Kanzleramt), den Langen Eugen (Abgeordnetenhochhaus) und die Villa Hammerschmidt, Dienstsitz des Bundespräsidenten. 70.000 Politiker, Diplomaten, Lobbyisten und Journalisten bevölkern das „Raumschiff Bonn“, viele von ihnen hätten noch nie die Innenstadt oder Beethovens Geburtshaus gesehen.
Ein anderer Artikel befasst sich mit altehrwürdigen Kaffeehäusern in Italien, die man eigentlich gerne sofort besuchen möchte. Das Caffè Tommaseo in Triest, in dem schon Stendhal, James Joyce und Italo Svevo saßen und schrieben. Oder das Caffè Florian auf dem Markusplatz in Venedig, 1720 eröffnet. Giacomo Casanova, Goethe, Marcel Proust, Thomas Mann, Salvador Dali und Ernest Hemingway verbrachten in den edlen Salons ihre Zeit, bevor die Generation Lonely Planet einzog. Natürlich darf das Caffè Greco in Rom nicht fehlen, wo Schopenhauer grübelte und Nikolai Gogol letzte Hand an seine „toten Seelen“ legte.
Es geht weiter mit Kindern und ihren Vorstellungen über das Jahr 2000. Da soll es Roboter geben, die einem morgens die Zähne putzen und die Hosen anziehen. Oder eine Hausaufgabenmaschine. Sebastian (11) will als König Freikarten fürs Kino und Süßigkeiten verteilen, Schule und Zahnärzte werden abgeschafft. Ilka (12) schreibt lapidar: „Ich will Ballerina werden, und wenn mein Mann das Essen fertig hat, komme ich nach Hause.“ Das ist jedenfalls amüsanter als die Visionen auf der EXPO 1986 in Vancouver, wo im deutschen Pavillon eine Zukunftstechnologie namens „Transrapid“ vorgestellt wurde …
Zwischendurch erfahre ich, dass Niesen für Waliser Unglück bedeutet, während es in „östlichen Ländern“ heißt, Niesen vor dem Frühstück bedeute ein Geschenk noch vor dem Wochenende. Japaner glauben, jemand sagt gerade etwas Gutes über sie, wenn sie niesen, für Juden ist das Niesen während des Gebets eine von Gott gesandte Wohltat.
Dann wird es ernst: „Zwischen Mullahs und Moderne – die Araber“. Der schnelle Wohlstand durch die Ölmilliarden hätte die Menschen materialistisch gemacht, sie hätten durch die Technik und die Waren des Westens ihre Tradition und ihre Kultur verloren, analysiert ein Autor der Los Angeles Times. „Viele wurden fast über Nacht zu Millionären, und die Künstler, die das sahen, fragten sich, warum sie ein Buch schreiben sollten, wo sie als Vertreter oder Geschäftsführer ganz andere Summen verdienen konnten“, sagt Bahrains Erziehungsminister Ali Fakhro. Und weil die Araber ihre Ziele – einheitliche arabische Nation, Befreiung Pälastinas und Zerschlagung des Zionismus – nicht erreichten, „machen nur noch die religiösen Fanatiker Schlagzeilen“. Da war Mister David Lamb seiner Zeit weit voraus.
Der letzte Artikel trägt den Titel „Wohin steuert Jugoslawien?“ Heute, über dreißig Jahre später, wissen wir es längst.
Joe Jackson - You Can't Get What You Want ('Til You Know What You Want). https://www.youtube.com/watch?v=G3ZZN6ybwHg
Dienstag, 13. Juni 2017
Fragen an die Zukunft
Wie oft wachen die Menschen der nachfolgenden Generation neben einer geheimnisvollen Schönheit auf?
Wie oft nehmen sie an einer aufregenden Expedition teil?
Welches Wissen erwerben sie, um die Wunder der Welt zu begreifen?
Es wird nicht einfacher, wenn die Kuppel endgültig geschlossen ist.
Talk Talk - Talk Talk. https://www.youtube.com/watch?v=6hHnOBlwU3A
Samstag, 10. Juni 2017
Rebecca
„Alles, was man anfassen kann, ist nicht von Dauer.“ (Tiger & Dragon)
Vor einigen Wochen war ich auf der Jahreshauptversammlung der Eigentümer unseres Hauses. Sie findet traditionell in einem Landgasthof im Schwarzwald statt, weil die Mehrheit der Eigentümer aus Baden-Württemberg ist. Wir treffen uns zur Sitzung um 18 Uhr, arbeiten die Tagesordnung ab und sitzen dann beim Abendessen zusammen. Nach dem Essen machen wir jedes Mal, auf Anregung einer Psychoanalytikerin, die zwei Wohnungen im ersten Stock besitzt, ein Spiel. Wir sollen reihum erzählen, welche Person wir gerne aus der Eigentümergemeinschaft bzw. aus dem Haus entfernen möchten. Wer soll gehen, warum und vor allem wie? Zu vorgerückter Stunde und nach ein paar Gläsern badischem Wein neigen einige der Anwesenden zu drastischen Scherzen und empfehlen nicht nur Umzüge, sondern schildern tödliche Unfälle. Es ist natürlich alles nur ein Spaß.
Ich habe mir bei dieser Gelegenheit erlaubt, die Ermordung von Otto Laienbäcker zu beschreiben, der als Staatssekretär im Innenministerium arbeitet und mein Nachbar im dritten Stock ist. Er muss sterben, weil er aufgrund seiner Kontakte zu den Nachrichtendiensten zu viel weiß. Wir haben sehr gelacht, Herr Laienbäcker kennt meine Arbeit als Schriftsteller und meine Phantasie als Autor zahlreicher Kriminalromane und Kurzgeschichten.
Am nächsten Morgen fuhren wir alle wieder nach Hause. Die Berliner Fraktion, darunter auch der Staatssekretär und ich, fuhr in die Hauptstadt zurück. Am gleichen Tag habe ich meine mündliche Erzählung vom Vorabend notiert und kurz darauf in meinem Blog veröffentlicht.
Ich schicke diese kurze Erzählung vorweg, um die nachfolgende Szene zu erklären. Denn offensichtlich hatte mein alter Freund T. von diesem Ritual erfahren und meine Geschichte gelesen. Da er beruflich eine sehr delikate Position bekleidet, die äußerste Diskretion erfordert, war sein Anruf kurz und kryptisch.
„Rebecca“, sagte er nur und legte wieder auf.
Das Spiel kannte ich. Ich sah mir das Kinoprogramm an und tatsächlich lief am Abend im Moviemento in Kreuzberg der Hitchcock-Film von 1940 in der Spätvorstellung.
Mit der U7 fuhr ich bis zum Hermannplatz und lief an diesem milden Juniabend die letzten Meter bis zum Kino auf dem Kotti. Laut Eigenwerbung ist es das älteste Kino Deutschlands, die rüstige Dame sollte man also mit allen gebotenen Mitteln unterstützen. Ich kaufte zwei Beck’s.
Wie erwartet war das Kino fast leer. Ein Dreiergrüppchen saß in der Mitte, etwas abseits zwei monolithische Cineasten. Ich setzte mich in die letzte Reihe. So hatte ich alles im Blick und noch nicht einmal der Filmvorführer konnte mich sehen.
Das Licht ging aus, die Werbung begann. Gelangweilt leerte ich mein erstes Bier.
Als das Orchester die Eröffnungsmelodie schmetterte, kam T. In dem schwarzen AC/DC-Shirt und den zerrissenen Jeans hätte ich ihn fast nicht erkannt. In seiner Gehaltsstufe legt man hohen Wert auf Maßanzüge und italienische Lederschuhe.
Er setzte sich neben mich und wir nickten uns kurz zu.
„Guter Text“, flüsterte er und beugte sich leicht zu mir hinüber.
Das Weiß seiner Augen hatte die Farbe von altem Elfenbein und war mit winzigen roten Schlangen durchzogen.
„Über Otto?“ flüsterte ich zurück.
„Ja. Ich brauche einen Text über unseren Innenminister.“
„Mitten im Wahlkampf?“
„Das ist doch nur Schattenboxen für die nächste KroKo“, sagte er leise und kicherte.
„Inhalt, Länge und Ziel?“
„Zwei Seiten Nachruf. Großer Verlust, unvergessener Kämpfer für die Sicherheit und so weiter.“ Sein Flüstern war kaum hörbar, niemand drehte sich nach uns um.
„Aber er ist doch noch gar nicht gestorben.“
„Das ist unwichtig. Wir treffen uns übermorgen Abend wieder hier. Du schreibst per Hand. Keine Spuren, keine Dateien. Verstanden?“
„Okay.“
Dann sahen wir uns in Ruhe den Film an. T. verließ vor mir den Kinosaal, ich wartete das Ende des Abspanns ab.
Drei Tage später war der Minister tot. Angeblich Herzinfarkt. Mein Nachruf wurde am selben Tag veröffentlicht.
Kurz darauf fand ich einen unbeschrifteten weißen Umschlag mit zweitausend Euro in meinem Briefkasten.
Visage – Look What They’ve Done. https://www.youtube.com/watch?v=hFc-gDjZGmY
Donnerstag, 8. Juni 2017
Warum ich im ICE immer am Tisch sitze
Eine Frau setzt sich mir gegenüber an den Tisch im ICE-Großraumwagen und fängt an, in ihrer Handtasche herumzukramen.
Nach einer Weile sieht sie mich fassungslos an. „Ich habe meine Bahncard vergessen. Ist das schlimm?“
„Ich fürchte, das ist ein unverzeihlicher Fehler“, antworte ich ruhig.
„Was passiert denn jetzt?“
„Das ist einer von diesen neuen ICE. Die haben Schleudersitze eingebaut.“
„Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“ Ihre Stimme klingt sehr besorgt.
„Ich habe es auch nicht geglaubt, bis ich den ersten Fahrgast gesehen habe, der abgeflogen ist.“ In solchen Situationen ist es wichtig, nicht zu lachen.
„Was mache ich denn jetzt?“
„Wissen Sie denn, wo sich Ihre Bahncard im Augenblick befindet?“
„Ja, zu Hause auf meinem Schreibtisch.“
„Ist Ihr Mann zufällig gerade in der Wohnung?“
„Keine Ahnung. Aber was nutzt mir jetzt mein Mann? Er kann ja nicht so schnell mit dem Wagen an den nächsten Bahnhof fahren.“
„Aber er könnte Ihre Bahncard fotografieren und Ihnen das Bild aufs Handy schicken.“
„Das ist eine gute Idee. Aber wird der Schaffner mir die Geschichte abkaufen?“
„Er müsste schon ein Herz aus Stein haben, wenn er Ihnen nicht glaubt.“
„Danke, das mache ich.“ Sie telefoniert mit ihrem Mann und bald darauf ist das Foto von ihrer Bahncard auf dem Handy.
„Vielen Dank. Das war sehr nett. Sind Sie Pfarrer oder Lehrer?“
„Nein. Ich habe früher mal als Berater gearbeitet. Probleme lösen ist mein Job gewesen.“
„Da haben Sie sicher viel Geld verdient.“
„Wir haben auch noch nicht über mein Honorar gesprochen.“
Sie lacht nervös. „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht viel anbieten.“
Ich deute auf ihre Handtasche. „Haben Sie Süßigkeiten?“
„Ja, ich habe ein Twix dabei.“
„Ich bin mit der Hälfte zufrieden.“
Sie holt das Twix aus der Handtasche und wir teilen es uns.
„Sie sind ein knallharter Geschäftsmann“, sagt sie gutgelaunt.
„Was meinen Sie, warum ich so aussehe?“ frage ich sie und deute auf meinen umfangreichen Bauch.
Der Schaffner kommt, sieht das Foto der Bahncard und betätigt den Knopf für den Schleudersitz. Nein, kleiner Scherz. Aber am Tisch im ICE lernt man immer nette Leute kennen.
The Psychedelic Furs - Until She Comes. https://www.youtube.com/watch?v=dNEDY9I_wOk
Mittwoch, 7. Juni 2017
Wenn ich noch einmal jung wäre
Wenn ich – mit meinem heutigen Wissen und meinen Erfahrungen – noch einmal meine Jugend wiederholen könnte, dann …
wäre ich abends früher nach Hause gekommen.
hätte ich mich nicht in ein Mädchen verliebt, mit dem ich nur drei Sätze gesprochen habe.
hätte ich mein Geld in Aktien investiert und nicht in Schallplatten.
hätte ich nicht so viel getrunken und meine Finger von Drogen gelassen.
hätte ich meine Hausaufgaben gemacht und jeden Tag gelernt, um in der Schule bessere Noten zu haben, womit ich meine Berufsaussichten verbessert hätte.
hätte ich nicht diesen schrottreifen Alfa Romeo gekauft, mit dem ich nur Ärger hatte.
wäre ich nicht mit Freunden Samstagnacht nach der Disco nach St. Pauli gefahren, um einen Kumpel zu besuchen.
hätte ich nicht mein ganzes Taschengeld ausgegeben, sondern einen Teil gespart.
hätte ich nicht so viel Zeit mit Romanen und Musik verbracht, sondern einen Computerkurs belegt.
hätte ich nicht so viele Hamburger und Pommes gegessen, sondern auch mal Obst und Gemüse.
hätte ich auf den Rat meiner Eltern und Großeltern gehört.
wäre ich nicht in diese Kiffer-WG gezogen, die mich ein Jahr lang vom Studium abgehalten hat.
hätte ich BWL oder Jura studiert und nicht Sozialwissenschaften.
hätte ich die Tochter eines Vorstandsvorsitzenden geheiratet, die sich in mich verliebt hat.
wäre ich nicht so oft nach Holland, sondern in die Schweiz gefahren, weil es meinen Lungen besser bekommen wäre.
hätte ich nicht mit überhöhter Geschwindigkeit einen Unfall mit Totalschaden gebaut, weil ich mit einem Bier in der Hand gerade an meiner Stereoanlage rumgefummelt habe, um den Equalizer anders einzustellen.
hätte ich nicht auf irgendwelchen Rockfestivals campiert, sondern hätte Wochenendseminare gebucht, um mich weiterzubilden.
hätte ich Buchführung gelernt, anstatt Notizbücher mit sinnlosem Quatsch vollzuschreiben, den niemand jemals lesen wird.
hätte ich mir anständige Freunde gesucht, nicht diesen Haufen Säufer, Penner und Junkies, damit ich später mal mit ihnen Geschäftskontakte aufbauen kann.
hätte ich einen Bausparvertrag abgeschlossen und später ein Haus gebaut.
hätte ich mein Geld in schicke Möbel investiert und nicht in monatelange Weltreisen.
Klingt gut, oder? Aber dann hätte ich heute auch nichts zu erzählen.
Götz Widmann - Chronik meines Alkoholismus. https://www.youtube.com/watch?v=EHYY6sysmko
Dienstag, 6. Juni 2017
Frage zu Mahatma Gandhi
Man sollte ja aus Mails nicht zitieren, aber hier kann ich nicht widerstehen. Eine TV-Produktion schickte mir unter der Überschrift "Frage zu Mahatma Gandhi" folgende Anfrage - die ich als international renommierter Experte natürlich gerne beantwortet habe.
Sehr geehrter Herr Eberling,
Ich arbeite als Produzentin für XYZ und recherchiere zurzeit zum Thema «Mahatma Gandhi» Gerne würde ich die folgende Quiz-Frage generieren:
Was hat Mahatma Gandhi studiert?
a) Medizin
b) Theologie
c) Rechtswissenschaft (richtige Antwort?)
Ist die Frage unmissverständlich formuliert und ausschließlich die Antwort C korrekt? Das heißt: Können Sie bestätigen, dass Gandhi zu keinem Zeitpunkt Theologie oder Medizin, aber sehr wohl Recht studiert hat?
Zudem haben wir bei dieser Frage folgende Zusatzinformationen vermerkt:
- Gandhi wurde am 2. Oktober 1869 geboren. Lebte von 1869-1948.
- Der 2. Oktober ist in Indien ein gesetzlicher Feiertag.
- Studierte von 1888–1891 in London Recht und praktizierte später als Anwalt
Können Sie uns die Korrektheit dieser Infos bestätigen?
Ich habe auf dem Internet bereits einige Informationen gefunden. Wir sind beim Generieren unserer Quiz-Fragen aber stets darauf bedacht, wenn immer möglich Expertenmeinungen und offizielle Quellen mit einzubeziehen. Daher erlaube ich mir, Sie anzuschreiben.
Für eine Antwort wäre ich Ihnen daher sehr verbunden und danke vielmals im Voraus.
Heimweh nach Helsinki
An der Bonetti University™ können Sie Creative Writing lernen. Hören wir dem Meister für einen Augenblick zu, der gerade vor einer Gruppe Erstsemester doziert.
„Literatur ist ein knallhartes Geschäft. Sie müssen ein guter Verkäufer sein, sonst verdienen Sie keinen Cent in dieser Branche. Dieses Geschäft ist dreckig und es ist brutal. Ich habe vorher im Gebrauchtwagenhandel und im Offshore-Heizdeckenvertrieb gearbeitet. Ich weiß, wovon ich rede. Sehen Sie nach links und sehen Sie nach rechts.“
Die Studenten wenden brav den Kopf nach beiden Seiten.
„Das sind die Konkurrenten, gegen die Sie auf dem Buchmarkt antreten. Neun von zehn Autoren scheitern in den ersten zwei Jahren. An dieser Universität lernen Sie, zu den Überlebenden zu gehören. Soll ich Ihnen jetzt verraten, wie Sie eine gute Story schreiben?“
„Ja“, rufen die Studenten im Chor.
„Ich kann Sie nicht hören.“
„Ja“, brüllen alle, so laut sie können.
„Entscheidend an einem Text ist die Überschrift. Nur eine fesselnde, eine packende Überschrift bewegt den Leser dazu, Ihren Text zu lesen. Dazu brauchen Sie Catchwords, die den Leser emotional bewegen oder ihn neugierig machen. Fangen wir mit einem emotionalen Begriff an. Liebe und Tod gehen immer. Was sollen wir nehmen?“
„Heimweh“, sagt ein Student.
„Sehr gut. Heimweh. Und jetzt ein Ort. Er sollte bekannt sein, aber eigentlich darf keiner Ihrer Leser dort gewesen sein, sonst wird die Recherche zu aufwändig. Haben Sie eine Idee?“
„Helsinki“, schlägt eine Studentin vor.
„Ausgezeichnet. ‚Heimweh nach Helsinki‘. Jetzt haben wir einen Titel, das ist die halbe Miete. Und wir haben die ersten Handlungsfäden. Wer hat Heimweh nach Helsinki? Natürlich ein Finne. Was ist seine Handlungsmotivation? Er will nach Hause. Was heißt das? Er ist gerade nicht in Helsinki. Warum will er ausgerechnet jetzt nach Helsinki? Weil etwas passiert ist, weswegen er zurück in seine Heimat muss. Damit haben Sie den Plot bereits skizziert. Verstanden?“
„Ja, Herr Bonetti“, rufen die Studenten, die eifrig mitschreiben.
„Jetzt brauchen wir einen Namen. Kennen Sie einen Finnen?“
„Aki Kaurismäki.“
„Sehr gut. Wir brauchen einen Namen, der ähnlich klingt. Richtig finnisch, nach Ansicht des Lesers, der auch nicht mehr weiß als Sie. Zu diesem Zweck geht man bei Wikipedia auf die Seite der Fußballmannschaft des betreffenden Landes und sucht sich einen Namen. Wichtig ist, dass Sie Vor- und Nachnamen von verschiedenen Spielern nehmen, damit Ihnen kein findiger Leser auf die Schliche kommt. Haben Sie einen Namen? Und bitte nichts Kompliziertes. Denken Sie daran, dass Sie den Text vielleicht einmal während einer Lesung vortragen müssen.““
Die Studenten befummeln eifrig ihre Smartphones.
„Jarko Hämäläinen.“
„Gut. Unser Finne in der Fremde heißt Jarko Hämäläinen. Was ist das Motiv für sein Heimweh? Denken Sie daran, dass der Leser emotional bewegt werden will.“
„Seine Mutter ist plötzlich krank geworden“, schlägt eine Studentin vor.
„Perfekt. Welche Krankheit hat Sie? Es muss unserem Helden genug Zeit geben, die Heimreise anzutreten, aber ihn gleichzeitig auch unter Zeitdruck setzen, damit wir die Handlung vorantreiben können.“
„Krebs im Endstadium.“
„Nehmen wir. Warum hat er überhaupt das Land verlassen? Suchen Sie einen Grund, den der Leser innerlich ablehnt, damit er sich mit dem Protagonisten und seiner Handlungsmotivation identifiziert.“
„Geld.“
„Genau. Er hat einen Job angenommen, der ihn zwar wohlhabend gemacht hat, ihm aber keine persönliche Befriedigung verschafft hat. Er kann frohen Mutes zurück nach Helsinki. Er hinterlässt nichts, was ihn emotional bindet. Ein Golden Retriever, der gerade zehn Welpen bekommen hat, würde Ihnen die Story kaputt machen, verstehen Sie?“
Die Studenten lachen.
„Gut. Kommen wir zum Anfang der Geschichte. Die ersten Sätze sind immer sehr wichtig. Steigen Sie in eine dramatische Szene ein. Und fangen Sie mitten in der Szene an, quasi auf ihrem Höhepunkt. Den Rest erklären Sie im Anschluss. Der Leser muss von der ersten Zeile an gefesselt werden. Er darf nicht mehr aussteigen. Die erste Szene könnte also das Telefonat sein, bei dem der Protagonist von der Erkrankung seiner Mutter erfährt“, erklärt Bonetti und fährt mit verstellter Stimme fort: „Oh nein, nicht mein Mutter. Warum ausgerechnet sie?“
Die Studenten lachen erneut.
„Jetzt habe ich Ihnen den Plot skizziert und eine Idee für den Anfang geliefert, der immer etwas schwierig ist. Bis nächste Woche schreibt jeder von Ihnen eine Kurzgeschichte von mindestens zehn Seiten.“
The Electronic Circus - Direct Lines. https://www.youtube.com/watch?v=suN-TBGCHDY
Samstag, 3. Juni 2017
Ein Jahr später
Ein Jahr, nachdem sie einen Irren zum Präsidenten gewählt hatten, waren sie selbst verrückt geworden. Es begann am frühen Morgen, als die Müllmänner in seine Straße kamen und dort kübelweise Abfall auf die Bürgersteige kippten. Alte Autoreifen und kaputte Sofas landeten in den Vorgärten. Er beobachtete es von seinem Fenster aus und machte das Radio an. Die Musik klang, als würde sie rückwärts laufen – und das in wechselnden Geschwindigkeiten.
Vom chinesischen Restaurant gegenüber kamen der Koch und der Kellner herüber und wollten bei ihm zu Mittag essen. Er bat sie in seine Küche und machte ihnen Wiener Würstchen heiß. Sie lachten, aber sie beschwerten sich nicht. Im Fernsehen lief nur die Daueraufnahme einer Waldlichtung, auf die man offensichtlich eine Kamera gestellt hatte. Auf allen Sendern das gleiche Bild ohne Ton. Im Internet sah man nur ein Aquarium, nirgends war etwas anzuklicken oder zu kaufen.
Am Nachmittag ging er auf die Straße. Schwarzer Schnee fiel vom Himmel und die Amseln begannen zu bellen. Vor dem Supermarkt verschenkten die Kassiererinnen Sekt und Süßigkeiten. Ein Banker sprach ihn an und fragte ihn, was er jetzt machen solle. Er riet ihm, niemals Geld über Nacht zu behalten und alles vor dem Abend zu verschenken.
Auf dem Marktplatz brannte am Abend ein Feuer, um das die Menschen saßen. Es wirkte ganz friedlich. Er setzte sich dazu und bekam sofort ein Bier angeboten. So begann die neue Zeit.
Turquoise Days - Grey Skies. https://www.youtube.com/watch?v=GqpL5iNa4rA
Donnerstag, 1. Juni 2017
Fegefeuer der Heiterkeiten
Blogstuff 133
„Zitate sind der Esprit der sprachlich Armen, Sprichwörter sind das Evangelium der einfachen Leute. Kalenderweisheiten sind die höhere Schule der Massen.“ (Leo Rosten)
Nostalgie ist ein sicheres Zeichen, dass unser Gedächtnis nachlässt.
Angela Merkel hat die Fahrstuhlpolitik erst salonfähig gemacht. Entspannte Klänge auf dem Weg nach unten.
Habe ich eigentlich mal erwähnt, dass ich in den achtziger Jahren diesen legendären Deals-On-Wheels-Lieferservice aufgezogen habe, um die ganzen Hunsrückdörfer mit meinem schwarzen Chevrolet El Camino zu beliefern? Der Sheriff dachte immer, ich hätte Heuballen geladen …
Übung: Ballen Sie Ihre Hand zur Faust. Jetzt strecken sie nacheinander die Finger einzeln aus. Es klappt mit jedem Finger – besonders gut mit dem Mittelfinger -, aber nicht mit dem Ringfinger. Vermutlich wird er deswegen nur zum Heiraten benutzt.
Pokern gehört zu den gefährlichsten Sportarten der Welt. Es hat zahllose Ehen ruiniert und Bankkonten atomisiert – und ich will nicht wissen, wie viele Leute wegen eines Pokerspiels einen Herzinfarkt bekommen haben oder erschossen wurden.
Achtzehn Jahre braucht der Mensch, um – zumindest nach der Definition unserer Gesetze – erwachsen zu werden. Über viele tausend Generationen wurde der Mensch nur zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Man kann also sagen, die Natur hat die Hälfte unserer Lebenszeit für den Reifeprozess, für das Heranwachsen vorgesehen. Es klingt wie eine ungeheure Verschwendung. Andere Säugetiere können nach wenigen Stunden laufen und gehen nach einem Jahr ihre eigenen Wege. Aber vielleicht ist gerade die Langsamkeit unserer Entwicklung der Schlüssel zu unserer Intelligenz?
Das soziale Netz macht heutzutage seinem Namen alle Ehre: ein Haufen Löcher, der durch ein paar dünne Schnüre zusammengehalten wird. Hätten Sie’s gewusst? Der vollständige Name unseres nordhessischen Kultautors ist Andreas Whopper Harley Bonetti. Auf die zusätzlichen Vornamen bestand Bonettis Vater, ein leidenschaftlicher Biker und Burgerfan.
Ostfriesland ist eine Gegend, die mir das Gefühl gibt: hier hat man vergessen, die Wohnung einzurichten. Kein Wald, kein Hügel, keine Viehherde – einfach nix. Die totale Leere. Aber unglaublich nette Leute. Extrem gelassen, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Dagegen ist jeder Eskimo ein Heißblut. Zen-Buddhismus an der Nordsee. Ohne Worte.
Es gibt Ecken, da ist Berlin unglaublich wichtig. „Machense ma Platz, hier kommt die Weltstadt.“ Schlossneubau oder Potsdamer Platz. Die Ecken also, in denen man keine Einheimischen findet. Aber dann gibt es auch die Ecken, die keiner kennt. Die Ecken, die sich nie verändern. Hier träumt Berlin. Wie ein Baby, das beim Füttern schweigend in unbekannte Fernen blickt und man sich fragt: Was denkt das Kind gerade? So eine Ecke ist Schmöckwitz (mit langem Ö gesprochen). Oder die alten Regatta-Tribünen von den Olympischen Spielen 1936 in Grünau, liebevoll verrottet und vergessen.
Wer hat eigentlich den Schlüsselbund erfunden? Wir kennen seinen Namen nicht, aber ich möchte mich bei ihm bedanken. Ohne seine grandiose Idee wäre es mir nicht möglich gewesen, alle Schlüssel auf einmal zu verlieren.
Bevor Bonetti morgens mit dem Schreiben beginnt, macht er seine berühmte Konzentrationsübung. Sein Kammerdiener muss sich dazu auf den Schreibtisch legen. Der Meister platziert ein Reiskorn auf dem Kehlkopf seines Untergebenen und holt dann mit seinem Samuraischwert aus. Mit einem einzigen Hieb spaltet er das Korn. Dann darf der Diener wieder gehen und Bonetti schreibt seinen ersten Satz.
In Sachsen nennt man das Hissen der Reichskriegsflagge „alternativen Patriotismus“.
In manchen international bekannten Fachausdrücken verbinden sich drei Weltsprachen miteinander, z.B. „Le Knoblauchtouch“.
Visage – Visage. https://www.youtube.com/watch?v=rHkTKyCnsRA
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