Samstag, 31. Oktober 2015
Blau
In drei blauäugige Frauen war ich in meinem Leben unsterblich verliebt, aber das schönste Blau ist IKB. International Klein Blau. Man sollte es im Original sehen, um seine suggestive Wirkung zu begreifen. Yves Klein hat es erschaffen. Seine Künstlername war „Le Monochrome“. Viele Galerien weigerten sich, seine Werke auszustellen, da er immer nur eine einzige Farbe verwendete. 1962 ist er im Alter von 34 Jahren gestorben.
Ein verrückter junger Mann im Nachkriegsfrankreich. Eine Ausstellung nannte er „Le Vide“ (die Leere). Anlässlich seines dreißigsten Geburtstags veranstaltete er sie in einer Pariser Galerie und verlangte unglaubliche 1500 Francs als Eintritt. Dreitausend Neugierige mussten von den Sicherheitskräften in Schach gehalten werden. Zu sehen war – nichts. Ein leerer Raum mit einer leeren Vitrine. Nach drei Minuten durften die Besucher den nächsten Gästen Platz machen.
Wenige Monate vor seinem Tod heiratete Klein. Die Geburt seines Sohnes erlebte er nicht mehr.
Stone Temple Pilots – Plush. https://www.youtube.com/watch?v=tXhmwMdUKfA
Freitag, 30. Oktober 2015
Der erste Mord
Im Zusammenhang mit der Migrationswelle 2015 hat es das erste Mordopfer gegeben. Ein vierjähriger Junge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ein deutscher Kinderschänder ist der Täter.
Was haben die Medien und die Rechtsradikalen nicht für Ängste geschürt: Unter den Flüchtlingen verbergen sich Terroristen und Gewalttäter. Es ist das genaue Gegenteil eingetreten: Unter den Menschen, die Spielzeug und Bekleidung zu den Flüchtlingen gebracht haben, war ein Mörder.
Life Unlimited
„Der Geist ist etwas ganz anderes als Intelligenz. Ich glaube nicht, dass ein sehr intelligenter Computer den menschlichen Geist kopieren könnte. Man kann eine total intelligente Maschine entwerfen, aber die Maschine wird nie eine neue Sprache, etwas ganz anderes erfinden, das glaube ich nicht. Eine Maschine hat keinen Geist. Keine Maschine kann mehr hervorbringen, als sie aufgenommen hat. Gerade darin besteht das Wunder des Lebens, dass es mehr hervorbringen kann, als es aufgenommen hat, und etwas ganz anderes hervorbringt, als das, was es aufgenommen hat. Das ist das Leben. Leben ist Geist. Darin unterscheidet es sich von der Maschine. Aber dieses Leben ist da bedroht, wo alles maschinell wird, wo alles von Algorithmen beherrscht wird. (…) Vielleicht werden wir irgendwann mithilfe von Technik Unsterblichkeit erlangen können, dafür werden wir das Leben verlieren. Wir werden Unsterblichkeit erreichen um den Preis des Lebens.“ (Byung-Chul Han)
Ich war Kunde bei LUC. Von der Idee war ich vom ersten Moment an überzeugt. Als das Unternehmen vor fünf Jahren an die Börse ging, hatte ich bereits im Vorfeld hundert Aktien gezeichnet und sie zum Ausgabepreis zugeteilt bekommen. Ich dachte, bei diesem Investment kann nichts schief gehen. Apple, Google, Amazon, Facebook – und eben LUC. The Life Unlimited Company.
Das Geschäftsmodell war so einfach wie genial. Das Bewusstsein eines Menschen wird nach seinem physischen Tod gespeichert und solange erhalten, wie Gebühren entrichtet werden. Die gespeicherten Gedächtnisse sind zwar nicht mehr geschäftsfähig und dürfen auch nicht mehr an Wahlen teilnehmen, aber sie gelten juristisch als Personen, deren Rechte geschützt sind. Sie können kommunizieren und Informationen wie Nachrichten, Bücher, Filme, Musik oder was auch immer wahrnehmen. Meine Eltern sind bei LUC untergebracht.
Ich habe die beiden Meldungen erst gar nicht in Verbindung gesetzt. Ich Idiot! Aber während des Meetings waren unsere Smartphones deaktiviert und als ich wieder online gehen konnte, waren meine LUC-Aktien ins Bodenlose gestürzt. Pennystocks. Mein Geld war praktisch weg. Auf zwei Serverfarmen waren Anschläge verübt worden. In Palo Alto und in New Jersey. Die verdammten Mortals! Eine Terrorgruppe, die gegen die digitale Unsterblichkeit kämpfte. 700.000 Gedächtnisse gelöscht. Die Originale in Kalifornien und die Backups an der Ostküste.
Es wird einen riesigen Prozess geben, denn es geht um 700.000 Morde. Die Versicherungen für die vielen gespeicherten Personen werden das Unternehmen überfordern. Die Versicherungssumme beträgt eine Million Dollar pro Person. Das macht 700 Milliarden! Die Versicherung der LUC deckt nur einen Bruchteil davon ab. Meine Eltern sind weg. Noch einmal gestorben. Wir sind alle untröstlich. Meine Reservierung für eine Speicherung nach meinem Tod habe ich natürlich sofort zurückgezogen. Die Reservierungsgebühr ist auch weg.
Aber ich habe schon die nächste Investmentidee: Outdoor-Hologramme. Sie sind täuschend echt und man kann mit ihnen wundervolle Fassaden und gepflegte Vorgärten simulieren, wo eigentlich nur schäbige Hütten und Beton zu finden sind. Der Börsengang von EBI (Eternal Beauty International) ist für den 28. Februar 2033 geplant.
Fehlfarben - Hier und Jetzt. https://www.youtube.com/watch?v=2DmT_UYLS8o
Donnerstag, 29. Oktober 2015
Ganz unten
„Er hatte mich nicht gehört. Ganz in sich versunken saß er in seinem Sessel. Ich wusste nicht, ob er schlief oder wach war, ob er lebte oder längst gestorben war. Aus müden halbgeöffneten Augen starrte er ins Leere.“ (Lupo Laminetti)
Brief an eine Freundin, 12.9.2013:
Du hast Recht. Das alte Leben, Schriftsteller mit leichtem Reisegepäck, ist vorbei. Als mich mein Vater in Berlin abgeholt hat, stand ich in meiner unvermeidlichen Jeans-Jacke und mit ein paar Habseligkeiten in einer Aldi-Tüte vor dem Haus. Ich habe das Träumer-Leben bis zum Mai dieses Jahres ausgereizt, jetzt ist es verschwunden. Aus dem leichten Gepäck ist ein Nichts geworden. Alles, was mir in meinem alten Leben Spaß gemacht hat, ist weg. Ich kann nicht mehr lesen, oft lege ich nach einer halben Seite das Buch angeekelt weg. Schreiben geht auch nicht mehr. Welche Geschichten sollte ich noch erzählen? So liege ich wie Kafkas Käfer hilflos in meinem Bett und schaue den anderen beim Leben zu. Es ist, als wäre eine Glaswand zwischen mir und den anderen Menschen. Ein wenig neidisch schaue ich auf die Leute um mich herum, die wie selbstverständlich ihr alltägliches Leben mit den vielen kleinen Verrichtungen führen. Sie haben ihre Arbeit, ihre Familie, sie tragen Verantwortung, während mein Leben vollständig von der Krankheit beherrscht wird. Müdigkeit, Lustlosigkeit, Kraftlosigkeit. Die Matratzengruft in Schweppenhausen. Im Juli und August war es sehr schlimm, da wollte ich nicht mehr leben. Jetzt ist es etwas besser und ich habe diese Woche sogar zum ersten Mal Freunde getroffen. Seit kurzem habe ich auch eine Therapeutin, die mir mühsam das Lächeln beigebracht hat, das ich tatsächlich über die letzten Monate vergessen hatte. Es wird noch lange dauern und manchmal denke ich, dass ich einfach krank bleibe. Den Rest meines Lebens werde ich im Bett liegen bleiben ...
Brief an eine Freundin, 17.9.2013:
Bei der Psychotherapeutin ging es gestern um meine Mutter. Ihre Alkoholsucht habe meine Erziehung beeinträchtigt, ich sei quasi Halbwaise gewesen. Der Vater war bei uns ausgezogen, als ich in der ersten Klasse war. Meine Schwester hätte das alles besser verarbeitet, Mädchen wären da generell stärker. Ich will nicht erwachsen werden, sagt sie. Immer nur Jeansjacke, wichtige Entwicklungsaufgaben nicht bewältigt, jetzt stehe ich ohne Frau und Kind, ohne Beruf und Haus da. Stimmt schon, ich bin ein ewiger Jugendlicher, der für das Erwachsenenalter keinen Plan hat. Ich dachte eben, das geht immer so weiter. Sie empfahl mir statt den alten Schwerpunkten Lesen und Schreiben die Niederungen des Lebens, den Alltag inklusive Haus- und Gartenarbeit. Analyse ist okay, die Ratschläge sind aber unbrauchbar für mich …
Brief an eine Freundin, 12.10.2013:
Bei mir war auch einiges los: Am 2. Oktober habe ich aus Frust über meine Krankheit am helllichten Tag eine Flasche Schnaps geleert. Mein Vater fand mich bewusstlos auf dem Boden liegend und holte einen Notarzt. Auf der Intensivstation des Kreuznacher Krankenhauses bin ich wieder aufgewacht. Mit allen Apparaten drum herum, einer Kanüle im Arm und einem Katheter im Schwanz. Zwei Tage später schickten mich die Ärzte in die Nervenheilanstalt, weil sie die Sache als Selbstmordversuch gewertet haben. Zwei junge, höfliche, blonde Menschen banden mich an einen Stuhl fest und brachten mich nach Simmern. Dort war ich vier Tage unter den Bekloppten. Mein Zimmergenosse schlief jede Nacht auf dem Gang in einem abgestellten Bett und geisterte den ganzen Tag durch die Station. Er hat kein Wort mit mir geredet und kam nur gelegentlich in unser Zimmer, um eine Weile stumm aus dem Fenster zu schauen. Dann gab es den Typen, der ständig gelabert hat und mir schon beim Frühstück Beleidigungen und Drohungen an den Kopf geknallt hat. Zwanzig Jahre Psychiatrie sage ich nur. Dazu die Sorte Dorftrottel, die stumm durch die Gänge torkeln sind und Grimassen schneiden. Dazwischen einen depressiven Alten, Millionär – aber ohne Seele nach eigener Auskunft. Oder die nette Frau, die wegen Medikamentenentzug zwei Monate in dieser Hölle verbringen muss, obwohl sie normal ist. Ich habe praktisch den ganzen Tag im Bett gelegen und nur die Wände angestarrt. Jetzt bin ich wieder zu Hause, aber es geht mir immer noch schlecht. Ich habe nicht mehr das Gefühl, nochmal gesund zu werden, und quäle mich durch die öden Stunden meines Lebens.
Brief an eine Freundin, 24.10.2013:
Meine Krankheit ist für Außenstehende schwer zu verstehen. Vielleicht hilft dieses Bild: Ein winziges, kaum lausgroßes Insekt bewegt sich unendlich langsam und dennoch verstörend konstant über das Gebirge der Raufasertapete an meiner Wand. Es muss vor Stunden losgegangen sein, um in mein Blickfeld zu kommen, und es wird Stunden brauchen, um es wieder zu verlassen. Während ich es beobachte, frage ich mich: Fühlt es sich schwach, hilflos oder einsam? Vermutlich nicht. Aber ich bin schwach, hilflos und einsam. Das Insekt ist stärker als ich. Das bedeutet Depression.
Brief an eine Freundin, 10.11.2013:
Inzwischen geht es mir wieder etwas besser. Nachdem der letzte Monat von Gedanken an ein Leben in der Irrenanstalt und Selbstmord geprägt war, hat sich im November eine dünne Schicht neues Selbstbewusstsein gebildet. Oder besser: Angstfreiheit. Ich gehe alleine spazieren und besuche Freunde. Lesen klappt auch wieder, gestern und heute jeweils 150 Seiten Hemingway. Eigentlich hätte ich hier die Situation, die du von Edvard Grieg schilderst: Idylle, Ruhe, viel Platz und Zeit für die Kunst. Aber der Schriftsteller und Lebenskünstler aus Berlin ist hier im Hunsrück zu einem langweiligen alten Mann geworden. Kreativität, Humor und Optimismus sind vergangen, der Blick auf mein Leben ist nach dem Abschied von Alkohol und Drogen buchstäblich nüchtern und ernüchternd. Das Licht ist aus – hoffentlich nicht für immer.
Edvard Grieg: Morgenstimmung. https://www.youtube.com/watch?v=GyobDmGPhKI
Tagebuch, 6.4.2014:
Nachmittags Bundesliga bei J., danach ein paar Stromberg-Folgen. Auf dem Nachhauseweg war die Dorfkneipe schon geschlossen (um 20 Uhr!) und in der Dorfpizzeria ist niemand ans Telefon gegangen. Nachts habe ich von einem ausgedehnten Spaziergang durch Wilmersdorf geträumt, ich sah prächtige stuckverzierte Altbauten und ausgedehnte Schmuckplätze. Ich bin dann mit meinem Gepäck, das ich die ganze Zeit trug, in ein Gasthaus eingekehrt. Ich habe Bier getrunken und Krebsfleisch auf Brot gegessen. Bei der Suche nach der Toilette auf dem Hinterhof habe ich mich verlaufen. In einem weiteren Traum habe ich mit ein paar Komplizen die Zentrale einer Mafiaorganisation ausgeraubt. Wir sind eingebrochen und haben das viele Geld in Pakete verpackt, die wir in der Poststelle des riesigen Gebäudes abgelegt haben. Dann haben wir einzeln und verkleidet (einer sogar als Tiger!) das Gebäude verlassen, die Beute würde uns in den nächsten Tagen per Post erreichen.
Tagebuch, 16.1.2015:
Ich kann mich noch genau an den Anfang vom Ende erinnern. Es war am 26.5.2013 gegen 15 Uhr, ich sah gerade den Monaco-Grand Prix im Fernsehen. Am nächsten Morgen war ich endgültig hinüber. Das Ende vom Ende war in den ersten Novembertagen 2013. Dazwischen dachte ich wirklich, alles wäre vorbei. Für immer.
New Order - True Faith. https://www.youtube.com/watch?v=zzeNAUOp17c
Mittwoch, 28. Oktober 2015
Jetzt drehen sie völlig durch!
Ja geht’s noch? Seid’s narrisch da drunten? Der große Häuptling Crazy Horst droht – im Augenblick noch „angeblich“ – mit dem Rückzug seiner Minister aus der Bundesregierung. Nicht auszudenken – plötzlich ist der Dobrindt weg. Der Maut-Wastl mit dem Kifferblick. Und dann noch Müller und Schmidt. Kennen Sie nicht? Der eine macht Entwicklung, der andere Landwirtschaft. Wer was genau macht, habe ich vergessen. Eine Bundesregierung ohne CSU-Minister? Das ist der Zusammenbruch. Da kann die Merkel im Führerbunker ja gleich in die Zyankali-Kapsel beißen. Was machen wir ohne die CSU?
Und schon wittert auch der mopsgesichtige Fleischklops von der SPD Morgenluft. Der Siggi hat sich bei Mutti ja bequem im Kinderzimmer eingerichtet. Und jetzt? Kanzlerkandidat will er werden? Der Siggi??? Aus heiterem Himmel will er mit einem Mal Kanzler werden, wo er doch nicht mal seine Arbeit im Wirtschaftsministerium so richtig kapiert hat. Wie will er das machen? Mit den Grünen? Dann gibt’s bald Veganer-Parkplätze vor dem Biomarkt. Mit den Linken? Da hat er die Frau von Oskar Gottseibeiuns Lafontaine an seinem Regierungstisch sitzen. Quasi: Nebenregierung in Saarbrücken.
Wollen die Jungs ihre Bestrafungsphantasien ausleben? Oder ist das alles nur eine Riesenshow für Halloween?
Massive Attack – Karmacoma. https://www.youtube.com/watch?v=Vi76bxT7K6U
Blogstuff 11
„Gesetzt den Fall, wir würden eines Morgens aufwachen und feststellen, dass plötzlich alle Menschen die gleiche Hautfarbe und den gleichen Glauben haben, wir hätten garantiert bis Mittag neue Vorurteile.“ (Georg Christoph Lichtenberg)
Was bedeutet es, dass Linke jetzt plötzlich der CDU-Kanzlerin wegen ihrer Flüchtlingspolitik ihr vollstes Vertrauen aussprechen? Und in Sachen Überwachungsstaat der FDP nachlaufen? Es hat in Deutschland immer nur Vorschläge an die Herrschenden gegeben, aber nie die Umsetzung eigener Ideen. Wir machen Anträge zur Tagesordnung, aber wir stellen die Tagesordnung nicht in Frage. Politisch und ökonomisch sind wir ganz dick mit Chinesen, Arabern und Amerikanern befreundet, wir hofieren eifrig diverse Massenmörder – Leute, die wir privat nie auf eine Party einladen würden. Ein merkwürdiges Zeitalter …
„Integration ist die vornehme Bezeichnung für Anpassung, mit der eigentlich Unterwerfung gemeint ist.“ (Lupo Laminetti)
„Parallelgesellschaften“ existieren übrigens in Deutschland schon sehr lange. In der Nähe von Frankfurt gibt es die Stadt Neu-Isenburg, die 1699 von geflüchteten französischen Protestanten gegründet wurde. Die Hugenotten sprachen ausschließlich Französisch, Deutsch als Amtssprache wurde erst 1829 eingeführt. Immer mehr Bio-Deutsche zogen in die aufstrebende Industriestadt, 1911 wurde die erste katholische Kirche eingeweiht.
Unterschriftensammlungen sind auch nichts Neues. Den „Krefelder Appell“ der Friedensbewegung gegen die sogenannte „NATO-Nachrüstung“, die am 12.12.1979 beschlossen worden war, unterschrieben von 1980 bis 1983 (Stationierungsbeschluss des Deutschen Bundestags) über vier Millionen Menschen. Ich auch. Genutzt hat es nix. Die Unterzeichner wurden als „fünfte Kolonne Moskaus“ und als „nützliche Idioten der SED“ diffamiert, die US-Atomwaffen kamen trotzdem nach Deutschland.
„An den Olymp glaube ich nicht, aber ich will ihn mir auf Erden bereiten und mich so lange des Lebens erfreuen, bis mich der Pfeil des göttlichen Bogenschützen trifft oder bis ich mir auf Befehl des Kaisers die Adern öffnen muss.“ (Henryk Sienkiewicz: Quo Vadis)
Hätten Sie’s gewusst? Belgien wurde erst 1830 erfunden. Das Wort Belgien hatte sich Julius Cäsar aber schon sehr viel früher ausgedacht.
„Wer wird die Erde beherrschen? Der Mensch, der das letzte Getreide erntet.“ (Lupo Laminetti)
Neulich beim Mittagsbuffet eines Chinesen am Bahnhof in Bad Kreuznach. Zwei Frauen am Nachbartisch. Es fällt der Satz: „All you can eat – das ist mir einfach zu viel.“
„Sie sind leicht mit den Gründen zufrieden, wenn ihnen nur die Behauptungen gefallen.“ (August Pauly)
Im vergangenen Jahr wurde ein Flugzeug mit einer russischen Rakete abgeschossen. Also waren es die Russen. Ganz klar! Wenn jemand mit einem amerikanischen Revolver erschossen wird, kann es ja nur ein Amerikaner gewesen sein.
„Er gehört zu mir / Wie das Leergut vor der Tür.“ (Marianne Rosenberg)
Nützliches Wissen für den Party-Smalltalk, Teil 76: 1810 erfand der britische Kaufmann Peter Durand die Konservendose, die man zunächst noch mit Hammer und Meißel öffnen musste. Der Dosenöffner wurde erst 45 Jahre später von Robert Yeates erfunden, lange nach Durands Tod.
„Glücklich ist, wer verfrisst, was nicht zu versaufen ist.“ (Berliner Volksweisheit)
Wir sind die fetteste Generation der Menschheitsgeschichte. Hedonistische Hyperphagie wird unsere Zivilisationskrankheit in der Fachsprache genannt. Aber bekanntlich wird ja bei Beerdigungen immer reichlich gegessen.
„Fatal ist mir das Lumpenpack, das, um die Herzen zu rühren, den Patriotismus trägt zur Schau, mit allen seinen Geschwüren.“ (Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen)
43 Jahre hat das wiedervereinigte Deutschland von der Gründung bis zum großen Krieg gebraucht: 1871 bis 1914. Freuen wir uns auf 2033. Ausgerechnet in diesem Jahr gehe ich in Rente …
„Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.“ (Jean-Jacques Rousseau)
Der Franke „Doc“ Guttenberg gehört jetzt zum „Gombedensdeam“ der CSU. Danke für diesen Neologismus, in dem sich sämtliche Eigenheiten des fränkischen Idioms vereinigen lassen. Man nehme einen lateinischen und einen englischen Begriff, kombiniere sie und transferiere sie in den bajuwarischen Politsumpf – et voilà: Gombedensdeam. Läuft!
DJane Therese Goldhelm proudly presents: Freur - Doot Doot. https://www.youtube.com/watch?v=l-12pgArPhU
Was willst du eigentlich?
Rockstars, die auf rebellische Art in ihre Limousine einsteigen. Berühmte Schauspielerinnen, die ihre Fünftausend-Dollar-Kleider ohne Lippenstift präsentieren. Bankmanager, die sich mit einem Hot Dog fotografieren lassen.
Diese Welt ist gut.
The Clash - Guns of Brixton. https://www.youtube.com/watch?v=wqcizZebcaU
Dienstag, 27. Oktober 2015
Beobachtung im Einkaufszentrum
„Protect me from what I want." (Jenny Holzer)
Das Einkaufszentrum, das ich einmal in der Woche aufsuche, ist so groß, dass auf der zentralen Bewegungsachse zwischen der Metzgerei und den Kassen Sitzbänke aufgestellt sind, auf denen vorwiegend ältere Menschen ausruhen. Dort sitze ich gelegentlich und betrachte eine Viertelstunde oder länger das Geschehen. Es ist später Vormittag, wir sind auf dem Land und deswegen geht es durchaus gemächlich und entspannt zu. Menschen treffen sich und bleiben für eine Weile stehen, um ein wenig zu plaudern. Frauen mit mortadellafarbenen Steppjacken und honigfarbenen Dauerwellen, Männer mit schokoladenbraunen Ledermänteln und nikotingelben Walrossschnurrbärten. Gegenüber meiner Bank arbeitet eine Verkäuferin, gleichmäßig und stumm.
Sie ist nicht mehr jung und trägt den grünen Kittel, den alle Angestellten des Einkaufszentrums tragen, und ein Namensschild. Während sie mit gebeugtem Rücken palettenweise Kaffeepäckchen in ein Regal einräumt, bittet sie ein alter Mann um Auskunft. Sie steht für einen Augenblick gerade und erklärt ihm den Weg. Dabei hält sie den rechten Arm angewinkelt, die Hand hängt schlaff herunter. Eine Geste, die in früheren Zeiten den Hofdamen vorbehalten war, und die über den Landadel und das Bürgertum schließlich den plebejischen Nährstand erreicht hat.
John Fred and his playboy band - Judy in disguise. https://www.youtube.com/watch?v=Biu95fyvmLI
Nova Berlin
„Das Problem mit der heutigen Jugend ist, dass man selbst nicht mehr dazugehört.“ (Salvador Dali)
„Bist du zum ersten Mal hier?“ Sie fragte, ohne mir in die Augen zu sehen.
„Ja. Ich hatte es mir irgendwie anders vorgestellt.“
„Wie? Anders?“
„Na, anders eben. Größer.“
Nova Berlin. Dreihundert Einwohner und ein Hermelin. Und das Hermelin saß auf ihrer Schulter und sah mich an.
„Du kommst aus der Stadt.“
„Ja“. Ich sah zu, wie sie das Desinfektionsspray auf die Wunde sprühte.
„Hast du auch einen Namen?“
„Ja, Entschuldigung. Ich heiße Jean-Yves Beuteltier.“
„Bötltjé?“ Sie verzog ihren Mund.
„Richtig. Man schreibt es wie das Beuteltier.“
„Dann nenne ich dich Beuteltier.“ Ihre Nase war unglaublich schmal und ihre Augen hatten die hellgraue Farbe von Rauch.
„Jean-Yves wäre mir lieber.“
Sie lachte. „Nein. Beuteltier gefällt mir.“ Dann begann sie, die Mullbinde um meinen Unterarm zu wickeln.
Ich sah mich in ihrer Küche um. Jede Menge Elektronik. Keine Ahnung, was sie damit machte.
Sie folgte meinen Blicken. „Ich bin Musikerin.“
„Was für Musik?“ Sie war höchstens zwanzig. Vielleicht noch jünger.
„Wenn ich Lust habe, spiele ich dir was vor“, sagte sie, und das Hermelin schnupperte neugierig in meine Richtung.
Ich nickte und sah aus dem Fenster. Der Horizont war so weit wie auf dem Meer.
The Who – Who Are You? https://www.youtube.com/watch?v=PdLIerfXuZ4
Montag, 26. Oktober 2015
Han Solo
Wie ein geölter Blitz – man glaubt es kaum –
Durchfliegt sein Falk der Welten Raum.
Der schwarz zwar, doch nicht gänzlich leer,
Da angefüllt mit Schiffsverkehr.
Von hinten tut ihn arg bedrücken
Ein böser Schurke voller Tücken.
Doch ist’s im Filmgeschäft ein Muss:
Am Ende gibt’s den dicken Kuss.
Lea heißt das schöne Kind,
Das er nun rettet lichtgeschwind
Es war einmal in ferner Zeit -
Siehst du den Film, weißt du Bescheid.
Wer mag ihn nicht, den grünen Molch
Und Luke mit seinem Laserdolch,
Den Vater aus der finst‘ren Grotte
Und seine große Weltraumflotte.
Alan Parsons Project - I Robot. https://www.youtube.com/watch?v=M8f-q_npPqE
Kochstudio Berlin
Viele Köche verderben den Brei, heißt es. Das gilt auch für die Politik. Ungelegte Eier schießen wie Pilze aus dem Boden. Politiker sind eigentlich ganz arme Würstchen, die auch nur mit Wasser kochen. Viele ihrer vollmundigen Versprechen sind geschmacklos oder einfach nur kalter Kaffee. Der aufmerksame Bürger riecht den Braten und gibt keinen Pfifferling auf das Geschwätz von Politikern, die nur Rosinen im Kopf bzw. in ihrem Erbsengehirn haben. Bevor wir in den sauren Apfel beißen, versalzen wir ihnen lieber die Suppe, die sie uns eingebrockt haben. Dieser Käse macht den Kohl auch nicht fett – und dann wollen sie auch noch eine Extrawurst gebraten haben! Sie sind immer wie aus dem Ei gepellt und finden ein Haar in jeder Suppe. Wie die Katze schleichen sie um den heißen Brei herum und spielen gerne die beleidigte Leberwurst, dabei ist doch alles klar wie Kloßbrühe. Diese Ulknudeln hauen sich gegenseitig in die Pfanne und leben wie die Made im Speck. Obwohl Schmalhans Küchenmeister ist und der Bürger nichts zu beißen hat, soll er für sie die Kastanien aus dem Feuer holen. Man könnte Hackfleisch aus diesen Pfeffersäcken machen, die offensichtlich Tomaten auf den Augen haben. Obwohl sie nur ganz kleine Brötchen backen, sind sie für einen Apfel und ein Ei zu haben. Vor den Wahlen, wenn es um die Wurst geht, schmieren sie uns Honig ums Maul, nehmen den Mund ganz schön voll und können uns plötzlich aus der Hand fressen. Aber nur in Ausnahmefällen zeigen diese treulosen Tomaten sich von ihrer Schokoladenseite und können uns ihre Schnapsideen schmackhaft machen, die plötzlich weggehen wie warme Semmeln. Doch meistens haben wir von ihnen die Schnauze voll und könnten vor Wut kochen. Mein Tipp: abwarten und Tee trinken. Mahlzeit!
The Andrews Sisters - Rum And Coca-Cola. https://www.youtube.com/watch?v=WiayZdPESno
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Der große Herbstknüller! Investigative Gebrauchslyrik at its best! “RWE – Schicksalsstrom der Deutschen”. Von Johnny Malta. Jetzt in jedem siebten Ei.
Sonntag, 25. Oktober 2015
Andy Bonetti’s Schatzinsel, Teil 2
„Da er für gewöhnlich auf dem Meere lebte und vom Festland kaum mehr kannte als die eine oder andere Küste oder vielmehr nur jenen Teil der Erdkugel, den die Vorsehung für Bars, Tanzlokale und Kneipen – dieses Paradies der Seeleute – aufbewahrt zu haben scheint, so war seine einfache Natur von all den moralischen Unaufrichtigkeiten verschont geblieben, die nur allzuoft nach der bekannten Manufakturware ‚Ehrbarkeit‘ schmecken.“ (Herman Melville: Billy Budd)
Am nächsten Tag landete ich auf dem Flughafen von Palma. Mehr darf ich über die genaue Lage der geheimnisvollen Schatzinsel aber nicht verraten.
Ich nahm mir ein Zimmer an der alten Mole und ging in eine Bar namens „El Hurón“. Als ich gerade meinen dritten Rum vor mir stehen hatte, setzte sich ein Hüne mit einem ziegelroten Säufergesicht neben mich, auf dessen Schulter ein Papagei saß. Wir kamen ins Gespräch. Sein Name war John Silver und er behauptete, der Vogel sei über zweihundert Jahre alt und habe schon mehr Schlechtigkeit auf dieser Welt gesehen als der Teufel persönlich.
„Taler und Dublonen“, kreischte der Papagei. „Taler und Dublonen.“
„Was willst du auf der Insel machen?“ fragte er mich, während wir zwei Gläser Rum leerten, die er spendiert hatte.
„Ich will nach Inca ins Landesinnere.“
„Was für ein Zufall“, lachte er. „Ich fahre morgen früh mit meinem Jeep in die Richtung. Ich will nach Alcudia.“
Und so kam es, dass ich am nächsten Morgen in seinem Wagen saß. Die Sonne schien und er begrüßte mich mit einem fröhlichen „Ahoi“.
Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und bemerkte erst nach einer Weile, dass auf dem Rücksitz noch ein anderer Mann saß.
„Das ist Israel Hands. Bin mit ihm zur See gefahren. Hands ist Smutje, wir haben zusammen in Yokohama angeheuert“, erzählte Long John Silver gutgelaunt.
Als wir bei sieben Glasen endlich Inca erreicht hatten, war ich um einiges Seemannsgarn reicher. Ich stieg aus, verabschiedete mich von den Matrosen, und der Jeep fuhr davon. Dann machte ich mich auf den Weg zum Stadtrand und von dort ging ich durch die Felder und Olivenhaine nach Westen.
Es war fürchterlich heiß, aber ich marschierte tapfer weiter. Ich erreichte Lloseta und betrat den Wald nördlich der Ortschaft. Hier setzte ich mich auf einen Stein und packte mein Sandwich aus. Zeit für eine Pause. Harte Arbeit stand mir bevor. Aber auch eine große Belohnung. Ich würde einen Schatz ausgraben!
Mit einem Lächeln biss ich in mein Sandwich.
„Taler und Dublonen“, kreischte es hinter mir. „Taler und Dublonen.“
Ich drehte mich um und blickte in zwei Pistolenmündungen.
„Gib uns die Karte, du Landratte“, sagte John Silver und der Papagei auf seiner Schulter krächzte hämisch, als ob er lachen würde.
„Welche Karte?“ fragte ich undeutlich zwischen Käse und Brot hindurch.
„Die Schatzkarte. Wir gehören zur Crew des alten Flint. Oder sollen wir dich gleich erschießen?“
„Ich habe die Karte nicht dabei. Den Weg zum Schatz habe ich auswendig gelernt.“
Die beiden Piraten stutzten und sahen sich gegenseitig an. Diesen Augenblick der Verwirrung nutzte ich und schmiss Silver mein Sandwich ins Gesicht. Dann warf mich mit einer Hechtrolle in die Büsche. Ich hörte ein paar Schüsse und einen Schrei. Aber ich war es nicht. Ich rannte einfach weiter in den Wald und kam bald darauf an eine Blockhütte.
Ich klopfte an und ein zerzauster Mann mit wirrem Haar und Rauschebart öffnete die Tür. Er lächelte mich an und entblößte dabei seine fast zahnlosen Kiefer.
„Hab einen von ihnen erwischt“, sagte er und hob seine Flinte in die Höhe. „Komm erst mal rein.“
In seiner Hütte roch es nicht gut. Hier hätte man mal wieder Klarschiff machen müssen. In einer Ecke lag eine zerschlissene Matratze. Es gab einen Tisch und einen Stuhl. Er bot mir den einzigen Sitzplatz an und lehnte sich ans Fenster. Dann erzählte er mir seine Geschichte. Auch er hatte zur Besatzung des berüchtigten Piratenkapitäns Flint gehört. Sein Name war Benny Gunn und man hatte ihn hier vor drei Jahren ausgesetzt. Sein größter Wunsch war ein Schluck Rum, aber ich hatte nur Apfelsaftschorle dabei.
Plötzlich klopfte es. Gunn legte den Zeigefinger an die Lippen – das internationale Zeichen für Schnauze-halten – und ging mit seiner Flinte zur Tür.
Es war Long John Silver, der mit einem heimtückischen Lächeln fragte, ob Bonetti hier wäre. Gunn verneinte und fragte, wie er ihn gefunden habe. Silver deutete nur auf den dreißig Meter hohen Flaggenmast neben der Hütte, an dem der Jolly Roger – das internationale Zeichen für Piraterie – flatterte. Gunn erzählte ihm, er hätte in den letzten drei Jahren niemanden getroffen, seit er in diesem Wald havariert sei. Silver nickte mürrisch und schlich davon. Ich war überzeugt, dass er noch eine Weile in der Nähe lauern würde.
In der Morgendämmerung schlich ich mich mit Gunn davon. Ich hatte ihm versprochen, den Schatz mit ihm zu teilen, aber er hatte abgelehnt. Nur ausreichend Rum sollte ich ihm in regelmäßigen Abständen zur Blockhütte bringen, was kein Problem gewesen wäre, da ich mich mit dem Schatz auf der Insel zur Ruhe setzen wollte.
Wir gingen der aufgehenden Sonne entgegen, denn in dieser Richtung war die Lichtung mit der alten Eiche. Und wirklich fand ich sie und wie auf der Karte beschrieben war in ihrer Krone ein Skelett befestigt, dessen ausgestreckter Arm in Richtung des Schatzes wies. Jetzt waren es nur noch fünfzig Schritte.
Mit klopfendem Herzen zählte ich meine Schritte. Dann holte ich den Klappspaten aus meinem Rucksack und begann zu graben. Wohl eine halbe Stunde grub ich den Waldboden um, während Gunn die Umgebung mit entsicherter Flinte im Auge behielt. Ich wollte schon fast die Hoffnung aufgeben, als ich mit meinem Spaten auf etwas Hartes stieß. Eine Truhe!
Ich zog sie aus der Grube und öffnete sie.
Sie war angefüllt mit alten Peseten. Die Scheine hatten fortlaufende Nummern. Wahrscheinlich bei einem Bankraub gestohlen. Alles völlig unbrauchbar. Ich brüllte meinen Zorn hinaus und warf den Spaten in den Wald.
Und so ging ich zurück nach Bad Nauheim und wurde Schriftsteller.
Mike Oldfield - Tubular Bells. https://www.youtube.com/watch?v=3IhNucymsq4
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Wieder da: „Vom Schlachtfeld auf den Friedensthron – Julius Cäsar in Bad Nauheim“ von Johnny Malta. Jetzt mit noch mehr Fakten!
Samstag, 24. Oktober 2015
Andy Bonetti’s Schatzinsel
„Der Gast war ein richtiger alter Seehund, den alle Plagen und Gefahren des Lebens auf dem Meere während der langen großen Seekriege jener Zeit niemals um den Geschmack an leiblichen Genüssen hatten bringen können. Seine Pflichten erfüllte er stets zuverlässig; aber Pflichten sind oft eine trockene Speise, die er darum gern mit starken gebrannten Wassern zu begießen und zu versüßen liebte.“ (Herman Melville: Billy Budd)
Es ist schon viele Jahre her und ich bin inzwischen ein alter Mann. Die Zeit ist gekommen, die Abenteuer niederzuschreiben, die ich als junger Kneipenwirt erlebt habe. Ich hatte damals die Schenke „Zum dreibeinigen Hund“ in der einsamen Bones Bay, einige Kilometer von Bad Nauheim entfernt. Es kamen nur wenige Gäste, zumeist rauflustige Trunkenbolde, aber das Geschäft ernährte seinen Mann. Ich erinnere mich noch genau an ihn, als wäre es gestern gewesen. Schwerfällig betrat er den Schankraum, mit einer Seemannskiste auf der Schulter. Er trug einen Dreispitz mit einer zerzausten Feder auf dem Kopf und einen schmutzigen dunkelblauen Mantel. Sein Gesicht war zerknittert wie altes Pergament, und er hatte eine hässliche Narbe auf der rechten Wange. Ein alter verwitterter Seebär vom Scheitel bis zur Sohle.
Tock. Bumm.
Tock. Bumm.
So klangen seine Schritte. Er hatte ein Holzbein.
„Nicht viel los hier“, sagte er und blickte in den Raum, der zu dieser frühen Stunde noch vollkommen leer war.
„Hier ist nie viel los“, sagte ich und wischte nervös mit einem Lappen über den Tresen.
„Beim Klabautermann, das ist genau der richtige Ankerplatz für mich“, sagte er und brach in ein grausames, kaltes Lachen aus, das mir einen Schauer den Rücken hinuntertrieb.
Er legte ein großes Goldstück auf den Tresen und sagte: „Ich nehme deine Gästekajüte. Werde hier ‘ne Weile dümpeln.“
Was soll ich sagen? Er blieb wochenlang. Ernährte sich nur von Rum und Fischstäbchen. Tagsüber ging er oft an den Strand und beobachtete mit seinem Fernrohr den Horizont. Billy McOatflake war sein Name.
Eines Tages, als mein Passagier wieder mal den blanken Hans mit seinem Fernrohr absuchte, betrat ein Fremder mein Gasthaus. Er hatte einen dunklen Anzug an, stank aber widerlich nach Fisch und trug an Stelle der linken Hand einen eisernen Haken.
„Wohnt hier ein gewisser McOatflake?“ fragte er mich mit einem verächtlichen Grinsen.
„Der kommt gleich wieder. Wollen Sie was trinken?“ antwortete ich.
„Rum.“
Ich schenkte ihm ein Glas ein, und er verzog sich in den hintersten Winkel der Kneipe.
Als Billy zurückkam, sagte ich ihm, er hätte Besuch.
Er nickte nur stumm, ließ sich einen Rum einschenken und ging an den Tisch des Fremden.
Sie unterhielten sich eine Weile leise, so dass ich nichts verstehen konnte.
Plötzlich wurde es laut, die beiden Männer brüllten und zogen ihre Säbel. Sie kämpften miteinander, der Fremde flüchtete durch die Tür. Billy lief hinter ihm her (tock-bumm, tock-bumm, tock-bumm) und holte zum tödlichen Schlag aus, doch er traf nur das Wirtshausschild, das an einer Stange über dem Eingang hing und einen dreibeinigen Hund zeigte. Noch heute ist die Kerbe auf dem Schild.
Er kam zurück in den Schankraum. Er atmete schwer und starrte mich an. Dann kippte er um und war bewusstlos.
Ich hievte ihn in sein Zimmer und holte den Arzt.
„Schlaganfall“, sagte er, nachdem er Billy untersucht hatte. „Der Mann braucht Ruhe. Und gib ihm bloß keinen Rum.“
Ich blieb den ganzen Nachmittag an seiner Koje sitzen. Billy redete wirres Zeug.
„Gib mir Rum, Andy. Nur einen kleinen Schluck. Ich muss den Anker lichten, sie werden wiederkommen und deine Kneipe entern. Die ganze Mannschaft des alten Flint. Sie wollen die Kiste. Ich bin der einzige, der den Platz kennt.“
Dann starb er. Ich saß eine Weile wie benommen in diesem unheimlich stillen Zimmer. Die Kiste. Sollte ich sie öffnen? Teufel, ich war jung, und ich hatte Ebbe in der Kasse.
Es war inzwischen finstere Nacht. Ich durchsuchte beim Schein einer Kerze seine Jacke nach einem Schlüssel. Nichts. Angewidert durchsuchte ich sein Hemd und seine Hosentasche. Nichts. Ich öffnete sein Hemd und sah den Schlüssel, der an einer Schnur um seinen Hals hing.
Ich öffnete die Kiste. Ein alter Kompass, ein paar Muscheln, eine Autogrammkarte von Käpt’n Iglo, ein Damenunterwäschekatalog. Ein Tagebuch mit dem Titel „Mein Leben als Seeräuber“. Und eine Karte.
Da klopfte es im unteren Stock an die Tür.
Verdammt, die Seeräuber, dachte ich. Ich tu einfach so, als wär ich nicht da.
Das Klopfen wurde lauter. Sie brüllten Billys Namen. Dann hörte ich, wie Holz splitterte. Sie brachen die Tür auf.
Ich öffnete das Fenster der Kombüse, die auf der entgegengesetzten Seite des Gebäudes war, und sprang hinunter in den weichen Heuhaufen.
Ohne mich noch einmal umzuschauen, rannte ich davon, so schnell ich konnte.
Fortsetzung folgt.
Nickelback - How You Remind Me. https://www.youtube.com/watch?v=1cQh1ccqu8M
Freitag, 23. Oktober 2015
Ehrlichkeit - Ehrlosigkeit
Die ganze Empörung über die Skandale von VW und DFB oder zuvor von Deutscher Bank und ADAC ist doch nur geheuchelt. Erfolg ist mit Ehrlichkeit offenbar unter den Bedingungen des Kapitalismus nicht vereinbar. Wir müssen uns entscheiden: Entweder Moral und kein Geld oder Geld und keine Moral. Wir haben uns entschieden. Wir leben wie die Made im Speck. Wir sind Fußballweltmeister, wir sind eine Macht auf dem Automobilmarkt, wir sind ein großer Waffenexporteur. Wir leben gut mit unserer Verlogenheit. Also sollten wir auch den Mut haben, zur schäbigen Grundlage unseres Wohlstands zu stehen. Wir sollten nicht mit dem Finger auf die Griechen zeigen. Der Finger zeigt auf uns. Wir sollten nicht den Türken Geld für eine brutale Grenzpolitik gegen Flüchtlinge zahlen, die wir aus „humanitären Gründen“ an unserer eigenen Grenze nicht durchexerzieren wollen. Aber für Selbsterkenntnis und Ehrlichkeit ist es offenbar längst zu spät.
Self-publishing
Früher gab es mal den Journalistenspruch: “Das bisschen, was ich lese, schreibe ich mir selbst.” Dieser Trend hat sich jetzt endlich flächendeckend durchgesetzt. Zum ersten Mal gibt es in Deutschland mehr Autoren als Leser. Das mag im ersten Moment erschrecken, aber seien Sie beruhigt. Das macht gar nichts. Die Umsätze der Verlage, der Buchhandlungen und der holzverarbeitenden Industrie werden deswegen nicht einbrechen. Denn die Autoren lassen ja auf eigene Kosten genug Exemplare ihrer Bücher herstellen. Mindestens ein Exemplar stellt man sich ins eigene Bücherregal, um vor Besuchern damit angeben zu können. Und mindestens zehn Exemplare kauft man, um sie an Freunde zu Geburtstagen, Hochzeiten oder einfach so zu verschenken. Natürlich hat niemand mehr Zeit, diese ganzen Bücher zu lesen, aber darum geht es ja auch nicht. Sie müssen hergestellt und verkauft werden. Das Lesen an sich ist nur eine Verschwendung von Zeit, die man für den Konsum anderer Güter und Dienstleistungen oder die Produktion neuer Bücher viel sinnvoller verwenden kann. Machen Sie also mit! Alte Tagebücher, Briefe, irgendeinen Mist werden Sie schon auf dem Dachboden finden. Schreiben Sie Ihre Memoiren, bringen Sie Ihre Urlaubserinnerungen zu Papier oder rächen Sie sich an Ihrem Ex-Partner. Self-publishing ist der heiße Scheiß des Jahres.
Paul McCartney - Coming Up. https://www.youtube.com/watch?v=NnHu-WLvY5U
Flüchtlings-„Krise“ für Dummies
„Die Tage werden unterschieden, aber die Nacht hat einen einzigen Namen.“ (Elias Canetti)
1. Was will die Wirtschaft? Profit. Wie erhöht sie ihren Profit? Sie braucht ein höheres Arbeitskräfteangebot, d.h. einen Arbeitsmarkt, auf dem man marginalisierte Gruppen unterschiedlicher Herkunft gegeneinander ausspielen kann, um die Löhne zu drücken. Sie braucht mehr Konsumenten und mehr Aufträge (Nahrungsmittel, Bekleidung, Wohnraum vom Container bis zum Mehrfamilienhaus usw.).
2. Was will die Politik? Macht / Kontrolle. Wie erhöht sie ihre Kontrolle? Sie braucht ein höheres Konfliktpotenzial in der Gesellschaft. In der Folge errichtet sie einen Polizeistaat, in dem sie den Sheriff spielen kann, um die weitere Aushöhlung der Grundrechte durchzusetzen. Divide et impera. Dazu werden die Staatsausgaben und logischerweise auch die Steuern erhöht, der Staatsapparat wird personell ausgeweitet.
3. Was wollen die Flüchtlinge? Irrelevant. Sie sind nur Instrumente, um ökonomische und politische Ziele zu erreichen.
Okay: Hilfe. Frieden. Sicherheit. Hoffnung.
4. Was will die Gesellschaft? Irrelevant.
Okay: Ruhe. Gleichschritt.
P.S.: Eine Anmerkung zur „Wir schaffen das nicht“-Fraktion, die sich hinter Sachzwängen und Paragraphen versteckt. Wir haben in Deutschland genug Nahrungsmittel, Kleidung, Geld, Platz und Baumaterial. Der entscheidende Engpass ist die Bürokratie. In Rheinhessen erlebe ich, wie die Dinge in der Praxis laufen – wenn man denn will.
Beispiel Vergaberecht: Üblicherweise muss sich die Stadtverwaltung für ihre Aufträge europaweit Angebote einholen. Das dauert. Darum hat man das Vergaberecht aufgehoben. Wer Zelte und Matratzen für die Flüchtlinge braucht, kauft sie ganz einfach. Vielleicht kostet es etwas mehr als nach dem monatelangen Prüfen von Angeboten in irgendwelchen Ausschüssen, aber so geht es einfach schneller.
Beispiel Baurecht: Bestimmte Vorschriften für Wärmedämmung usw. wurden aufgehoben, um möglichst schnell Wohnungen bauen zu können. Ohne Architekturwettbewerb, ohne Gutachten zum Brutverhalten der karierten Blattlaus. Aber es entstehen Wohnungen – und an Wohnungen mangelt es im Augenblick am meisten. Ein Bauantrag muss auch nicht sechs Monate im Eingangskorb des entsprechenden Sachbearbeiters verwesen, innerhalb von 24 Stunden kann da ein Stempel drauf. Und auf den Baustellen können sich die Flüchtlinge als Handwerker oder als Hilfsarbeiter sogar noch ein paar Euro für sich und ihre Familien dazuverdienen.
Der entscheidende Engpass in der Flüchtlingsfrage ist also der politische Wille. Ist der Wille vorhanden, finden sich auch Wege.
Passender Text zum Thema: http://frank-stauss.de/index.php/es-ist-zeit/?utm_content=buffer9c15a&utm_medium=social&utm_source=twitter.com&utm_campaign=buffer
P.P.S.: Ich kann die Flüchtlinge gut verstehen. Rheinhessen ist schön. Die Leute sind nett. Der Wein kostet beim Winzer keine drei Euro pro Flasche. Ich würde auch hierher gehen, wenn ich nicht schon da wäre. So betrachtet ist jeder Flüchtling ein Kompliment für diesen Landstrich.
P.P.P.S.: Dieser Tage hat es einen rechtsradikalen Mordanschlag auf die Kölner Oberbürgermeisterin gegeben, und in Bamberg wurde eine rechtsradikale Terrorzelle ausgehoben. Wären es in beiden Fällen Muslime gewesen, hätte diese Republik ihren Reichstagsbrand gehabt. Oder eine Pogromnacht wie 1938.
Nur einen Brandsatzwurf entfernt ist die Meldung, dass der israelische Ministerpräsident Netanjahu die Palästinenser für den Holocaust verantwortlich macht. Ein Jude behauptet das! Auch daran sind also die Muslime schuld. Wer hätte das gedacht? Steckt hinter dem VW-Skandal nicht in Wirklichkeit die Hamas? Und die Schmiergelder für unser Fußballsommermärchen 2006 kamen von der PLO. Logisch. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen …
U2 feat. Luciano Pavarotti - Miss Sarajevo. https://www.youtube.com/watch?v=gdczQ2LsY0I
Donnerstag, 22. Oktober 2015
Der Dekorateur – Exklusivinterview
„Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf, wenn du kommst, und es entlässt dich, wenn du gehst.“ (Franz Kafka: Der Prozess)
Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken. Am Arsch! Verstehen Sie? Ihr geht mir alle auf den Sack mit eurer Scheiße. Wo haben Sie gearbeitet? Ich meine, wo haben Sie als Dekorateur angefangen?
Das war ein absoluter Scheißladen. So ein Dreck! Ich hätte diesen verdammten Scheißladen gleich in die Luft sprengen sollen. Dynamit – und Tschüss. Alles klar? Aber wegen Sabine habe ich es nicht getan.
Ist Sabine Ihre Frau? Sind Sie verheiratet?
Nein, ich bin schon lange allein. Aber ich hatte viele Frauen. Sie haben mich geliebt. Sie haben mir ins Gesicht geschlagen. Sie haben auf Knien um Sex gebettelt. Ich habe alles erlebt. Selbst Frank Sinatra hatte nicht so ein Leben. „Fifty Shades of Grey“ sind ein Scheißdreck gegen mein Leben.
Wer ist Sabine?
Ich habe sie geliebt. Verdammte Scheiße! Ich habe dieses Miststück geliebt.
Was ist passiert?
Ich konnte es ihr nicht sagen. Sie war doch mit diesem Manfred zusammen. Dieses Arschloch aus dem Controlling! Ich hätte ihr alles gegeben! Verstehen Sie? Alles.
Und dann haben Sie angefangen, Ihre Ausscheidungen auf der Toilette zu dekorieren?
Das war doch alles wegen diesem verkackten Stück Scheiße namens Manfred! Ich habe am Anfang Zettel mit seinem Namen in die Scheiße gesteckt. Und irgendwann habe ich nicht mehr abgedrückt. Damit es alle sehen können!
Damit es alle sehen können?
Ja, verdammte Scheiße! Damit es alle sehen können, was für ein Riesenarschloch dieser Manfred ist. Der hat doch die Sabine gar nicht verdient. Eine absolute Traumfrau.
Und warum dann die anderen Dekorationen? Die Kerze, das Tütü?
Ich habe irgendwann gemerkt, wie die anderen Arschlöcher über mich geredet haben. Nicht über Manfred, sondern über meine Dekorationen. Also habe ich weiter gemacht. Mein ganzes Leben lang hat mich niemand beachtet, jetzt war ich plötzlich im Gespräch.
Und Sie haben einfach weiter gemacht?
Ja, das hat mich angestachelt. Wenn die Arschlöcher in der Teeküche oder in der Kantine über mich gesprochen haben. Was macht der Dekorateur als nächstes? Sie hatten so tolle Ideen! Ich konnte einfach nicht mehr aufhören.
Aber dann hat man Sie gefeuert?
Ja, dieses Arschloch von Chef. Ich musste in sein Büro. Der Personalchef saß auch schon da und ich ahnte nichts Gutes. Fristlos entlassen. Sie hatten ein ganzes Fotoalbum da. Ich konnte mich gar nicht mehr an alles erinnern. Aber sie hatten ein Foto von jedem Scheißhaufen, den ich dekoriert habe. Diese Arschlöcher!
Was machen Sie heute?
Das geht Sie einen Scheißdreck an! Einen Scheißdreck, verstehen Sie? Ich mache gerade eine Umschulung. Schaufenster, ist das klar? Gottverdammte Scheiß-Schaufenster! Ich werde diesen Typen in die Schaufenster kacken, genau das ist es, was ich machen werde! Ich werde alles vollscheißen, damit sie wissen, mit wem sie es zu tun haben!
Heaven 17 – Temptation. https://www.youtube.com/watch?v=e7_Rc7m_smQ
Werbung:
“Sabine – über sieben Schüsseln musst du gehen”. Von Friedhelm „Le Decorateur“ Bunsenbrenner. Neu! Muss man haben, wenn man mitreden will.
Der Dekorateur
„Ich gebe zu: Ich war erregt. Auf dem Teller lagen zwei pralle, braungebrannte Klöße.“ (Andy Bonetti: Bamberg sehen und sterben)
Wie hat das alles begonnen? Philosophisch? Ich bin Scheiße. Du bist Scheiße. Wir sind alle Scheiße. Und diese Firma ganz besonders. Oder mit einem Traum? Du kletterst auf den Mount Everest. Allein. Ohne Sauerstoff. Ohne Smartphone. Und als du endlich oben bist, setzt du einen riesigen Scheißhaufen auf den Gipfel. Oder: Du wirst zum König gekrönt. Wahnwitzig aufwendige Inszenierung. Tausende von Zuschauern. Der Adel, der Hofstaat, die Kostüme, die Trompeten. Würdevoll schreitest du zum Thron und setzt dich. Es ist die teuerste Toilette der Welt. Gold und Diamanten. Sitzfläche aus amethystfarbenem Brokat. Klopapier aus Seide. Und du seilst den Chinesen deines Lebens ab.
War es so? Hat es so angefangen? Ich hätte ihn das gerne gefragt. Aber ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen. Und da war es schon zu spät. Fristlos entlassen. Erklärungen überflüssig. Ich bin mir sicher, dass er eine Botschaft hatte: der Dekorateur. So haben wir ihn alle genannt. Monatelang. Der Dekorateur hat uns in Atem gehalten. Wir haben über ihn gesprochen. Wir haben gerätselt und uns die Köpfe zerbrochen: Wer kann es sein? Es muss einer von uns sein. Der Neue? Das Mobbing-Opfer aus der Buchhaltung? Vielleicht sogar der Chef himself? Aber es musste ein Mann sein. Der Dekorateur arbeitete nur auf der Männertoilette.
Die Anfänge der Geschichte liegen im Dunkeln. Das unterscheidet die Realität vom Roman. Vielleicht sind die ersten Werke des Dekorateurs von ratlosen Kollegen einfach hinuntergespült worden. Wem wollte man es auch erzählen? Und wenn man sie nicht entsorgt hätte, wäre man doch sofort selbst verdächtigt worden. Nicht auszudenken! Aber dann hat irgendeiner von uns das Eis gebrochen. Leise, ganz im Vertrauen.
„Hast du es auch gesehen?“
„Ja, unglaublich.“
„Wer kann das gewesen sein?“
Es sprach sich in der Abteilung herum wie das Gerücht über eine Affäre oder eine Schwangerschaft. Eine Geschichte, die in anderen Ländern unmöglich wäre, weil sie nicht diese deutschen Toiletten haben. Wo es eine Art Hutablage für den Kot gibt. Einen Präsentierteller – anstatt eines Rohrs in die gnädige Finsternis wie überall sonst auf der Welt. Der Dekorateur hat diese Möglichkeit erkannt. Und genutzt.
Ein Fähnchen. Ein zusammengerolltes Sitzungsprotokoll. Eine kleine Kerze. Ein staubtrockener Meeting-Keks. Ein rosa Tütü von einer Puppe. Jedes Mal war der Scheißhaufen anders inszeniert. Monatelang ging das so. Keiner von uns weiß, wie es am Ende herauskam. Keiner von uns hat ihn verpfiffen. Wahrscheinlich hat die Firmenleitung eine Kamera installiert. Es würde mich nicht wundern. Sie sehen uns beim Scheißen zu. Was soll’s? Das ist der Preis. Unsere Würde ist der Preis.
Jetzt ist er weg. Es ist ruhig geworden hier. Ich finde das bedauerlich, und ich bin mir sicher, dass es einigen anderen Mitarbeitern genauso geht. Aber natürlich würde das niemand zugeben. Nicht mal unter vier Augen.
P.S.: Mein Dank für die Story geht an den Kiezneurotiker.
„Die Geschichte vom Scheißedekorierer bleibt im Gedächtnis und wird von Generation zu Generation weitergegeben, der hat's geschafft, der Scheißedekorierer, der ist unsterblich.“
Massive Attack - Unfinished Sympathy. https://www.youtube.com/watch?v=ZWmrfgj0MZI
Mittwoch, 21. Oktober 2015
Ein denkwürdiges Interview mit Johnny Malta
„Lächeln ist das Zweitschönste, was der Mensch mit seinen Lippen tun kann.“ (Charles Bukowski: Trinksprüche aus der Hölle)
Frage: Wie sieht der Tag eines Schriftstellers aus?
Antwort: Ich wache auf, wenn ich ausgeschlafen habe. Irgendwann stehe ich auf und gehe in die Küche, um etwas zu essen. Ich schaue aus dem Küchenfenster, ob die Welt noch da ist. Wenn ich Lust habe, schreibe ich vormittags etwas. Meistens habe ich aber keine Lust. Dann lese ich einen Roman und höre Musik. So geht das irgendwie bis zum Beginn des Abendprogramms im Fernsehen. F: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?
A: Das war in den siebziger Jahren. Wilde Zeiten. Ich ging auf die Bill-Haley-Grundschule in Delmenhorst. Dort hat man mir das Schreiben beigebracht.
F: Wie hat der Erfolg Ihr Leben verändert?
A: Welcher Erfolg?
F: Werden Sie auf der Straße erkannt und von Fans angesprochen?
A: Ich werde oft angesprochen. Aber es geht den Leuten meistens um Kleingeld oder geographische Auskünfte. Vor Wahlen sprechen mich auch junge Hilfspolitiker an. An deren Ständen gibt es oft Kugelschreiber, die ich für meine literarische Arbeit gut gebrauchen kann. F: Wie kommen Sie auf die Ideen für Ihre Bücher?
A: Es gibt nur eine Handvoll literarischer Basis-Plots. Die Struktur des Buches besorge ich mir aus Zusammenfassungen anderer Bücher im Internet oder aus der eigenen Lektüre von Romanen. Dann ändere ich einfach die Namen, den Ort und die Zeit. Wenn man auf diese Weise fünf oder sechs Romane miteinander vermischt, fällt es dem Leser gar nicht auf.
F: Fließen persönliche Erfahrungen und Erlebnisse in Ihre Romane ein?
A: Was für Erlebnisse? In Bad Nauheim ist nicht allzu viel los.
F: Wie gehen Sie mit Kritik um, mit Rezensionen und Diskussionen im Internet?
A: Ich habe zwei Dutzend Fake-Profile im Netz angelegt und schreibe auch anonyme Kommentare, wenn es geht. Das kann ich den ganzen Tag machen. Diese Strategie ist erstaunlich hilfreich.
F: Haben Sie einen Ratschlag für junge Autoren?
A: Heiraten Sie eine reiche Frau oder einen reichen Mann. Wenn Sie den Mut zur Bigamie aufbringen, tun Sie beides.
F: Warum haben Sie als hessischer Autor eigentlich nie für den Suhrkamp-Verlag gearbeitet?
A: Weil ich zu Ursula Unseld, geb. Schmidt, die sich öffentlich Ulla Unseld-Berkéwicz nennt, auf einem Sektempfang in der Villa Bonetti gesagt habe: „Wenn Erfolg so aussieht wie Sie, möchte ich keinen haben.“ Ich glaube, das hat sie mir übel genommen. Die Frau ging mir schon immer auf den Zeiger. Ich habe auch eine jüdische Großmutter, aber ich habe auf meinem Vierteljudentum kein Imperium der Betroffenheit errichtet.
F: Was ist Ihr Lieblingsbuch?
A: „Das Zuckerrübenprojekt“. Ich habe es 2011 geschrieben. Es geht dabei um die Besiedlung des Mars.
F: Was war Ihr erster Romanversuch? Haben Sie das Manuskript veröffentlicht oder liegt es irgendwo in einer Schublade?
A: Der Roman hieß „Johnny Silverflash und die Todespolizei vom roten Planeten“. Es ging dabei um die Besiedlung des Mars. Ich habe es als Siebzehnjähriger bei diversen Verlagen eingereicht und nur Absagen bekommen. Heute bin ich diesen Verlagen dankbar.
F: Gibt es schon Pläne für ein neues Buch? Können Sie uns schon etwas verraten?
A: Ich arbeite gerade an einem Projekt, in dem es um die Zukunft geht. Raumschiffe spielen eine große Rolle. Eine Gruppe Siedler ist zu einem anderen Planeten unterwegs, aber auf ihrem Schiff ist ein schreckliches Alien-Monster. Mehr darf ich Ihnen aber nicht verraten, sonst bekomme ich Ärger mit dem Verlag.
F: Haben Sie noch Träume?
A: Ich träume von einem Dutzend Teenager, die anfangen zu kreischen, wenn ich mich an einem Hotelfenster zeige.
F: Vielen Dank für dieses Gespräch.
A: Das war’s schon? Keine Fragen über Drogen oder Sex? Über meine Kollegen? Ich könnte Ihnen ein paar wirklich üble Sachen über Andy Bonetti erzählen. Hallo? Wo gehen Sie hin? He, Fräulein!?! Heißt das, ich muss die Getränke bezahlen? Wissen Sie überhaupt, was ein Schriftsteller verdient? Ich meine, so ein Schriftsteller wie ich! Verdammt …
P.S.: In diesem Text sind zwei Empörungsfallen für Frauen versteckt. Haben Sie beide gefunden?
Joy Division – These Days. https://www.youtube.com/watch?v=GbNEZ0otV70
Dienstag, 20. Oktober 2015
Grundkurs Internationale Politik
Es gibt drei Spielarten der internationalen Beziehungen: Gewalt, Geld und gute Worte.
Gute Worte: rationale Argumente und moralische Appelle. Leider überschätzt. Denn objektive Rationalität gibt es in der internationalen Politik so wenig wie in der nationalen. „Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall“ (Jerry Volksmund). Und moralische Appelle sind wohlfeil und daher vorwiegend Element der allseits beliebten Sonntagsreden, aber nicht Teil ernsthafter Verhandlungen.
Geld: in Deutschland „Scheckbuchdiplomatie“ genannt und in der Ära Kohl zu großem Ruhm gelangt. Man erkauft sich politische Gefälligkeiten oder kauft sich von der Teilnahme an Kreuzzügen frei (Beispiel: Irakkrieg 1991). Aktuell zahlt die Regierung Merkel Milliarden an die Länder des Vorderen Orients zur Aufbewahrung von Flüchtlingen, die den Frieden unserer Weihnachtsmärkte stören könnten.
Gewalt: ältestes Mittel der internationalen Beziehungen. Erspart den Dialog. Aber die schwäbische Hausfrau weiß: Ein Krieg ist leicht zu beginnen, aber nur schwer zu beenden. Zudem ist der Ausgang äußerst ungewiss - selbst bei stark asymmetrischen Kräfteverhältnissen (Vietnam 1955ff., Afghanistan 1979ff.). Im Gegensatz zu Geld und guten Worten bleibt bei der Anwendung physischer Gewalt oft ein Geschmäckle, so dass es zu weiteren Gewaltakten kommen kann.
Zum Abschluss der heutigen Sitzung möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Was ist Geschichte? Ja, Sie da hinten, der junge Mann aus England.
„It is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.” (Shakespeare: Macbeth)
Danke!
David Bowie – Qicksand. https://www.youtube.com/watch?v=oP2SS8ggLtU
Montag, 19. Oktober 2015
Was bieten die Medien in dieser Woche?
Rainer Brüderle und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in
DANN GEH DOCH IN DIE F.D.P.
Sie haben einen bescheuerten Namen? Sie nuscheln? Sie sehen Scheiße aus? Sie reden wirres Zeug?
Sehen Sie jetzt: DANN GEH DOCH IN DIE F.D.P.
In allen großen Lichtspielhäusern.
Ich finde: FDP-Bashing ist so 2013, der Film kommt einfach zu spät, um den Hype noch abzumelken.
Weiter: Das Nörgelblatt des deutschen Buchhandels spricht anlässlich der Frankfurter Buchmesse von einer „Meidungsbeziehung“ zwischen Mensch und Buch. Verantwortlich sind wie immer „die Medien“ und natürlich nicht die Kunden. Schon gar nicht die Verleger, die Lektoren oder gar die Autoren. Die schreiben nämlich immer noch astreine Romane, dufte Erzählungen und flotte Gedichte.
Das Bundesverteidigungsministerium begleitet seine neuen Auslandseinsätze (Mali, Oberbayern) zukünftig mit einer eigenen Zeitung: Uschi’s lustige Artillerie-Rundschau.
Es gilt auch weiterhin das alte Nietzsche-Diktum „Sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung.“
Benny Goodman - Goody Goody. https://www.youtube.com/watch?v=JB5U2Jj3jTg
Neulich bei Facebook
„Der Tod ist die radikalste Form des Protests: Er ist die ultimative Systemkritik, die totale Verweigerung von Ausbeutung und Unterwerfung, der endgültige Konsumverzicht.“ (Lupo Laminetti)
A: Ich finde es total armselig, dass die Regierung gegen Sterbehilfe ist. Da müsste man ein neues Gesetz machen. Mein Tod gehört mir!
B: Immer diese Fixierung auf die Obrigkeit. Wenn ich mich umbringen will, mach ich's einfach. Da brauche ich doch nicht die Erlaubnis aus einer Berliner Hüpfburg namens Reichstag, oder?
A: Nehmen wir mal an, ich habe einen schweren Unfall und ich kann mich nicht mehr bewegen. Außerdem habe ich unerträgliche Schmerzen und es gibt keine Heilung. Wenn ich mich dann entschließe, mein Leben zu beenden, möchte ich, dass derjenige, der mir hilft, straffrei bleibt.
B: Ich werde da sein, Alter. Und gegen die entsprechende Bezahlung werde ich es wie einen Unfall aussehen lassen. „angel“-Emoticon
A: Haha, ok, ich werde es mir merken. Aber bitte vorher fragen. Nach meinen Einträgen zu urteilen, bin ich nicht mehr weit weg ...
B: Der Tod wird ganz überraschend kommen. Immer noch die alte Adresse? Ich bin dann mal offline. „sunglasses“-Emoticon
A: Oh je, jetzt hab ich Angst ...
B: Ich kann dich nicht hören, die Fahrgeräusche in meinem Batmobil sind so laut. Ausfahrt Ingelheim-West ist richtig, oder? „heart“-Emoticon
A: ???
B: Stört es dich, wenn ich die Formulierung "Judgement Day" verwende? Welche Musik sollen wir zu deiner Beerdigung spielen?
Golden Earring - Radar Love. https://www.youtube.com/watch?v=Zf53Pg2AkdY
Sonntag, 18. Oktober 2015
Zen-Übung
Sehen Sie eine Stunde lang aus dem Fenster. Machen Sie nichts anderes. Keine Musik, keine Gespräche. Sie werden es nicht schaffen. Wetten? Wir können Ruhe und Muße nicht mehr ertragen.
In Deutschland klingen Erfahrungsberichte mit Zen so: „Ein Sesshin ist ein längeres Meditationsseminar der Zen-Tradition. Man sitzt 15mal eine halbe Stunde pro Tag in Stille. Im Dokusan (Einzelgespräch) saßen der Leiter und ich einander im Meditationssitz gegenüber. Seine Antwort galt der brennenden Frage der westlichen Kultur: ‚Was bringt es?‘ Wie kann ich von dem Seminar profitieren? Welche Eindrücke, welche ‚Kicks‘ werde ich meinem bisherigen Erfahrungsschatz hinzufügen können?“
15 x 30 Minuten Stille. Ordnung muss sein. Nicht 14 oder 16 Sitzungen. Nein: 15. Und pünktlich nach dreißig Minuten klingelt der Wecker, man springt in sein Auto, weil man ja noch zu REWE muss …
Und natürlich – man hat diese halbseidenen Esoterikdienstleister ja schließlich fürs Maulhalten teuer bezahlt – geht es um den Profit. „Wie kann ich … profitieren?“ Ganz richtig, das ist die „brennende Frage der westlichen Kultur“. Das ist sehr deutsch, das ist auf schmerzhafte Weise sehr neoliberal gedacht. Herzlichen Glückwunsch!
„Dieses Denken ist uns zutiefst fremd. Eine einseitige Wachstumsideologie hält unsere Köpfe und Herzen besetzt“, heißt es später ebenso hellsichtig wie unreflektiert.
„Weggelassen wurde Musik und jeder Medienkonsum. Weggelassen wurde auch unnötiger Schnickschnack bei der Zubereitung des Essens. Biologische Schalenkartoffeln. Frischer Rosmarin. Etwas Butter. Salz.“
„Biologische Schalenkartoffeln“. Kann man sich nicht ausdenken. Gibt es aus US-Genlaboratorien schon welche ohne Schale? Gibt es nicht-biologische Kartoffeln? Die Kartoffel-App? Die Lego-Kartoffel (99 Teile mit Bauanleitung)?
„Die Gier nach immer mehr Gedankenstille verklingt. Man lässt die Gedanken, die Körperwahrnehmungen, die wenigen akustischen Eindrücke kommen und gehen. Es ist wie es ist.“
Das ist Loriot, das ist Polt, das kann man nicht besser machen. Und dann werden Fleißkärtchen gesammelt, indem man Zitate bringt. Noch’n Koan. Copy & Paste. Zen wäre gewesen, diesen Text nicht zu schreiben. Wir wissen es, Roland Rottenfußer von „Hinter den Schlagzeilen – Magazin für Kultur & Rebellion“ muss es noch lernen.
Lassen wir aber den buddhistischen Großmeister zum Abschluss noch einmal selbst zu Wort kommen: „Zu lassen statt zu tun ist schwerer als man denkt. Es gilt nicht nur die Soße zu den Kartoffeln wegzulassen, sondern auch lieb gewonnenen Konzepte über sich selbst. (…) Natürlich ist es für einen chronisch Unerleuchteten wie mich schwierig, solche Seinszustände zu verstehen.“
Der Stein schweigt ergriffen Ich sollte weniger kiffen Der Arsch ist aufgegangen (Shinji Kagawa)
http://hinter-den-schlagzeilen.de/2015/10/13/zen-die-kunst-des-weglassens/
George Harrison - My Sweet Lord. https://www.youtube.com/watch?v=0kNGnIKUdMI
Samstag, 17. Oktober 2015
Statement des Tages
„Wissen Sie, was mich ankotzt, was mich wirklich ankotzt? Es sind diese Kobe-Kinder aus dem Prenzlauer Berg, aus Blankenese und Bogenhausen. Die bekommen zur Musik von Mozart den Nacken massiert, während sie die Mathe-Hausaufgaben machen. Die fangen im Mutterleib schon mit der dritten Fremdsprache an und bauen Legohäuser nach dem Feng Shui-Prinzip. Hören Sie mir zu, ich habe nicht viel Zeit! Ich will Ihnen erzählen, wie es bei mir läuft: Morgens dusche ich kalt, dann mache ich eine halbe Stunde Literatur und anschließend gehe ich in ein Lagerhaus um die Ecke, wo ich zwei Stunden mit bloßen Fäusten auf Rinderhälften einprügele. Wussten Sie, dass Sylvester Stallone auf diese Weise das Dry Aged Beef erfunden hat?“
(Andy Bonetti im Interview mit der Washington Post – Stellen Sie sich dazu die Synchronstimme von Bruce Willis vor)
Kings of Leon - Sex on Fire. https://www.youtube.com/watch?v=RF0HhrwIwp0
Das Schreckenskabinett des Doktor Bonetti
„Jedes Jahrhundert wird seine Nacht erleben.“ (Lupo Laminetti)
Bevor die mechanisierte Geisterbahn den Besuchern der Jahrmärkte das Fürchten und Gruseln beibrachten, gab es die Einrichtung des Schreckens- oder Kuriositätenkabinetts. Hier wurden angebliche Drachenknochen, Alraunenwurzeln oder präparierte Missgeburten ausgestellt, bevor das erste Naturkundemuseum erfunden war. Bonetti hatte auf seinen zahlreichen Reisen etliche Exponate sichern können, darunter ein Hirschgeweih, das nach Auskunft des Vorbesitzers an Karfreitag Blut schwitzte, wenn es an einem Judenhaus angebracht wurde.
Ganz besonders stolz war er auf seine Wachsfiguren, die der Öffentlichkeit seit dem Spätmittelalter gezeigt werden. Ihr ursprünglicher Name ist „Mannequin“ und sie wurden ab dem 14. Jahrhundert zunächst bei feierlichen Beerdigungszeremonien des Hochadels eingesetzt, wo sie aus ästhetischen und gesundheitlichen Gründen die verwesenden Leichname der Verstorbenen ersetzten. Später wurden Wachsporträts von Königen oder anderen Berühmtheiten wie Martin Luther auf Wanderschauen im ganzen Land gezeigt. Noch später benutzten Maler lebensechte Modellpuppen, ab dem 19. Jahrhundert folgten die Schaufensterdekorateure. Im vergangenen Jahrhundert wurden Menschen, die Mode vorführten, als Mannequins bezeichnet.
Noch heute irritiert die Wachsfigur – umso mehr, je ähnlicher sie einem Menschen ist. „Darum erregt das Wachsbild Grauen, indem es wirkt, wie ein starrer Leichnam“ (Arthur Schopenhauer: Parerga und Paralipomena). Vor allem erregt uns die Nachbildung von Schwerverbrechen und Hinrichtungen. „Das Ohr glaubte abgebrochene Schreie zu hören, der Geist unvollendete Dramen zu schauen (…) Es war eine geheimnisvolle Walpurgisnacht, würdig der phantastischen Gestalten, die Doktor Faust auf dem Brocken sah“ (Honoré de Baltac: Das Chagrinleder).
So hatte Bonetti nicht nur eine originalgetreue Elvis-Figur mit Paillettenanzug, sondern auch einen grausam blickenden Germanen, der einen abgeschnittenen Römerkopf hochhielt. In Großbritannien gab es um 1900 etwa 150 Panoptiken, von denen viele eine spezielle „Chamber of Horror“ hatten. Oft ist die Beleuchtung dieser Räume recht spärlich, so dass man sich in seiner Phantasie der Bestie Mensch völlig ausliefern kann. Letztlich boten die realistischen Darstellungen des gekreuzigten Christus in den Kirchen den gleichen Effekt.
Ein wenig beneidete Bonetti den begnadeten Plastinator Gunther von Hagen, der in seinen „Körperwelten“, einer Wanderschau, die gerade in Mainz gastierte, zu den Ursprüngen des Mannequins und des Schreckens zurückgekehrt ist: das Präparat eines echten Leichnams. Wie die einbalsamierten Leichname der alten Herrscher bieten sie uns den Kontakt zum echten Tod. Der Andrang zu dieser Ausstellung ist ungeheuerlich, Millionen Besucher sind begeistert. Bonetti hatte das Thema in seinem Roman „Tote leben ewig“ bereits vor einigen Jahren bearbeitet: Ein Tierpräparator verwandelt seine Mordopfer in Exponate, die er sich in die eigene Wohnung setzt.
Average White Band - Pick Up The Pieces. https://www.youtube.com/watch?v=3aGBXrJ6e34
Freitag, 16. Oktober 2015
Wie das berühmte Sprichwort in die Welt kam
„Draußen heulten die Sirenen. Schüsse peitschten durch die Nacht. In Oakdale war die Hölle los.“ (Lionel White: Die schwarzen und die weißen Ratten)
Die Finsternis war beklemmend. Als wäre er blind geboren worden. Er konnte sich gar nicht mehr an das Licht erinnern. Er war ganz allein und doch war der Wald voller geheimnisvoller Geräusche. Man hätte eine asthmatische Feldmaus auf hundert Schritte hören können. Aber er war erfahren, er kannte den Weg, und er kannte das Geschäft. Es musste sein. So waren die Regeln. Und die gespannte Aufmerksamkeit gehörte dazu. Ohne das Adrenalin würde er eines Tages einen Fehler machen.
Er trat aus dem Wald auf das freie Feld. Man konnte den Himmel ahnen, ein schwacher Schein, eine Andeutung von Licht. Vor ihm lag das alte Haus. Er kannte es, bei Tag hatte er es oft betreten und hätte sich mit geschlossenen Augen in seinen Räumen bewegen können. Jetzt hob sich seine Silhouette schwach vor dem Hintergrund ab. Nichts war zu erkennen, keine Fenster oder Türen. Es wirkte größer als bei Tageslicht. Vorsichtig ging er um das Haus. Nichts zu sehen, nichts zu hören.
Er öffnete die Tür. Sie war nicht abgeschlossen. Das Haus stand schon seit vielen Jahren leer. Er ging am Rand des Flurs, wo die Dielen nicht knarrten, in Richtung Wohnzimmer. In einem Geheimfach unter der Fensterbank würde es liegen. Wie immer. Ein Kilogramm unverschnittenes Kokain. So war es abgemacht. Nur noch wenige Schritte. Dann fühlte er es. Er löste die Klebestreifen und steckte das Paket in seine Manteltasche.
Plötzlich blickte er in den Strahl einer Taschenlampe.
Er hörte ein feines Lachen. Der junge Fuchs. Die neue Konkurrenz.
Er konnte nichts sehen, aber er hörte ein Klicken. Eine Pistole wurde entsichert.
„Gute Nacht“, sagte der Fuchs.
Er hechtete zur Seite, bevor die Kugel ihn treffen konnte.
Während er sich abrollte, zog er ein Messer und warf es mit tödlicher Präzision.
Der junge Fuchs griff sich an den Hals und röchelte. Die Pistole und die Taschenlampe fielen ihm aus der Hand.
Völlige Finsternis.
„Gute Nacht“, sagte der alte Hase und ging.
Quelle: „Ein toter Mann steht im Regen – 111 Very Short Stories“ von Andy Bonetti.
The B-52’s – Topaz. https://www.youtube.com/watch?v=xjyJ7pSUnYU
Donnerstag, 15. Oktober 2015
Jimmy ist da
„Als die ersten Missionare nach Afrika kamen, besaßen sie die Bibel und wir das Land. Sie forderten uns auf zu beten. Und wir schlossen die Augen. Als wir sie wieder öffneten, war die Lage genau umgekehrt: Wir hatten die Bibel und sie das Land.“ (Desmond Tutu)
Vor einem Container in einem Hamburger Flüchtlingslager sitzen Henriette Sangstetter und Jimmy N’gongoro. Einige neugierige Flüchtlingskinder stehen um die beiden herum. Henriette studiert Soziologie und interviewt Flüchtlinge für ihre Masterarbeit. Das Gespräch findet in englischer Sprache statt. Ein Tonband läuft mit, gleichzeitig füllt Henriette ein Formular aus.
Henriette: Kommen wir erst mal zu Ihren Sozialdaten.
Jimmy: Was ist das?
Henriette: Das sind Angaben über ihre Herkunft, ihre Familie, ihre Ausbildung und so weiter … Informationen.
Jimmy (lacht): Informationen. Ja, gut.
Henriette: Wann sind Sie geboren?
Jimmy: Das weiß ich nicht. Damals war ich noch sehr klein. In unserem Dorf gab es kein Krankenhaus und keine Behörde. Ich bin zwanzig Jahre alt.
Henriette: Gut. Wo sind Sie geboren?
Jimmy: Molombo. Das ist ein kleines Dorf in Mali.
Henriette: In welchem Bezirk?
Jimmy: Das weiß ich nicht.
Henriette: Wie viele Geschwister haben Sie?
Jimmy: Das kann ich nicht genau sagen. Viele Kinder sterben sehr früh.
Henriette: An wie viele Geschwister können Sie sich erinnern?
Jimmy: Ich habe einen großen Bruder. Meine Schwester hat einen Mann im Nachbarort geheiratet … Sieben. Sieben Geschwister.
Henriette: Sind Sie sicher?
Jimmy (lacht): Fünf.
Henriette: Was war Ihr Vater von Beruf?
Jimmy: Mein Vater hat nicht gearbeitet. Er hat mit den anderen Männern im Dorf Pfeife geraucht. Sie haben unter einem Baum gesessen und den ganzen Tag geredet. Meine Mutter hat gearbeitet.
Henriette: Welche Ausbildung haben Sie?
Jimmy: Es gab Missionare im Dorf. Wir haben in der Bibel gelesen. Ich kann meinen Namen schreiben. Später bin ich in die Stadt gezogen und habe an einer Tankstelle geholfen.
Henriette: Sind Sie verheiratet?
Jimmy: Ja, meine Frau und mein Kind sind auch hier. Haben Sie Kinder?
Henriette: Nein.
Jimmy: Wie alt sind Sie?
Henriette: 28.
Jimmy: Haben Sie keinen Mann?
Henriette: Nein, ich bin Single. Können wir mit meinen Fragen weitermachen?
Jimmy: Warum haben Sie keine Familie?
Henriette: Kommen wir zur nächsten Frage. Was für einen Berufswunsch haben Sie?
Jimmy: Können Sie mir helfen? Ich suche einen Job. Ich kann überall arbeiten.
Henriette: Nein, ich sammle nur Daten für meine Arbeit.
Jimmy: Sie kennen bestimmt viele Leute hier. Ich brauche nur einen Job.
Henriette: Tut mir leid. Wurden Sie in Mali politisch verfolgt?
Jimmy: Wenn ich einen Job hätte, könnten wir aus diesem Lager raus, verstehen Sie?
Joyce Sims - Come Into My Life. https://www.youtube.com/watch?v=ZF6SVubGQqY
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Mittwoch, 14. Oktober 2015
Erika Fuchs
Der vor zehn Jahren leider verstorbenen (*seufz*) Dr. Erika Fuchs, die in Deutschland durch ihre Übersetzung von Barks-Comics und anderen Disney-Bildgeschichten die Verbform des Inflektiv (*staun*) populär gemacht hat, ist seit August in ihrer Heimatstadt Schwarzenbach an der Saale in Franken ein Museum gewidmet (*freu*). Winterzeit ist Museumszeit!
http://www.erika-fuchs.de/
Halb Mensch, halb Toastbrot
„Bei der Vereinzelung und getrennten Wirksamkeit unserer Geisteskräfte, die der erweiterte Kreis des Wissens und die Absonderung der Berufsgeschäfte nothwendig macht, ist es die Dichtkunst beinahe allein, welche die getrennten Kräfte der Seele wieder in Vereinigung bringt, welche Kopf und Herz, Scharfsinn und Witz, Vernunft und Einbildungskraft in harmonischem Bunde beschäftigt, welche gleichsam den ganzen Menschen in uns wieder herstellt.“ (Friedrich Schiller)
Zitate aus „Halb Mensch, halb Toastbrot“, dem neuen Schelmenstück von Johnny Malta:
„In den sechziger und siebziger Jahren war das ‚Musikhaus am Zoo‘, Augsburger / Ecke Nürnberger Straße, das Mekka aller Musiker. Inhaber Otto Simonowski verkaufte Dee Dee Ramone hier seine erste Gitarre.“
„Unterwegs in Recklinghausen, Erinnerungen an Gabi. Ich sehe die Bürohäuser: gläserne Tränen, in denen die Hoffnungslosigkeit gezüchtet wird.“
„Hätten Sie’s gewusst? Zucker ist gut gegen Zähne.“
„Wir fuhren nach dem Konfirmandenunterricht mit unseren Rädern auf eine Rheinwiese. Unter den Bäumen bildeten sich bald Pärchen, die miteinander knutschten. Wer weiß, wer hier seinen ersten Kuss bekommen hat? Ich küsste ein Mädchen mit kurzen dunkelbraunen Haaren, obwohl ich lieber Anja geküsst hätte, die an diesem Tag nicht da war, und der ich meinen ersten Kuss verdankte. Ein blonder Junge mit breitem Gesicht und großen Zahnlücken war wie Huckleberry Finn auf einen Baum geklettert und beobachtete die Szenerie. Er war allein, aber ich glaube, er hat als erstes von uns geheiratet.“
„Berthold Lipschitz stammte sicherlich aus einer langen Ahnenreihe von Aristokraten. Er wirkte unnahbar, als er an der Theke stand, groß und hager, mit Adlernase und in einer gestreiften Weste, und seinen Feldherrenblick über die Tische gleiten ließ, von denen kein Winken oder Rufen ihn irritieren konnte. Ein Kellner der alten Schule eben. Donnerwetter, dachte ich, hier ist der Cappuccino seine acht Euro wert.“
„Es war einmal ein armes altes Mütterchen, das mit einem armen alten Kätzchen in einem armen alten Häuschen wohnte. Da kam ihr armes altes Söhnchen zu Besuch.“
„Weimar und Buchenwald sind der ewige Januskopf dieser Republik.“
Das sagen die Fachleute:
„Hinter der Fassade biederer Bürgerlichkeit lauert das Böse, unter der Maske der Vernunft versteckt sich die Gewalt – das ist das banale Grundmotiv, das bis zum Erguss wiederholte Leitthema der Prosa Maltas. Hinzu tritt die Figur des mysteriösen Fremden, dessen morbider Charakter die Familie des Komponisten Nepomuk Galgenschrey endgültig ins Unglück stürzt – eine reichlich abgeschmackte Idee, die doch sehr an die aktuellen Vampir- und Werwolfserien erinnert.“ (Günther Hallmann, Chefredakteur und Literaturpapst des „Bad Nauheimer Morgen“)
„Ich halte Sie für einen außerordentlichen Schriftsteller, mehr noch: Ich bewundere Sie - nach wie vor. Doch muss ich sagen, was ich nicht verheimlichen kann: dass ich Ihren Roman ganz und gar missraten finde. Das ist, Sie können es mir glauben, auch für mich sehr schmerzhaft. Sie haben ja in dieses Buch mehrere Jahre schwerer und gewiss auch qualvoller Arbeit investiert. Sie haben, das ist unverkennbar, alles aufs Spiel gesetzt: Es ist das umfangreichste Werk Ihres Lebens geworden. Was soll ich also tun? Den totalen Fehlschlag nur andeuten und Sie schonen? Wie beinahe alle erfolgreichen Autoren gelten auch Sie als größenwahnsinnig. Rundheraus gesagt: Sie überfordern die Geduld selbst Ihrer gutwilligsten Leser.“ (Andy Bonetti in einer Rezension für das Revolverblatt „Écrivain aujourd’hui“).
Hölderlin – Peter. https://www.youtube.com/watch?v=LFk8JVsR-ng
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Dienstag, 13. Oktober 2015
Die Ohnmacht der Massen
„Nicht nur Angela Merkel, sondern die Politiker von heute sind (…) nur noch gefällige Handlanger des Systems. Sie reparieren da, wo das System ausfällt, und zwar im schönen Schein der Alternativlosigkeit. Die Politik muss aber eine Alternative anbieten. Sonst unterscheidet sie sich nicht von der Diktatur. Heute leben wir in einer Diktatur des Neoliberalismus.“ (Byung-Chul Han)
Eine Viertel Million Menschen haben am Sonntag in Berlin gegen das Handelsabkommen TTIP demonstriert, das so geheim ist, dass noch nicht einmal Abgeordnete des Bundestages Einblick in die Unterlagen erhalten. Die Bundesregierung interessiert das nicht. Hunderttausende haben in einer Abstimmung für den Erhalt des Tempelhofer Feldes abgestimmt. Den Berliner Senat interessiert das nicht, er möchte dort gerne bauen. Zehntausende haben schriftliche Einwendungen gegen die Bebauung des Mauerparks eingereicht. Na und? Letzte Woche wurde die Grabplatte aus Beton und Gier im Abgeordnetenhaus beschlossen.
Der letzte Politiker, der sich in Deutschland durch Massendemonstrationen beeindrucken ließ, war Erich Honecker. Wirtschaftsminister Gabriel ist es egal, wie viele Leute auf die Straße gehen, so wie die Proteste von Millionen Menschen gegen Atomkraft und Umweltzerstörung oder für den Frieden in den Achtzigern niemand von der SPD interessiert haben. Aufrüstungskanzler Helmut Schmidt hat es nicht interessiert, so wenig wie Gerhard Schröder sich für die Proteste gegen den Sozialabbau durch die Agenda 2010 interessiert hat. Und von der CDU/CSU will ich hier gar nicht erst anfangen …
Gibt es Gegenwehr? Kräfte, die sich dem totalitären Konzernkapitalismus, dem omnipräsenten Konsumterror und der finalen Selbstverwurstung entgegenstellen? Menschen, die nicht so gnadenlos naiv sind, an die „Vernunft“ oder an die Fähigkeit zur Einsicht der Herrschenden zu glauben, und ihre Lebensenergie bei Demonstrationen oder Unterschriftensammlungen verschwenden? Ja. Der Kiezschreiber, Turm in der Schlacht, Anführer der untätigen Massen, Prediger des Müßiggangs, Zen-Meister des völligen Stillstands! Der Himmel bewahre uns vor Not, Feuersbrunst und regelmäßiger Arbeit!! Dissident for President!!!
(geht ab, vermutlich Richtung Kühlschrank)
„Denken ist die gefährlichste Tätigkeit, vielleicht gefährlicher als die Atombombe. Es kann die Welt verändern.“ (Byung-Chul Han)
The Undertones - It's Gonna Happen. https://www.youtube.com/watch?v=tSdsTkqerOw
Montag, 12. Oktober 2015
Zersplitterte Gedanken
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ (Horst Seehofer)
Ausbeutung ist ein hässliches Wort. Mir geht es gut, dir geht es gut. Lass uns nicht darüber nachdenken. Die „Made in China“-Etiketten werden jetzt in Bangladesch hergestellt. Es ist billiger. Wollen wir das wissen? Der Smog ist nicht mehr in unseren Städten, aber in Asien. Dann fahren wir eben woanders hin.
An der deutschen Grenze werden zukünftig „Unterbringungsmöglichkeiten“ geschaffen, in denen Flüchtlinge nach dem „Flughafenverfahren“ beurteilt werden. Machen wir uns nichts vor: Es wird ein Zaun um diese „Möglichkeiten“ gebaut, der bewacht wird. Wir haben wieder Lager. Wenn du in Deutschland ankommst, wirst du als erstes eine „Transitzone“ sehen. Sprache als Ablasshandel.
Marx ist wieder aktuell. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Ihr zerstört mein Leben im Sudan oder im Irak, also komme ich zu euch. Ich will zu denen gehören, die gut leben und sich gut fühlen. Wer von uns würde es nicht genauso machen?
The Beatles - The Fool On the Hill. https://www.youtube.com/watch?v=YnCqKanEGBk
Das Dorf
“Instead of sending you all to hell I've decided it would be easier to just send hell to you.” (God @TheTweetOfGod)
2015. Tief im Pfälzer Wald verborgen gibt es ein Dorf namens Weiler. Nur ein paar Kilometer von Frankenstein entfernt. Ein nettes kleines Dorf. Vielleicht zwei Dutzend Häuser. Eine Kneipe, ein Bäcker und sogar ein Kindergarten am Dorfeingang. Aber in diesem Kindergarten ist es ganz still. Es gibt gar keine Kinder. Und an der Tür des Bäckers hängt ein Schild: „Bin gleich wieder da“. Aber es kommt niemand zurück. Und die Tür der Kneipe ist immer verschlossen. Nur eine einzige schmale Straße führt in dieses Dorf. Eine Sackgasse. Und eigentlich hat niemand einen Grund, hierher zu kommen.
In den Häusern leben ausschließlich Menschen, die der Organisation gedient haben. Hier sind sie sicher, und sie haben sich diese Sicherheit verdient. Sie haben ihr Leben riskiert, sie haben Dinge gesehen, die sie niemals mit anderen Menschen teilen können. Sie sind die Glücklichen, die es bis hierher geschafft haben. Niemand verirrt sich an diesen Ort. Die Wachmannschaft im „Kindergarten“ und die Überwachungszentrale im „Dorfkrug“ sorgen für ihre Sicherheit, ohne sie zu kennen. Ohne ihre Geschichten zu kennen.
Am Ende der Dorfstraße steht eine alte Villa. Sie strahlt eine würdevolle Gelassenheit aus, so als ob sie wüsste, dass sie alle ihre Bewohner überleben würde. In dieser Villa lebt Schlesinger. Mit Schlesinger hat alles angefangen.
1981. West-Berlin. Eine kalte Nacht. Schlesinger saß am Steuer eines Ford Taunus und rauchte eine Camel. Die Nummernschilder hatte er sich von einem anderen Ford Taunus in Lankwitz „geliehen“. Morgen früh würden sie wieder an ihrem Platz sein.
Auf dem Ku’damm wartete Katja in ihrer kurzen Jacke aus Kunstpelz. Sie wollte Schauspielerin werden, aber sie hatte es nicht geschafft. Sie arbeitete als Kellnerin in einer Kneipe gegenüber der Schaubühne. Jeden Abend bediente sie Schauspieler und Bühnenarbeiter nach der Vorstellung.
Michael kam wenig später und stellte sich zu ihr. Tagsüber arbeitete er als Automechaniker in Neukölln. Katja schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, und er gab ihr Feuer. Mit beiden Händen formte sie eine Muschel, um die Flamme zu schützen. Als Schlesinger den Wagen anhielt, kletterte Katja auf den Rücksitz, während Michael auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Die Bombe war im Kofferraum. Michael musste sie nur noch anschließen.
Karl-Heinz Klein wohnte in der Birkenstraße in Moabit. Er war Polizist und hatte vor zehn Jahren, im Dezember 1971, Georg von Rauch in Schöneberg erschossen. Sie kannten seine Adresse und sie kannten seinen Wagen. In seinen Fenstern brannte kein Licht. Er hatte Nachtschicht.
Schlesinger fuhr eine Runde um den Block und hielt dann neben dem Wagen.
Michael stieg aus und nahm die Bombe und das Werkzeug aus dem Kofferraum.
Katja ging auf dem Bürgersteig auf und ab und hielt die Augen offen.
Schlesinger holte sie nach einer Viertelstunde wieder ab. Morgen würde die Bombe hochgehen. Es würde den Richtigen treffen. Klein war geschieden und lebte allein.
Als sie davon fuhren, schwiegen sie. Das Leben der großen Stadt, das sie umgab, war weit weg. Sie fühlten sich wie eine U-Boot-Besatzung auf Tauchfahrt.
Buzzcocks - Ever Fallen In Love (With Some You Shouldn't). https://www.youtube.com/watch?v=WPG6Ak5FASk
Sonntag, 11. Oktober 2015
Zardoz
“Reality is that which, when you stop believing in it, doesn't go away.” (Philip K. Dick)
Der Film “Zardoz” ist eine Dystopie aus dem Jahr 1974, die in meinen Augen die Welt des 21. Jahrhunderts perfekt beschreibt. Er wurde von John Boorman in Großbritannien gedreht, in den Hauptrollen spielen Sean Connery und Charlotte Rampling.
Die Welt der postapokalyptischen Zukunft, im Film das Jahr 2293, zeigt eine Menschheit, die vollständig in Arm und Reich geteilt ist. Zwischen beiden Welten sind durchsichtige Wände, durch die das arme Volk die reiche Elite beobachten kann. „Die Ewigen“ leben unter der Kuppel des sogenannten Vortex ein Leben ohne Gefahr und Gewalt, ohne Sex und Schmerz, ohne Krankheit und Tod. Sie wirken wie eine linksalternative Landkommune, bauen ihr Gemüse und ihr Getreide selbst an, essen und diskutieren gemeinsam, es gibt keine Hierarchie. Demokratie und Gleichberechtigung sind selbstverständlich bei allen Entscheidungen. Ein Computer – das „Tabernakel“ - reguliert dieses Paradies und im Falle eines tödlichen Unfalls wird der Bewohner wieder rekonstruiert.
Auf der anderen Seite der Kuppel leben die sogenannten „Brutalen“. Sie leben in Armut und Chaos, sie sind in Lumpen gekleidet und Opfer mörderischer Gewalt. Das Vortex beliefert die Welt der Brutalen regelmäßig mit Waffen und Munition. Es ist die Hölle auf Erden. Es gibt keine Ordnung und keinen Frieden, Menschen werden zum reinen Vergnügen vergewaltigt und ermordet. Einer der Brutalen, Zed, gelangt eines Tages ins Vortex. Er dient den belustigten Ewigen als Versuchsobjekt, aber er ist es, der am Ende eine Revolution auslöst, in der die Brutalen die Welt der Ewigen zerstören und sie von der Unsterblichkeit erlösen.
Unsere Gegenwart zeigt die gleichen Phänomene: Via Medien können die Armen die Reichen durch gläserne Wände betrachten und träumen von ihrem Leben. Der Luxus der Reichen ist kaum noch zu steigern, die Medizin arbeitet an der Verlängerung des Lebens und mithilfe der Forschung wird vielleicht zumindest einmal unser Gehirn unsterblich werden. Die Welt der Elite wirkt – oberflächlich betrachtet – sehr friedlich und ökologisch orientiert, während mit Waffenlieferungen der Krieg der Armen untereinander forciert wird. Dekadenz und Reformunfähigkeit lähmen die Welt der Reichen, während die Welt der Armen in Chaos und Gewalt versinkt. Auch für uns kann die Rettung nur von außen kommen, durch die gewaltsame Zerstörung einer Ordnung, die allein auf Ungleichheit und Ungerechtigkeit aufgebaut ist.
Ultravox – The thin wall. https://www.youtube.com/watch?v=uLcT0U-9iV4
Samstag, 10. Oktober 2015
Das deutsche Grundgesetz – Die Hardheim-Version
"Liebe fremde Frau, lieber fremder Mann!
Willkommen in Deutschland, willkommen in Hardheim. Viele von Ihnen haben Schreckliches durchgemacht. Krieg, Lebensgefahr, eine gefährliche Flucht durch die halbe Welt. Das ist nun vorbei. Sie sind jetzt in Deutschland. Deutschland ist ein friedliches Land. Nun liegt es an Ihnen, dass Sie nicht fremd bleiben in unserem Land, sondern ein Zusammenleben zwischen Flüchtlingen und Einwohnern erleichtert wird.
Eine Bitte zu Beginn: Lernen Sie so schnell wie möglich die deutsche Sprache, damit wir uns verständigen können und auch Sie ihre Bedürfnisse zum Ausdruck bringen können.
In Deutschland leben die Menschen mit vielen Freiheiten nebeneinander und miteinander:
• Es gilt Religionsfreiheit für alle.
• Frauen dürfen ein selbstbestimmtes Leben führen und haben dieselben Rechte wie die Männer. Man behandelt Frauen mit Respekt.
• In Deutschland respektiert man das Eigentum der anderen. Man betritt kein Privatgrundstück, keine Gärten, Scheunen und andere Gebäude und erntet auch kein Obst und Gemüse, das einem nicht gehört.
• Deutschland ist ein sauberes Land und das soll es auch bleiben! Den Müll oder Abfall entsorgt man in dafür vorgesehenen Mülltonnen oder Abfalleimer. Wenn man unterwegs ist, nimmt man seinen Müll mit zum nächsten Mülleimer und wirft ihn nicht einfach weg.
• In Deutschland bezahlt man erst die Ware im Supermarkt, bevor man sie öffnet.
• In Deutschland wird Wasser zum Kochen, Waschen, Putzen verwendet. Auch wird es hier für die Toilettenspülungen benutzt. Es gibt bei uns öffentliche Toiletten, die für jeden zugänglich sind. Wenn man solche Toiletten benutzt, ist es hierzulande üblich, diese sauber zu hinterlassen.
• In Deutschland gilt ab 22 Uhr die Nachtruhe. Nach 22 Uhr verhält man sich dementsprechend ruhig, um seine Mitmenschen nicht zu stören.
• Auch für Fahrradfahrer gibt es bei uns Regeln, um selbst sicher zu fahren, aber auch keine anderen zu gefährden. (Nicht auf Gehwegen fahren, nicht zu dritt ein Rad benutzen, kaputte Bremsen reparieren und nicht mit den Füßen bremsen).
• Fußgänger benutzen bei uns die Fußwege oder gehen, wenn keiner vorhanden, hintereinander am Straßenrand, nicht auf der Straße und schon gar nicht nebeneinander.
• Unsere Notdurft verrichten wir ausschließlich auf Toiletten, nicht in Gärten und Parks, auch nicht an Hecken und hinter Büschen.
• Mädchen und junge Frauen fühlen sich durch Ansprache und Erbitte von Handy-Nr. und Facebook-Kontakt belästigt. Bitte dieses deshalb nicht tun.
Auch wenn die Situation für Sie und auch für uns sehr beengt und nicht einfach ist, möchten wir Sie daran erinnern, dass wir Sie hier bedingungslos aufgenommen haben.
Wir bitten Sie deshalb diese Aufnahme wertzuschätzen und diese Regeln zu beachten, dann wird ein gemeinsames Miteinander für alle möglich sein."
Stand: 06.10.2015. Positiv: „Frauen dürfen ein selbstbestimmtes Leben führen“- endlich ist es amtlich. Aber bitte nicht mit Busch- und Sandnegern bei Facebook Kontakt aufnehmen. Ich sage nur: Ebola! Negativ: Starker Anal- und Fäkalbezug der Verfassung, leider immer noch sehr deutsch. Kehrwoche fehlt übrigens völlig! Leider entfallen: Artikel 1, „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Cream - White Room. https://www.youtube.com/watch?v=kmjmlb7vpBU
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