Ich war nervös. Zwanzig Jahre
sind eine lange Zeit. Sie hatten mir einen Anzug gegeben, der aussah, als wäre
er aus dem Fundus der Edgar-Wallace-Filme, dazu ein Hemd und zerschlissene
Lederschuhe mit schiefgelaufenen Absätzen. Den Schlips, den Gürtel und die
Schnürsenkel wollten sie mir erst morgen geben. Wie lächerlich. Als ob ich mir
in der letzten Nacht noch etwas antun würde. Auf dem Tisch lagen 735 Euro. Zwanzig
Jahre lang hatte ich in der Werkstatt für fünf Cent die Stunde Festplatten für
einen chinesischen Auftraggeber montiert. Das war alles, was nach Abzug der
Einkommenssteuer übriggeblieben war.
Als ich die JVA Tegel verließ,
fuhr ich in meinen alten Kiez in Moabit. Ich wusste nicht viel über die neue
Zeit. Da ich wegen der schlechten Nachrichten vor zwanzig Jahren Amok gelaufen
war, durfte ich in der Zelle weder Fernsehen noch Internet haben. Erst in den
letzten zwei Jahren bekam ich ein Radio, dass aber auf einen einzigen Sender
eingestellt war, der pausenlos gute Laune verbreitete und Hits der achtziger
Jahre brachte. Immerhin wusste ich von den anderen Gefangenen in der Werkstatt,
dass es in Berlin Wohnungsnot gab. Vorsorglich hatte man mir eine Liste mit
Obdachlosenheimen mitgegeben.
In der Turmstraße sah ich Möbel
am Straßenrand. Wohnten die Leute jetzt schon auf dem Bürgersteig? Die Sonne
schien und ich setzte mich auf einen gepolsterten Stuhl, dem eine Armlehne
fehlte. Durch mein vergittertes Fenster hatte ich immer nur den Hof gesehen.
Alle Geräusche waren in weiter Ferne. Hier war alles voller Menschen und der
Lärm war beängstigend. Leute starrten auf ihr Handy und sprachen, obwohl sie
allein waren. Wen könnte ich anrufen? Ich kannte keine einzige Telefonnummer.
Es schien auch keine Telefonzellen mehr zu geben. Mein Bruder lebte in
Frankfurt, er war Zahnarzt. Aber ich hatte seit meiner Verhaftung nicht mehr
mit ihm gesprochen.
Ich hatte Hunger, also lief ich
weiter. Welche Fähigkeiten brauchte ich in dieser Welt? Auf jeden Fall musste
ich lernen, mit dem Computer und dem Handy umzugehen. Ich kam zu einem
McDonalds und ging hinein. Viele Burger kannte ich nicht. Was war der M oder
der Big Tasty? Aber es gab immer noch den Big Mac. Ich bestellte ihn als Menü mit
Pommes und Cola und er schmeckte immer noch so wie früher. Nach dem Essen
dachte ich über meine nächsten Schritte nach. Ich brauchte einen Job und eine
Wohnung. Mit meinem Lebenslauf? Mit der Wahrheit würde ich nicht weit kommen. Vielleicht
sollte ich erst mal zur Obdachlosenunterkunft. Ich ging in einen Späti, um
einen Stadtplan zu kaufen, aber die Besitzerin schüttelte nur erstaunt den
Kopf. Aber ich kannte den Kiez. Dunkel erinnerte ich mich, dass die
Spenerstraße nicht weit von der JVA Moabit entfernt lag.
Die Stadt ist groß und weit. Ich
war schon lange nicht mehr solche Strecken gelaufen, also setzte ich mich im
Park, der zwischen der Turmstraße und Alt-Moabit liegt, auf eine Bank.
„Gerhard?“
Erschrocken und irritiert sah
ich zu dem Mann auf. Meinen Vornamen hatte ich schon lange nicht mehr gehört. Im
Gefängnis war ich 176-671 gewesen.
„Hast du nicht damals die
Flippers auf offener Bühne erschossen?“
„Ich bin nicht stolz drauf.“
„Komm, ich gebe dir ein Bier
aus. Ich habe da einen todsicheren Job und brauche noch jemanden, der mir
hilft. Es wird mein letzter großer Coup, bevor ich mich zur Ruhe setze.“
Jeder kann
sich vorstellen, wie diese Geschichte endete. Gerhard lebte danach in einem
Strandhaus in Bahia. Nachmittags saß er auf seiner Terrasse, blickte aufs Meer
und schlürfte eine Caipirinha durch einen echten Plastikstrohhalm. So hätte er
glücklich bis ans Ende seiner Tage leben können, als plötzlich … plötzlich „Die
rote Sonne von Barbados“ von den Flippers aus dem Nachbarhaus schallte.