Donnerstag, 30. Dezember 2021

Bonetti verhaftet!

 

Sie kamen nicht im Morgengrauen, sondern zur Mittagszeit. Ich saß gerade im Speisesaal meiner Villa und ergötzte mich an einem Tandoori-Fasan - einer Erfindung von mir, wie ich an dieser Stelle in aller Bescheidenheit anmerken darf -, als mein treuer Kammerdiener eintrat.

„Verzeihen Sie die Störung, Meister Bonetti, aber zwei Polizeibeamte haben ihren Besuch angemeldet. Ich habe sie in den kleinen Salon geführt.“

„Recht so, Johann. Richten Sie den Herrn bitte aus, ich wäre in zehn Minuten bei ihnen. Wir nehmen den Kaffee im Salon.“

Als ich wenig später das prächtige Barockzimmer betrat, sprang einer der beiden Beamten sogleich auf und lief auf mich zu.

„Es tut mir sehr leid, Herr Bonetti. Aber der Verfassungsschutz hat mich gebeten, sie zu besuchen. Es ist wegen dieser Sache mit dem Antifa-Spaziergang.“

„Aber, aber, lieber Herr Polizeipräsident. Wir kennen uns doch von der Jagd und den gemeinsamen Bridgeabenden mit unseren Frauen. Ich nehme es nicht persönlich, glauben Sie mir.“

Nachdem wir den Kaffee getrunken hatten, verließen wir die Villa. Vor dem Portal wartete schon Gustav, mein Chauffeur, mit dem Wagen. Ein schwarzer Maybach mit meiner persönlichen Standarte auf dem Kühler und dem Wappen der Familie Bonetti auf beiden Vordertüren. Wir folgten dem Polizeiwagen zum nahegelegenen Flughafen, wo ein Learjet der Luftwaffe auf mich wartete.

Wir landeten eine halbe Stunde später auf Sylt, wo ich erwartet wurde. Man brachte mich zum Gästehaus des Verfassungsschutzes. Die Wärter hatten schmucke schwarze Uniformen und Schirmmützen, auf denen ein rotes V prangte. Sie erinnerten mich auf angenehme Weise an die Waffen-SS. Ich wurde in eine Suite geführt, die im Louis-Seize-Stil eingerichtet war. Ganz apart.

Ein Mann mit goldenen Schulterklappen eilte ins Zimmer. Er trug ein Tablett mit einer Flasche Wein und einem Kristallglas.

„Der große Bonetti, welch seltener Glanz in unserer bescheidenen Hütte“, sagte er und stellte das Tablett auf einen kleinen Marmortisch am Fenster. „Darf ich mich vorstellen: Jonas Hunkemöller. Ich bin der Direktor des Gästehauses. Wir möchten Ihnen Ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich machen. Das ist ein 1995 Chateau Petrus. Etwas Besseres habe ich in der Eile nicht auftreiben können.“

„Vielen Dank, Herr Hunkemöller“, antwortete ich, während ein Wärter den Wein dekantierte.

„Es ist ja nur für vierzehn Tage. Sie dürfen sich auf der ganzen Insel frei bewegen. Wenn Sie wünschen, können Sie Ihre Mahlzeiten bei uns einnehmen, aber es ist keine Bedingung.“

Wie kann man dieses Land nicht lieben?

P.S.: An Weihnachten schrieb ich noch, dass ich mal Internet-Pause mache. So geht es mir mit allen Vorsätzen. Morgen kommen noch die Bilder des Jahres. Thema am 1. Januar: Brexit.

Daft Punk - Around The World (Official Video) - YouTube

 

Dienstag, 28. Dezember 2021

Die teutonische Triage

 

Wir sollten die Debatte um die Triage auf Intensivstationen nicht irgendwelchen windigen Ethikern oder Amateurphilosophen überlassen. Die Triage sollte die Prioritäten in unserer Gesellschaft abbilden. Wir leben nun einmal im Kapitalismus und im Patriarchat, es gibt Rassismus und soziale Hierarchien aller Art.

·       Im Zweifelsfall wird der Reiche gegenüber dem Armen bevorzugt, der Privatpatient gegenüber dem Kassenpatienten

·       Männer gegenüber Frauen

·       Deutsche gegenüber Ausländern

·       Weiße gegenüber Schwarzen + POC

·       Christen gegenüber anderen Religionen

·       Arbeitnehmer gegenüber Arbeitslosen

·       Heterosexuelle gegenüber Homosexuellen

·       Eltern gegenüber Kinderlosen

·       Geimpfte gegenüber Ungeimpften

·       Anständige Bürger gegenüber Sträflingen und Vorbestraften

·       Gesunde gegenüber Behinderten

·       Westdeutsche gegenüber Ostdeutschen


Kommt damit klar, okay?! Wir waren nie alle gleich und wir werden es niemals sein.

Freitag, 24. Dezember 2021

Eine kleine Weihnachtsgeschichte


Sei immer nett zu alten Leuten, hat man mir gesagt. Sei hilfsbereit, sei freundlich. Gerade an Heiligabend. Du wirst ja auch mal alt.

Die Rentnerin lächelte freundlich. Ihrem gütigen Blick hätte niemand widerstanden. Ob ich ihr die beiden schweren Einkaufstaschen in den vierten Stock tragen könnte.

Als wir an ihrer Tür angekommen waren, schloss sie auf. Ob ich zur Belohnung einen Obstler wollte. Wer hätte abgelehnt? Ich brachte die Stoffbeutel in die Küche und folgte ihr ins Wohnzimmer.

Wir plauderten ein wenig. Sie fragte mich nach meinen Familienverhältnissen. Ältere Menschen machen das gerne. Ich sei Single, antwortete ich, keine Kinder. Die Verwandtschaft weit entfernt, derzeit ohne Job.

Sie ging kurz hinaus. Ich dachte mir nichts dabei. Als sie wiederkam, verabschiedete ich mich höflich und stand auf.

Sie lächelte mich an und schüttelte leicht den Kopf. Sie benötige meine Dienste noch ein paar Tage, sagte sie.

Ich ging zur Wohnungstür. Abgeschlossen. Kein Schlüssel im Schloss oder am Schlüsselbrett. In der Hand der alten Dame eine Pistole.

Sie zeigte mir mein Zimmer. Hier hatte früher ihr Sohn gewohnt, der jetzt in Stuttgart lebte. An der Wand hingen noch Poster von ABBA und Boney M. Über dem Bett, auf dem eine karierte Tagesdecke lag, gab es zwei Regalbretter mit den Werken von Karl May und Jules Verne.

Sie kochte ausgezeichnet. Schweinelende in Sahnesoße, Bratwürste, Rinderroulade, Gulasch, Sauerbraten. Salzkartoffeln, Knödel, Spätzle, Bratkartoffeln. Rotkraut, Sauerkraut, Blumenkohl, Wirsing. Rühreier mit Spinat. Niemals, Pommes, Pizza, Sushi oder Cheeseburger. Bürgerliche Küche als Zuchthaus.

Immer, wenn sie einkaufen oder spazieren ging, schloss sie mich in meinem Zimmer ein. Ich habe mehrmals Zettel aus dem Fenster geworfen. „Hilfe! Ich bin bei Frau Strack im vierten Stock gefangen. Bitte rufen Sie die Polizei!“ Keine Reaktion.

Wirklich schlimm waren die Abende. Sie hatte sämtliche Shows von Peter Frankenfeld, Hans-Joachim Kulenkampff, Wim Thoelke, Hans Rosenthal, Rudi Carell und Peter Alexander auf VHS. Dazu gab es Eierlikör und immer die gleiche Knabbermischung.

Zwei Jahre später starb sie. Den Wohnungsschlüssel trug sie um den Hals. Ich öffnete die Tür und war wieder frei.

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Mittwoch, 22. Dezember 2021

2022 – der Jahresrückblick

 

Corona: Bei der vierten Impfung in der fünften Welle werden die Thema Gesundheit und Wirtschaft endlich miteinander verknüpft. Die sogenannte Turbo-Impfung mit dem neuen Wirkstoff gegen die Sigma-Mutation bekommt man nur, wenn man zehn Zertifikate von Restaurant-Besuchen (Mindestumsatz fünfzig Euro) oder Shopping-Zertifikate von mindestens fünfhundert Euro Umsatz vorweisen kann. Reisebüros werben mit Urlaubsreisen nach Spanien und Italien, wo man in den Hotels am Anreisetag geimpft wird.

Katar: Das sympathische Scheichtum mit den Betonfundamenten in Bio-Qualität (15.000 Leichen wurden in den Neubauten eingearbeitet) gewinnt die Fußball-WM für den Preis von einer Milliarde Dollar, die an die anderen 31 Teilnehmernationen ausgeschüttet werden.

Ampel-Junta: Der Scholzokrat befiehlt einen totalen Lockdown über Ostern, um die Pumuckl-Mutante endlich in die Knie zu zwingen. Es gilt G5: Geimpft, geschimpft, genesen, gelesen, gewesen. Nur Tote dürfen noch zum Friseur.

Merz: Der neue CDU-Vorsitzende wird mit Chrystal Meth auf dem Bundestagsklo erwischt. Der Vorstand wählt Thomas Gottschalk zum Partei-Chef. Eine Woche später liegt die Union in den Umfragen bei dreißig Prozent.

Klima: Greta Thunberg erklärt den Klimawandel für beendet und unterschreibt einen Werbevertrag bei Gazprom.

UK: Nach dem Rücktritt von Boris Johnson beschließt das britische Unterhaus, zum 1.1.2023 wieder in die EU einzutreten.

Dezember: Bonetti’s Jahresrückblick 2023 erscheint. Thema Nr. 1: Corona. Spoileralarm: Wir kriegen unser altes Leben nie wieder zurück.

Massive Attack - Teardrop (Official Video) - YouTube

Montag, 20. Dezember 2021

Glück und Instinkt


Instinkt, das Wissen von Milliarden Jahren Evolution, gespeichert in unseren Zellen. Und mein Instinkt sagte mir, dass dieser Typ Ärger bedeutete. Ich wusste es, als ich seine nasskalte Hand schüttelte und in seine geweiteten Pupillen sah. Glatze, Ziegenbart, Nasenpiercing, Halstattoo, eine knallrote Lederjacke und Springerstiefel. Er war so unauffällig wie ein brennender Rodeoclown in einem Nonnenkloster.

Ich ließ mir nichts anmerken und lächelte höflich, als mir Lukas Horvath vorgestellt wurde. Angeblich Student, aber einhundertprozentig ein drogenabhängiger Kleinganove. Ich kannte diesen Typ. Jung, stark, unsterblich. Halten sich für Gewinner und was noch viel schlimmer war: Sie denken, sie wären schlau. Schlauer als die anderen. Genau die Sorte von Klugscheißern, die glauben, sie wären die Hauptdarsteller in einem Film, und die irgendwann im Knast oder auf dem Friedhof landen werden. Mit zwanzig denkst du, jeden Tag ist Party. Aber seine Party würde bald zu Ende sein. Er zog Ärger an wie ein gottverdammter Magnet.

Ulrich Greber arbeitete als Barista bei Starbucks. Wegen Corona war er ein halbes Jahr auf Kurzarbeit gewesen und seine Freundin hatte ihn verlassen. Jetzt vermietete er zwei von drei Zimmern seiner Wohnung. Ich war nur mit einer Sporttasche voller Klamotten in die Stadt gekommen und hatte kein Geld für eine Pension oder ein Hotel. Das Zimmer war möbliert und Uli stellte keine Fragen. Ich hätte ihm sowieso nicht die Wahrheit sagen können.

In Berlin suchte die Polizei nach mir. Ich konnte nicht zurück in meine Wohnung. Der Überfall auf den Geldtransporter war gescheitert. Das kommt davon, wenn man mit Idioten zusammenarbeitet. Idioten wie Lukas. Sie halten sich nicht an den Plan, ballern wild durch die Gegend und werden anschließend von den Bullen eingesammelt. In Moabit halten sie eine Woche das Maul, dann zwitschern sie wie die Lerchen.

Zwei Tage später verließ Lukas die Wohnung. Uli war arbeiten. Ich wartete zehn Minuten, dann zog ich mir Handschuhe an und ging ins Zimmer von Lukas. Zunächst fand ich nichts. Nicht unter dem Bett, nicht im Schrank und nicht in den Schubladen des Schreibtischs. Dann zog ich mir einen Stuhl heran und sah auf den Schrank. Ich fand eine Tasche mit einer Pistole, Munition, einer Sturmhaube und einem Jagdmesser. Wann würde er einen Überfall machen, um die Drogen bezahlen zu können? Es konnte nur eine Frage von Tagen sein. Er hatte die erste Monatsmiete in bar bezahlt.

Ich sollte recht behalten. Am nächsten Tag verließ ich das Haus. Ich musste mich nach einer neuen Bleibe umsehen. Ich suchte mir auf Google Maps eine neue Stadt und schaute mir auf einer Immobilienseite die WG-Angebote an. In kleineren Städten findet man schneller ein Zimmer als in den Großstädten. Außerdem sind die Zimmer in der Provinz bezahlbar. Meine Geldreserven schwanden, ich brauchte dringend einen neuen Job. Und wenn es nur ein Wohnungseinbruch war. Ich verließ das Internet-Café in der Altstadt und ging zurück.

Dann hatte ich einfach Glück. Als ich in meine Straße einbog, standen zwei Streifenwagen vor unserem Haus. Ich hörte Polizisten im ersten Stock brüllen. Dort lag unsere WG. Ich ging einfach weiter. Sah mich nicht mehr um. Nach einer Viertelstunde war ich am Bahnhof und stieg in den nächsten Zug, der mich aus der Stadt bringen würde. Es kostet mich ein müdes Arschrunzeln, wieder von vorne anzufangen. Es war nicht das erste Mal. Und sicher nicht das letzte Mal.

HITHOUSE - Jack To The Sound of The Underground - YouTube

Sonntag, 19. Dezember 2021

Alles läuft in die falsche Richtung

 

Es begann mit der Salami. Ich hatte einen Nagel in die Küchenwand geschlagen und eine ganze Salami mit einer Schnur am Ende an die Wand gehängt. Plötzlich war sie weg. Ich sagte nichts.

Dann stellte meine Frau keine Wurst und keinen Käse mehr auf den Frühstückstisch. Seit Wochen aß sie nur noch Müsli. Ich gab mich mit Marmeladenbrötchen und Milchkaffee zufrieden. Er schmeckte irgendwie nach Mandeln.

Als sie sich weigerte, Schweinebraten mit Klößen zu machen, wurde ich misstrauisch. War meine Frau in die Fänge einer Sekte geraten? Was um alles in der Welt ist denn ein Mangoldauflauf?

Bevor ich nach Hause kam, aß ich bei McDonald’s. Einen Signature-Burger mit Pommes und Cola. Wenn ich das Haus betrat, kontrollierte sie meinen Atem wie eine Polizistin. Roch ich nach Fleisch?

Der Klimawandel hat unsere Ehe zerstört. Heute esse ich meine Steaks in einer Selbsthilfegruppe. Danke, Greta!  

Dienstag, 14. Dezember 2021

Das verbotene Zimmer

 

Ich hatte es mir in dem alten schweren Ledersessel in der Bibliothek bequem gemacht. Neben dem Sessel war ein kleines Tischchen mit einem Bücherstapel. Schon das erste Buch hatte mich neugierig gemacht. Seit Tagen las ich jeden Abend darin. Ich fühlte mich wie ein Hausherr, obwohl ich erst seit einer Woche hier war. Die Villa gehörte Ulf Heidelmann, einem etwa siebzig Jahre alten Witwer, der den Winter auf Gomera verbringen wollte. Ich sollte drei Monate das Haus hüten.

Es lag in den Bergen und Herr Heidelmann sagte mir, dass man gelegentlich den ganzen Winter eingeschneit war. Aber es gab genügend Vorräte. Er zeigte mir zwei riesige Tiefkühltruhen im Keller, dazu eine große Speisekammer mit Konserven, Nudeln und Reis. Selbst der Weinkeller stand mir zur Verfügung. Ich freute mich auf ein paar Monate Ruhe und Abgeschiedenheit. Ich stand kurz vor dem Abschluss meines Anglistik-Studiums und wollte die Zeit nutzen, um meine Master-Arbeit über die Gothic Novels im neunzehnten Jahrhundert zu schreiben.

Nachdem Herr Heidelmann mir alles gezeigt hatte, auch die Heizanlage und die Waschküche mit der Waschmaschine und dem Trockner, nahm er seinen Koffer und gab mir die Hand.

„Um eines möchte ich Sie noch bitten“, sagte er. „Sie dürfen alle Zimmer des Hauses benutzen. Nur ein Zimmer im zweiten Stock, es ist die letzte Tür auf der rechten Seite, dürfen Sie auf keinen Fall betreten. Versprechen Sie mir das?“

Ich gab ihm mein Ehrenwort. Er verabschiedete sich und stieg in seinen Wagen. Ich war allein.

In den folgenden Tagen machte ich lange Spaziergänge durch den Tannenwald, der das Haus umgab. Ich richtete in einem Zimmer im Erdgeschoss meinen Arbeitsplatz ein. Die Internetverbindung war ausgezeichnet, die Abende verbrachte ich entweder im Netz oder vor dem Fernseher. Das Haus war riesig. Ich schaute mir alle Zimmer an. Es gab sicher ein halbes Dutzend Schlafzimmer und ebenso viele Bäder. Aber ich wollte die Räume nicht alle nutzen, sonst hätte ich zu viel Zeit mit Hausarbeit verschwendet. Das verbotene Zimmer betrat ich natürlich nicht.

So verging die erste Woche. Ich kam mit meiner Arbeit gut voran. Mittags kochte ich mir etwas Leckeres. Es gab Dutzende von riesigen Steaks in den Kühltruhen, ganze Schweinebraten und sogar ein paar Tüten Pommes frites. Es ging mir gut. Aber ich musste immer wieder an dieses Zimmer denken. Warum durfte ich es auf keinen Fall betreten? Welches Geheimnis barg es? Was hatte der alte Heidelmann zu verbergen? Er war tausende Kilometer entfernt. Warum sollte ich nicht einmal hinaufgehen und nachschauen?

Ich stand lange vor der Tür und überlegte, ob ich sie öffnen sollte. Sicher war sie abgeschlossen. Aber vielleicht war sie auch offen? Oder ein Schlüssel an meinem riesigen Schlüsselbund passte ins Schloss. Ich lauschte an der Tür. Es war nichts zu hören. Dann schaute ich durchs Schlüsselloch. Absolute Finsternis. Kein Lichtstrahl erhellte den Raum. Ich legte die Hand auf die Türklinke. Mein Herz schlug bis zum Hals.

Dann drückte ich die Türklinke nach unten. Das Zimmer war nicht verschlossen. Langsam öffnete ich die Tür. Das leise Quietschen klang unheimlich. Ich konnte kaum etwas erkennen. Das Flurlicht war schummrig und keine große Hilfe, das Geheimnis des verbotenen Zimmers zu lüften. Ich ging ein paar Schritte hinein. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit. Rechts von mir stand ein Kleiderschrank, links von mir war ein Bett. Am geschlossenen Fenster stand ein Schreibtisch. In einer Ecke stand ein Schaukelstuhl.

In diesem Schaukelstuhl saß ein Skelett, dass ein geblümtes Kleid trug.

Ich drehte mich um und sah die Silhouette eines Mannes, der in der Tür stand. Er hatte eine Axt in der Hand. Mein Herzschlag setzte für einen Augenblick aus. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Die Tote war seine Frau. Er hatte sie ermordet. Jetzt stand er vor mir. Das war das Ende. Warum war ich in dieses Zimmer gegangen? Warum hatte ich nicht einfach weitergelesen?

Nach ein paar Augenblicken oder einer Ewigkeit begann Herr Heidelmann zu lachen. Er konnte gar nicht mehr aufhören. Er knipste das Licht an und kam auf mich zu. Ich sah, dass die Axt aus Schaumgummi war. An der Decke hingen lauter bunte Luftballons und an der Wand ein großes Plakat mit der Aufschrift „ÜBERRASCHUNG“. Das Skelett war natürlich aus Plastik.

Wir gingen zusammen ins Wohnzimmer, wo Herr Heidelmann die kleine, aber gut sortierte Bar öffnete. Er goss uns zwei Gläser Glenmorangie ein und wir stießen zusammen an.

„Eine Woche“, sagte er. „Das ist sehr gut, Herr König. Die meisten Housekeeper halten es nicht so lange aus.“

P.S.: Welches Buch hat der junge Mann gelesen?

Wham! - Everything She Wants (Luca Debonaire Omerta Mix) - YouTube

 

Samstag, 11. Dezember 2021

Snowflakes

 

Es schneit und tatsächlich bleibt eine dünne Schneedecke liegen. Ich denke an die anderen Snowflakes. Die Leute, die Angst vor der Impfung haben. Ich habe mit Leuten gesprochen, die tatsächlich glauben, auch nach dreißig Jahren könnten noch Spätfolgen auftauchen. Wie wäre es, wenn neue Medikamente erstmal ein halbes Jahrhundert lang getestet werden, bevor sie ihre Zulassung bekommen? Wie wäre der Winter geworden, wenn es keinen Impfstoff gäbe? Schon jetzt sterben um die fünfhundert Leute pro Tag, bei einer Impfquote von siebzig Prozent.

Meine Mutter, die vorgestern ihren 82. Geburtstag gefeiert hätte, wenn sie nicht schon 1997 gestorben wäre, hätte sich über die Snowflakes kaputtgelacht. Null Verständnis, dafür Häme und Spott. Sie hat jeden Tag geraucht und Wein getrunken, das Kleingedruckte auf den Aldi-Verpackungen nie gelesen und Vegetarier wären gar nicht erst in ihre Wohnung gekommen. Angst vor einer Impfung? Hätte sie nicht verstanden. Und den ganzen mRNA-Kram nicht kapiert. Acht Jahre Volksschule. Das musste in der Nachkriegszeit reichen.

Nach der Scheidung in den frühen Siebzigern hatte sie zunächst eine Halbtagsstelle als Verkäuferin in einer Modeboutique. Später dann eine Vollzeitstelle als Putzfrau in einem Pharmakonzern, den in Ingelheim alle nur „die Firma“ nannten. Am Anfang arbeitete sie in den Labors, in denen die Tierversuche durchgeführt wurden. Oft saß sie abends im Wohnzimmer und weinte. Die Tiere taten ihr leid, die kleinen Affen, die Hunde und die Katzen. Sie trank, rauchte und ging am nächsten Tag wieder hin.

Aber dann wechselte sie innerhalb der Firma die Stelle. Jetzt putzte sie im HPZ, im Human-Pharmakologischen Zentrum. Dort wurden die Menschenversuche durchgeführt. Die Versuchsmenschen blieben vier Wochen dort und durften das Gelände nicht verlassen. Sie bekamen irgendwelches Zeug gespritzt oder schluckten Pillen. Dabei wurden ihre Reaktionen von Wissenschaftlern beobachtet. Damit konnte man eine Menge Geld verdienen.

Meine Mutter verdiente nicht viel. Wir hatten kein Auto und ein Sommerurlaub war auch nicht drin. Es sei denn, sie hatte einen spendablen Freund. Da gab es zum Beispiel diesen Handelsvertreter aus dem Rheingau, mit dessen Ford Granada wir in den späten Siebzigern zweimal in Spanien waren. Also hat sie irgendwann auch mit den Versuchen angefangen. Das Geld konnte die Familie gut gebrauchen. Meistens kamen die Urinproben, die sie zur Kontrolle abgeben musste, von mir. Daher hatte sie auch nie Nebenwirkungen oder Spätfolgen. Die kostenlose Schutzimpfung gegen eine tödliche Krankheit wie Covid-19 hätte sie mit Kusshand genommen.

Mahler: Adagietto Symphony 5 - Karajan* - YouTube

Sonntag, 5. Dezember 2021

Der Weihnachtsmarkt – eine Abrechnung

 

Nieselregen, drei Grad plus, Windböen. Warum? Klaus Rehbein stellt sich die Frage immer wieder. Warum habe ich mich zu diesem Blödsinn überreden lassen? Warum bin ich bei diesem Scheißwetter nicht einfach zuhause geblieben? Nach einer Viertelstunde hat er den Weihnachtsmarkt von Bad Kreuznach erreicht.

An den Verkaufsständen gibt es Weihnachtsmänner und andere Figuren aus Porzellan oder Plastik, Kerzen, gebrannte Mandeln, kleine Fachwerkhäuschen, leuchtende Sterne, Bratäpfel, Christbaumschmuck und jede Menge anderer Tinnef und Talmi zu Wucherpreisen. Kein Mensch braucht diesen Mist.

„Hallo, Klaus“, ruft eine dicke Frau. Das leuchtende Rot ihrer Haare erinnert ihn an Tandoori-Chicken.

Es ist Gabi aus der 9a. Sie haben sich schon vierzig Jahre nicht mehr gesehen. Auf dem Weihnachtsmarkt trifft man immer die Leute, die man das ganze Jahr nicht gesehen hat und nicht sehen wollte. Die Leute, die man sehen will, nennt man Freunde. Gabi gehört nicht dazu.

Sie stellt sich Rehbein in den Weg. „Wie geht’s dir denn?“

„DAS GEHT DICH DOCH EINEN SCHEISSDRECK AN!!!“

Hätte er am liebsten gebrüllt. Aber er ist natürlich höflich und antwortet: „Gut. Und dir?“

Nach einem überflüssigen und oberflächlichen Smalltalk erreicht er den Glühweinstand, wo Stefan und Peter schon auf ihn warten. Er bestellt sich einen Becher Glühwein für fünf Euro und stellt sich zu ihnen. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, Wein zu kochen und Gewürze hineinzuwerfen? Erst ist er zu heiß, irgendwann ist die Plörre lauwarm und das perfekte Zeitfenster zum Trinken ist wahnsinnig klein.

Das ist das letzte Mal, ich gehe nie wieder auf einen Weihnachtsmarkt, denkt Klaus, während Peter von seiner Autoinspektion berichtet.

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Samstag, 4. Dezember 2021

Neulich in der Volkshochschule

 

Ein karger Raum. Ein Stuhlkreis. Zwei Thermoskannen mit Kaffee und ein Teller mit Plätzchen.

„Hallo, mein Name ist Armin Laschet und ich bin neu in der Gruppe.“

„Hallo, Armin“, antwortet die Gruppe im Chor.

„Erzähl uns bitte deine Geschichte“, sagt Gruppenleiter Oskar zu Armin.

„Ich wollte Bundeskanzler werden. Aber ich habe den falschen Leuten vertraut. Söder, Merz und viele andere sind mir im Wahlkampf in den Rücken gefallen.“

„So ist es mir auch ergangen“, seufzt Rudolf Scharping.

„Einen einzigen Lacher zum falschen Zeitpunkt hat man mir übelgenommen.“

„Bei mir war es der Mittelfinger“, sagt Peer Steinbrück.

„Jetzt muss ich vier Jahre als einfacher Abgeordneter im Bundestag sitzen. Der schöne Job als Ministerpräsident ist futsch und Fraktionsvorsitzender darf ich auch nicht werden.“

„Das habe ich alles hinter mir“, sagt Martin Schulz. „Ich war Präsident des Europäischen Parlaments. Viel Geld und wenig Arbeit. Nach der verlorenen Wahl durfte ich noch nicht mal Minister werden, obwohl die SPD in der Regierung war. Das Leben als Hinterbänkler ist furchtbar. Du musst jetzt ganz stark sein.“

„So blöd war ich nicht“, kräht Edmund Stoiber dazwischen. „Ich bin noch fünf Jahre nach der Wahl bayrischer Ministerpräsident geblieben.“

„Schreckliche Geschichte“, resümiert Oskar Lafontaine. „Nimm dir einen Keks, Armin.“

Die Selbsthilfegruppe Kanzlerkandidaten trifft sich jeden Dienstag um 19 Uhr in der Volkshochschule Moabit.

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