Sonntag, 30. November 2014

Kennen Sie Andy Bonetti?

„Schriftsteller kann man nicht werden. Als Schriftsteller wird man geboren.“ (Johnny Malta)
„Ich lernte Andy Bonetti beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt kennen. Er hatte den zweiten Preis gewonnen und war gerade dabei, dem Sieger auf dem Parkplatz mit einem Baseballschläger die Kniescheiben zu zertrümmern, als ich zufällig vorbeikam. Er hat mir erklärt, dass er mit mir das gleiche macht, wenn ich mich nicht sofort verpissen würde. Sein Stil hat mir gefallen. So wurde ich sein erster Lektor.“ (Karsten „The Edge“ Kowalski)
„Wir hatten ihn vor einigen Jahren in unsere Mitternachtstalkshow ‚Zeit für Kultur‘ im Hessischen Rundfunk eingeladen. Der Typ war einfach unglaublich. Unglaublich, verstehen Sie? Er hatte in seinem Vertrag stehen, dass eine Flasche Bourbon, eine eiskalte Flasche Cola und eine Tüte mit Käsecrackern in seiner Garderobe sein müssen. Er kam hier mit zwei Leibwächtern an, kein Witz. Wirklich gefährlich aussehende Leute. Wie in diesen amerikanischen Gangsterfilmen. Unsere Security, die wir immer über das Studentenwerk der Frankfurter Uni anheuern, hatte echt Schiss. Und in der Live-Sendung hat er sich dann die Moderationskarten von unserem Talkmaster geschnappt und einfach zerrissen. Hat Sie zerrissen, sie in seinen Mund gesteckt und gegessen. Der Typ ist einfach unglaublich. Unglaublich! Die Leute reden heute noch von seinem Auftritt.“ (Holger Nordglück)
„Andreas hat immer die verrücktesten Aufsätze geschrieben. Wenn es um einen Aufsatz zum schönsten Ferienerlebnis ging, hat er eine Story abgeliefert, in der er von Gangstern in einem Flugzeug entführt wird und den Diebstahl einer ägyptischen Mumie aufklärt. Er hatte eine blühende Phantasie, aber seine Rechtschreibung war lausig. Ich glaube, ohne die modernen Rechtschreibprogramme auf den Computern und seine Lektoren wäre er nie berühmt geworden. Ich war sechs Jahre lang, während der gesamten Mittelstufe, sein Deutschlehrer. In der neunten Klasse habe ich ihn dazu überredet, doch mal was für unsere Schülerzeitung, das ‚Anstaltsblatt‘, zu schreiben. So fing alles an.“ (Edgar Möhrenfeld)
„Andy Bonetti? Da muss ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Ich hatte mit meiner Band Motörhead ein Open Air-Konzert in Bad Nauheim und er stand in der ersten Reihe. Es ging richtig ab, Mann, und Bonetti hat seine Hose auf die Bühne geworfen. Später kam er dann zu uns in den Backstage-Bereich. Als er in die Garderobe reingestürmt kam, habe ich echt gedacht, jetzt bläst er uns allen die Lichter aus. Aber es stellte sich heraus, dass er nur seine Haustürschlüssel in der Hose vergessen hatte. Wir haben mit ihm die ganze Nacht durchgemacht. Der Typ ist schwer in Ordnung. Mann, hatte ich einen Kater am nächsten Morgen.“ (Ian „Lemmy“ Kilmister)
„Andy Bonetti ist ein Schwein. Wussten Sie, dass er mit seit fünf Jahren keinen einzigen Cent Unterhalt gezahlt hat? Er hängt mit seinen Freunden auf irgendeiner Yacht im Mittelmeer ab und frisst Beluga-Kaviar mit der Suppenkelle, aber mir zahlt er keinen einzigen gottverdammten Cent. Nichts. Nada. Verstehen Sie? Glaubt dieser Typ, in meinem Alter gehen die Krähenfüße um die Augen von alleine weg? Sagen Sie ihm, er soll mir endlich mein Geld überweisen, wenn Sie diesen Sexlegastheniker sehen. Oh mein Gott, ich könnte diesem Wxxx so in seine xxx XXX treten, dass ihm der XXX aus dem XXX spritzen würde wie XXX.“ (Mandy Bonetti, geb. Gamsbichler)
„Ich habe Andy Bonetti zum ersten Mal in einer Bar in Cincinnati getroffen, als er einem Typen so richtig eine verpasst hat. Mitten auf die Zwölf, verstehen Sie? Der Typ hat sich auf seinem Barhocker dreimal um die eigene Achse gedreht und flog dann in hohem Bogen auf einen Tisch, an dem gerade gepokert wurde. Und die Spieler haben ihn dann so richtig fertig gemacht. Er hatte behauptet, Bonetti hätte die Story von ‚Abrechnung in Rüdesheim‘ von ihm geklaut. Bonetti hat anschließend die komplette Zahnarztrechnung und die Drinks von dem Kerl übernommen. Das hätte er nicht machen müssen. Ich meine, dass hätte er echt nicht machen müssen, oder? Ich bin selbst Autor und schreibe für die Doctor Love-Arztromanreihe. Ich kenne das Problem mit solchen Leuten. Die Typen triffst du in jeder Bar.“ (Frederick „Flamingo“ Jones)
„Andy Bonetti hat meine Klasse in der Walter-Wallmann-Grundschule in Bad Ems besucht und uns Kindern seine Geschichten vorgelesen. Am besten hat mir sein berühmtes Märchen ‚Der Schulweggeisterverfolgungszeitreisefortsetzungslügengeschichtenmärchenerzählungs-monologsimulationsversuch‘ gefallen. Seitdem bin ich ein großer Fan von ihm.“ (Fiona Feldmann)
„Wir machen hier die Geschäfte mit den Büchern in Bad Nauheim und Andy Bonetti ist unser Mann. Wir scheißen auf Amazon und die großen Buchhandelsketten. Jeff Bezos? Sollte er sich je in Bad Nauheim blicken lassen, werden wir ihn in ein Betonfundament gießen und Andy Bonetti wird einen Hollywood-Stern auf ihn drauf scheißen. Capisce?“ (Perry „Peruvian Flake“ Fiorano)
P.S.: Keine Ahnung, was ein Flamingo ist, aber Peruvian Flake ist hundertprozentig reines Kokain. Da blutet deine Nase, Alter! Vor allem, wenn du es nicht bezahlen kannst.
Louis Prima - Just a Gigolo. http://www.youtube.com/watch?v=SXRRrpI3-hk
Die Originalmelodien dieses Medleys von 1956 haben übrigens Spencer Williams 1915 und Leonello Casucci 1928 komponiert, etwas moderner ist die Interpretation von David Lee Roth (1985).
Marek Weber & Marcel Wittrisch - Schöner Gigolo, armer Gigolo. http://www.youtube.com/watch?v=jFJ7m-qn-t0

Samstag, 29. November 2014

Atemzüge eines Kartenhausbewohners 2

Im Informationszeitalter ist nur das Geheimnis voller Schönheit und Größe.
Seit es die Champions League und die Europa League gibt, ist das schöne Wort „Europapokalspielabend“ völlig aus unserem Wortschatz verschwunden. Schnelle Fremdwörter ersetzen altehrwürdige Begriffe wie beispielsweise „Dunstabzugshaubenbeleuchtung“, die güterzugartig an uns vorüber gerollt sind.
Prag ist inzwischen so grellbunt geschminkt, dass man ihr Alter kaum noch ahnen kann. Vor der Wende hatte die Stadt ein ehrlicheres Gesicht. Und dennoch werde ich diesen Ort vermutlich schon im nächsten Jahr wieder mit meiner Anwesenheit schmücken.
Unnatürliche Menschen, unmenschliche Natur.
Gutes Versteck: Wichtige Unterlagen in altem Umschlag am Boden des Papierkorbs deponieren, darüber anderes Altpapier legen. Kein Dieb durchwühlt die Mülleimer.
Man muss einen Politiker nur einmal bestechen. Danach erpresst man ihn. Das macht die Politik so billig.
Warum ist Chinas Kommunismus so erfolgreich? Weil dort Kapitalismus ohne Demokratie und Rechtsstaat praktiziert wird.
Jetzt gibt es also auch die Ampelfrau (mit Quote), nicht nur rote und grüne Ampelmännchen. Wo bleiben Migranten (mit Sombrero), Rollstuhlfahrer, Afrikaner (Schwarzlicht!) und Transsexuelle?
Klimawandel: Ein See vereist immer von außen nach innen. Es beginnt an den Ufern und die Fische im Zentrum des Sees bemerken es als letzte. Und selbst dann dauert es noch eine Weile, bis der Sauerstoff knapp wird.
Ich bin nicht mitgegangen. Ich war noch nicht einmal auf der Straße. Ich bin auch nicht zum Fenster gestürzt, als sie kamen. Ich bin im Bett liegen geblieben und habe mein Gesicht zur Wand gedreht.
Linda (11) will mit der Herstellung von Kuscheltieren sehr reich werden und dann in einer Villa auf dem Mond wohnen. Vor einem Jahr hat sie auf meine Frage nach ihrem Berufswunsch noch geantwortet: „Irgendwas mit Kunst“. Wir dürfen gespannt sein.
Alle finden Erdmännchen toll, aber wir haben in Europa den Ziesel, der in Aussehen und Sozialverhalten dem Erdmännchen nicht nachsteht. Vergesst mir den guten alten Ziesel nicht!
Weihnachtsgeschenke? Von mir gibt’s Taliban aus Marzipan.
Den alternativen Nobelpreis haben in diesem Jahr Gottlieb von Pech und Jefferson Flop für die Erfindung des unglücklichen Zufalls erhalten.
Mit zunehmendem Alter sollte man wählerischer werden und nicht gleichgültiger.
Die letzten Rosen im Garten sind verblüht, als ich wieder nach Hause komme. Sie sind verblüht, aber nicht gestorben. Die Sträucher werden sich im nächsten Jahr einfach neue Blüten wachsen lassen. Sie schlafen nur und während sie schlafen, sammeln sie neue Kraft. Einatmen, ausatmen.
Cape – Anyong. http://www.youtube.com/watch?v=nxdcC8-nzdY
P.S.: Die „Atemzüge“ sind Einträge in meinem Notizbuch, die im Laufe des Novembers hauptsächlich in Berlin entstanden sind. Ich habe in Berlin wieder Musil gelesen, dessen „Mann ohne Eigenschaften“ zu meinen Lieblingsbüchern gehört. Musil starb 1942 in seinem Schweizer Exil bei der Bearbeitung des wunderbaren Schlusskapitels „Atemzüge eines Sommertags“, als ihn im Badezimmer der Schlag traf. Der Tod hat ihn aus dem Schreiben herausgerissen. Lassen Sie bitte in diesem Winter den Computer und das „Smart“phone aus und lesen Sie dieses Buch. Zitat: „Wir haben keine inneren Stimmen mehr, wir wissen heute zu viel, der Verstand tyrannisiert unser Leben.“

Frauenquote

Was für eine erbärmliche Inszenierung. Wie blöd muss man eigentlich sein, um darauf reinzufallen? Da gewährt die CDU nach scheinbarem Ringen der SPD die im Koalitionsvertrag versprochene Frauenquote und die Wirtschaft jammert pflichtgemäß über die Belastung, unterstützt von den bürgerlichen Medien. Frauenquote? Ein paar hundert reiche Business-Kostüm-Trägerinnen werden noch reicher. Das ist alles. Millionen Frauen gehen leer aus. Die Damen der Oberschicht machen sich die Taschen voll und dürfen sich als Vorkämpferinnen der Emanzipation feiern lassen. Die machen sich in diesem Augenblick die Seidenhöschen nass vor Lachen und das dämliche Volk feiert einen historischen Triumph der Frau in der Männergesellschaft.
Für die Frauen in diesem Land wird sich nichts ändern. Punkt 1. Punkt 2: Die Frauenquote gilt nur für den Aufsichtsrat. Der Aufsichtsrat hat im Unternehmen nichts zu melden. Genau darum ist auch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in diesem Gremium endgelagert. Und dort wird gerade die Emanzipation beerdigt. Die Entscheidungen im Unternehmen werden bekanntlich im Vorstand getroffen, im Volksmund auch „Management“ genannt. Ich bin so froh, dass ich nicht als Frau auf die Welt gekommen bin, denn ich würde einen Tobsuchtsanfall vor Zorn bekommen, wenn mich die Bundesregierung in Gestalt einer drittklassigen Marionette namens Manuela Schwesig so verarscht hätte. Aber ein bisschen Gender-Lametta – und das noch nicht einmal in allen Unternehmen, sondern in einigen wenigen – reicht den Frauen für die nächsten Jahre offenbar. Bei jeder neuen Forderung wird man zukünftig den Quoten-Joker aus dem Ärmel ziehen und sagen: Ihr habt doch schon was bekommen. Habt ihr immer noch nicht genug? Wie blöd muss man eigentlich sein, um diese Show nicht zu durchschauen? Lieber Gott, wenn es dich gibt, beschere uns bitte noch die Schwulen-, Behinderten- und Migrantenquote im Kantinenausschuss!
Stampeders - Sweet City Woman. http://www.youtube.com/watch?v=2CPt3eSBJiQ

Freitag, 28. November 2014

Literatur und Geschäft

Die Sonne ging gerade über dem Minigolfplatz von Bad Nauheim auf. Andy Bonetti konzentrierte sich auf seinen Abschlag beim dritten Loch, an dem es galt, den Windmühlenflügeln vor dem Durchgang auszuweichen, als er den Mann kommen sah.
Er war breitschultrig und hatte ein furchterregendes Gesicht mit einer hässlichen roten Narbe quer über der Stirn und einer riesigen Warze unter seiner fleischigen Nase. Er hatte stark behaarte Hände und eine sorgfältig überkämmte Glatze, außerdem trug er einen schwarzen Anzug und eine Ray Ban-Sonnenbrille.
Ohne Hast näherte er sich und blieb etwa einen Meter vor Bonetti stehen. „Würden Sie mir bitte einen kurzen Augenblick ihrer kostbaren Aufmerksamkeit widmen, Mister Bonetti? Mein Name ist Gary Granada und ich möchte Ihnen im Auftrag von Mister Palermo ein Angebot unterbreiten.“
Er zog einen Vertrag aus der Innentasche seines Armani-Jacketts.
Bonetti strich sich mit der linken Hand durch das Haar. Es war das verabredete Zeichen für Heinz Pralinski, der mit einem Scharfschützengewehr am Fenster des Märchenschlosses an Loch 4 postiert war. Keine Gefahr.
Aber Pralinski blieb aufmerksam. Nur zweihundert Meter entfernt wartete der hünenhafte Fahrer von „Paper Clip“ Granada, Terry „K 2“ Toledo, in einem schwarzen Audi A 8.
Bonetti reichte seinem Kammerdiener Johann den Golfschläger und zog in aller Ruhe seine Golfhandschuhe aus. Er nahm den Vertrag und las konzentriert das achtseitige Dokument. Währenddessen waren nur die Singvögel in den Bäumen zu hören.
„Ich möchte fünfzig Prozent an allen Merchandising-Einnahmen. Und wir werden für die Vermarktung der Bekleidung, Kaffeetassen, Plüschtiere usw. eine deutsche Agentur nehmen, die ich kenne. Bei den Buchverkäufen möchte ich 25 Prozent, nicht 15, national wie international. Und die Filmrechte bekomme ich exklusiv, da ich die Drehbücher selbst zu schreiben pflege.“
„Wie Sie wünschen, Mister Bonetti“, sagte Granada mit einem Lächeln.
Am liebsten hätte er vor Wut laut aufgeschrien. Gerade an den Filmrechten konnte man Millionen verdienen, wenn man eine große Produktionsfirma in Hollywood an Land ziehen konnte. Das wusste er als langjähriger Consigliere von Rocky Palermo natürlich ganz genau. Und hätte Bonetti die amerikanische Vermarktungsgesellschaft akzeptiert, wäre er mit zehn Prozent abgespeist worden. Außerdem hätte man jede Menge Steuern sparen können, da Palermo seine Geschäfte über eine Steueroase abwickelte. 25 Prozent im Kerngeschäft im Buchhandel? Heiliger Scheißdreck! Der Durchschnittsautor bekam zwischen fünf und zehn Prozent des Verkaufspreises. Dieser Bonetti war ein gerissener Hund, das musste man ihm lassen.
„Schicken Sie den überarbeiteten Vertrag an meinen Notar Willy Weberknecht in Bad Nauheim.“
„Sehr wohl, Mister Bonetti.“ Gary Granada zog eine kleine Schachtel aus der Seitentasche seines Jacketts. „Als Zeichen unserer Verbundenheit habe ich noch ein Geschenk von Mister Palermo, das ich Ihnen hiermit überreichen möchte.“
„Besten Dank, Mister Granada. Und richten Sie bitte Mister Palermo herzliche Grüße von mir aus. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.“
Bonetti hatte bessere Konditionen ausgehandelt als mit seinem alten Verlag. Und mit der New Yorker Connection stand ihm nun der Weg nach Hollywood offen. Ein Oscar für Andy Bonetti? Warum nicht?
Als Bonetti wieder in seinem Arbeitszimmer war, öffnete er die schwarze Schachtel, die mit einem roten Seidenband verschlossen war. Er lächelte, dann trat er vor den großen Spiegel und betrachtete sich.
Er legte sich die Kette mit einem goldenen Totenschädel um, in dessen Augen zwei winzige Smaragde funkelten. Sicherlich trug auch Rocky Palermo einen solchen Anhänger unter seinem Hemd. Nun gehörte er dazu.
Und endlich konnten seine beiden Töchter, Sandy und Candy Bonetti, die er unter falschem Namen im Hotel „Weißes Kreuz“ in Bergün untergebracht hatte, in ihr Internat in Lausanne zurückkehren.
Robert Johnson - Sweet Home Chicago. http://www.youtube.com/watch?v=dkftesK2dck
Info: Robert Johnson gehört dem berühmten „27 Club“ an, da er früh verstorben ist. In seiner offiziellen Biographie auf Wikipedia heißt es: „Da Johnsons Gitarrenspiel sich innerhalb kurzer Zeit so stark verbessert hatte, erzählte man sich, er habe seine Seele an den Teufel verkauft und sei von diesem im Gegenzug in die Geheimnisse des Gitarrenspiels eingewiesen worden.“

Donnerstag, 27. November 2014

Atemzüge eines Kartenhausbewohners 1

„Bescheidenheit ist eine Eigenschaft, für die der Mensch bewundert wird, falls die Leute je von ihm hören sollten.“ (Edgar Watson Howe)
„Keine Zeit“ – der Schlachtruf aller wichtigen Menschen. Wer Zeit hat, macht sich schon verdächtig.
Ab 1.1.2015 wird EU-weit ein Aufkleber mit der Aufschrift „Kann Reste von Verstand enthalten“ Pflicht, der auf der Stirn angebracht werden muss.
Wegen des abgelaufenen TÜV seiner Espressomaschine musste der Wirt seine Pizzeria schließen. Der neue Wirt stammt aus Kalabrien, hat schwarzglänzende, glatt zurückgekämmte Haare, ein Glasauge und seine beiden Gesichtshälften sind völlig unterschiedlich. Vermutlich ist er ein Mitglied der Mafia und lässt mich beseitigen, wenn er diesen Text liest.
Verleihe nicht das Gold deiner Jahre an irgendeinen Arbeitgeber, denn du siehst es nie wieder.
Dein Ideal ist nur das Zentralgestirn, unter dessen Licht du dein Feld bestellst. Willst du dieses Feuer wirklich auf die Erde holen, wird es dich als Ideologie verbrennen.
Nachmittagsgeräusche im Sommer wie das Brummen einer Propellermaschine am Himmel.
Katastrophen wie eine Flut sind die großen Momente der Obrigkeit: Gott schickt uns Wasser, aber die Regierung hat Sand!
Kulturjournalisten werfen jede Woche im Auftrag ihrer Vorgesetzten ihr Licht auf einen anderen Künstler. Eckermann hat Goethe ein Denkmal gesetzt, das Feuilletonistenvolk ist dagegen die Hure Eckermann, die sich immer wieder aufs Neue feilbieten muss, weil sich das Lob nun einmal vorteilhafter auf das Anzeigengeschäft ihres Unternehmens auswirkt als ein Verriss. Sie sind Sklaven des Neuen, das ist der Fluch ihres Berufs. Keine Bücher aus anderen Jahrhunderten, keine Musik und keine Kunst aus der Vergangenheit. Sie lesen nichts zwei- oder dreimal. Sie dürfen sich nicht verlieben, auch darin ähneln sie Prostituierten.
Was kennen die Leute wirklich? Ihre Wohnung, ihren Arbeitsplatz, ihren Supermarkt. Den Rest der Welt nehmen sie über die Medien wahr. Wir haben es uns in der Komfortzone des Planeten gemütlich gemacht und glauben, mehr zu wissen als unsere Vorfahren. Aber unser Wissen ist gleich geblieben, nur unsere Illusion von Wissen ist ins Unermessliche gewachsen.
„Die imperiale Impertinenz des rostroten russischen Riesenreichs“ träume ich bei einem Nachmittagsnickerchen und kann beim Erwachen die Formulierung dem eigentlichen Traum nicht zuordnen, in dem ich auf einem Fortbildungsseminar für Langzeitarbeitslose in irgendeinem Kaff gewesen bin. Wir gingen in einer Gruppe an einem Fluss entlang und ich habe einem Anzugträger ins Gesicht geschlagen, der sich über uns lustig gemacht hatte. Aber was hat Mütterchen Russland, diese moribunde Metze, damit zu tun?
Ähnlich rätselhaft: „Deine Zukunft bekommst du nie wieder“. Aphoristische Restbestände beim Erwachen. Und für eine deutsche Reisegruppe mitten im syrischen Bürgerkrieg, wir sind in einem Bus unterwegs und absolvieren gerade ein Abendessen bei einer „typisch syrischen Familie“, arbeite ich in der nächsten Traumnacht als „Oralmodulator“, der übersetzt und den Reisenden die Sitten und Gebräuche des Landes erklärt, beispielsweise den Genuss von Haschisch. Ergibt das alles irgendeinen Sinn?
Am Abend nimmt er sich vor, etwas in seinem Leben zu ändern, und am nächsten Tag fährt er zu IKEA und kauft neue Handtücher.
Berlin und seine Großprojekte, der unbeschreibliche, unerträgliche Dilettantismus eines unverschämten Bürgermeisters und seines unfähigen Senats. Bürokratien sterben nicht, aber sie verwildern und verlottern, wenn man sie nicht pflegt. So wie ein Gemüsegarten wieder zur Wildnis wird, wenn man ihn nicht fachgerecht bearbeitet und nutzt.
Ich bin jetzt 48 Jahre alt. Da fragt man sich beim Kauf einer Winterjacke: Lohnt sich die Anschaffung überhaupt noch?
Bush - Swallowed. http://www.youtube.com/watch?v=Q7RVp3DvX1o

Mittwoch, 26. November 2014

Rocky Palermo

1
Rocky „Das Messer“ Palermo. Mehr muss ich eigentlich nicht sagen. Der härteste Mann in der Buchbranche. Zwei Zentner Muskeln aus Stahl und ein Blick, der selbst gestandene Polizisten zum Weinen bringen konnte.
Seinen ersten Schriftsteller hatte er mit sechzehn Jahren in Las Vegas umgelegt. Der alte Mo, wie man Mostrich Bickelbach in der Literaturszene nannte, hatte seinen monatlichen Groschenroman schon wieder nicht abgeliefert. Er hatte Schulden, soff wie ein Loch und er kriegte den Stift einfach nicht mehr hoch. Zwei Kugeln aus einer schallgedämpften Beretta 9mm Parabellum in den Hinterkopf. Er hatte die Leiche in einen Müllcontainer geworfen, sie mit Benzin übergossen und seine brennende Zigarette hineingeworfen.
So hatte alles angefangen. Jetzt stand er am Fenster des Verlagshauses von Lansky & Falcone und blickte auf den morgendlichen Berufsverkehr von New York City hinab. Chicago hatte ihn geschickt, um die Geschäfte zu übernehmen. Lucky Scarfati machte einen Angelausflug im Hudson River. Mit seinen nagelneuen Betonschuhen würde er nicht sehr weit kommen.
„Die Sache mit Bonetti erledige ich selbst“, sagte Rocky Palermo, ohne sich zu seinen Gesprächspartnern umzudrehen.
Lansky und Falcone kannten die Regeln des Spiels. Ein falsches Wort und Das Messer würde sie zwingen, ihre eigenen Genitalien zu verspeisen.
Das Abschneiden von Körperteilen war seine Spezialität. Daher der Spitzname. Er schneidet dir die Ohren ab, wenn du nicht hören willst. Er schneidet dir die Zunge ab, wenn du mit den falschen Leuten geredet hast. Er zerlegt dich wie ein Sushi-Koch in deine Einzelteile, wenn er richtig böse auf dich ist. Rocky wurde sehr leicht böse. Und im Augenblick war er unglaublich wütend. Was bildete sich dieser Andy Bonetti eigentlich ein? Wusste er überhaupt, mit wem er sich angelegt hatte, oder war er völlig wahnsinnig geworden? Die Buchmafia hatte beschlossen, Bad Nauheim zu übernehmen. Man konnte es akzeptieren oder verschwinden. Aber man konnte es ganz sicher nicht verhindern. Oder hatte Bonetti Hintermänner? Die Russen? Die Chinesen? Rocky Palermo würde es herausfinden.
2
Nur die härtesten Männer schaffen es in diesem Business nach ganz oben. Und nur ganz oben ist der Erfolg. Wasser fließt von oben nach unten, Geld fließt von unten nach oben. Das ist das Gesetz des Marktes. Ein Prozent der Buchveröffentlichungen machen 99 Prozent des Umsatzes. Die restlichen 99 Prozent der Bücher schaffen es nicht in die Bestsellerlisten, die Medien und die Schaufenster der Buchhandlungen. Ein großer Teil der Einnahmen wird gebraucht, um die Leute zu schmieren, die die Bestsellerlisten veröffentlichen. Um Verleger und Chefredakteure zu bestechen, die ihre schleimigen Schreiberlinge drittklassige Jubelarien fabrizieren lassen, die man aus Gründen der Nostalgie immer noch „Rezensionen“ nennt. Etwa fünf Prozent der Einnahmen gehen an die kleinen Stricher, die tatsächlich die Romane und Sachbücher schreiben. Diese Dummköpfe werden das Geschäft nie begreifen und platzen in den gekauften Talkshows fast vor Eitelkeit.
Rocky Palermo verachtete die Autoren und mied den persönlichen Kontakt. Aber dieser Bonetti war anders. Er hatte die New Yorker Familie aus Bad Nauheim verjagt und eine ganze Crew eliminiert. Er hatte die Großen herausgefordert. Darum wollte ihn Das Messer persönlich kennenlernen. Entweder wir machen einen Deal zu meinen Bedingungen – oder ich mache Hackfleisch aus diesem Hurensohn, dachte er, als die Boeing 747 in Frankfurt landete.
3
Sie trafen sich in den Katakomben von Paris, umgeben von den Schädeln und Knochen von Millionen Toten. Ein angemessener Ort für diese Begegnung. In Kopenhagen und Budapest hatten sie sich knapp verpasst.
„Nehmen Sie die Hände hoch, Mister Bonetti!“ Rocky Palermo hatte seine Glock 24 gezogen und richtete ihren Lauf auf das Herz des berühmten Autors.
Bonetti hob langsam die Arme in die Höhe und lächelte. „Glauben Sie, dass Sie in der Position sind, um Anweisungen zu geben?“ Er drehte den Kopf und nickte in Richtung einer dunklen Nische, die sich im Rücken seines Gegenübers befand.
„Der älteste Trick der Welt. Mehr fällt Ihnen am Ende nicht ein? Ich bin enttäuscht. In der Branche heißt es, Sie hätten Phantasie.“
Bonetti zwinkerte kurz mit dem linken Auge und sein Kammerdiener Johann trat aus der Nische. Er hielt eine MP 7 von Heckler & Koch in der Hand, deren Lauf er Palermo in den Rücken drückte.
„Darf ich nun fragen, mit wem ich das Vergnügen habe?“ Bonetti ließ die Arme wieder sinken.
„Rocky Palermo. Ich vertrete seit dieser Woche die Interessen von Lansky & Falcone.“
„Es gibt zwei Möglichkeiten, Mister Palermo. Entweder wir sterben beide oder wir kommen ins Geschäft. Wie entscheiden Sie sich?“
Palermo zielte mit seiner Waffe weiter auf Bonetti. Wer als erster schießt, stirbt als zweiter. Regel Nummer 1 in einem Mexican standoff. Wer seine Waffe sinken ließ, starb alleine. Regel Nummer 2.
„Wir würden gerne mit Ihnen ins Geschäft kommen, Mister Bonetti. Wie Sie wissen, geht es um eine Krimi-Reihe.“
„Das ist ganz einfach. Ich verlange ein Drittel vom Gewinn und die gesamten Merchandising-Rechte.“
„Das komplette Merchandising? Sie sind wahnsinnig. Das Geschäft mit den T-Shirts und den Action-Figuren ist das Herzstück jeder Vereinbarung. Ich gebe Ihnen dreißig Prozent bei der Vermarktung und zwanzig Prozent bei den Büchern. Dabei verdienen Sie doppelt so viel wie andere Autoren.“
„Sie Blutsauger! Unter fünfzig Prozent beim Merchandising unterschreibe ich nicht. Nur über meine Leiche! Und bei den Büchern will ich dreißig Prozent. Das ist mein letztes Wort.“
Die Spannung war kaum noch zu ertragen.
Eine falsche Bewegung und es würde zu einem erbarmungslosen Blutbad kommen.
Fortsetzung folgt.
The B-52's - Party out of Bounds. http://www.youtube.com/watch?v=MNX1knUjZl4

Dienstag, 25. November 2014

Ein Porträt Berlins

„Wie wenig ist es doch, das den Menschen von den Tieren unterscheidet. Die Masse geht darüber hinweg; der Edle hält es fest.“ (Mong Dsi)
Ich kenne einen Kunstmaler in Berlin, der sein Geld hauptsächlich mit Porträts verdient. Er hat in vielen Ländern ausgestellt und seine abstrakten Werke sind sehr beeindruckend. Auf seinem Klingelschild steht unter dem Namen ganz selbstbewusst „Kunstmaler“. Aber sein eigentlicher Brotberuf ist die Porträtmalerei. Es kommen Ärzte und Apotheker, sicher auch anderes Geldvolk zu ihm, um sich porträtieren zu lassen. Ihre Anwesenheit erträgt er nicht lange. Er fotografiert sie und wirft das Bild als Dia auf die Leinwand, auf der er in zwei oder drei durchtrunkenen Nächten ein Ölbild malt. Fünftausend Euro pro Stück. Das finanziert ihm die Kunst für ein Vierteljahr. Es ist so erbärmlich. Die Auftraggeber halten sich für Kunstmäzene, aber warum, frage ich mich, kommen sie alle auf die Idee, das eigene Gesicht als Gegenstand der Darstellung zu wählen? Niemand hat je eine Landschaft oder eine bestimmte Szene in Auftrag gegeben. Immer nur: I C H. Das sagt viel über die Gegenwart und dieses Land.
Rio Reiser - Für immer und dich. http://www.youtube.com/watch?v=A7TQuBEw8OY

Ein Tag im November

Der Totenmonat November macht seinem Namen alle Ehre. Eine alte Freundin von mir, die es als alleinerziehende Mutter ohnehin nicht leicht hat, trifft es letzten Sonntag gleich doppelt. Seit dem Frühling hat sie wieder einen Freund, die beiden wollen zusammenziehen und machen Pläne für die gemeinsame Zukunft. Einige Monate zuvor hatte sie den Motorradführerschein gemacht und sich eine Maschine angeschafft. Beim Motorradfahren hatte sie ihn kennengelernt. Es ist ein Sonntagnachmittag, als sie zusammen einen Ausflug machen. Sie fährt vor ihm. Als er eine Weile nicht in ihrem Rückspiegel auftaucht, fährt sie die Landstraße zurück. Er war frontal mit einem Auto zusammengestoßen und starb noch an der Unfallstelle.
Da er offiziell noch verheiratet ist – er war im Trennungsjahr -, verweigert ihr seine Ehefrau die Teilnahme an der Beerdigung und gibt auch nicht den Ort des Begräbnisses preis. Sie erfährt es trotzdem über einen Freund und legt am nächsten Tag eine Rose auf der Grabstelle im Friedwald ab. Als sie am darauffolgenden Tag wieder zum Grab geht, ist ihre Rose verschwunden.
Wenige Stunden nach dem tödlichen Unfall ihres Freundes – sie ist wieder zu Hause bei ihrer kleinen Tochter, der sie nichts erzählen möchte – klingelt das Telefon. Ein Anruf aus Amerika. Ihr Vater hatte als Beifahrer einen schweren Autounfall und liegt in Kalifornien im Krankenhaus. Er ist querschnittsgelähmt. Das Schicksal ist eine brutale Drecksau.

Montag, 24. November 2014

Die DDR – Fakten zum alltäglichen Leben

25 Jahre Mauerfall. Aus Anlass des Jubiläums wurde viel über die damalige Zeit berichtet und gesprochen. Mich als Westdeutscher hat interessiert, wie die Menschen in der DDR vor der Wende gelebt haben. Das habe ich herausgefunden:
Es heißt oft, die DDR sei ein Staat gewesen, dessen Bürger Mangel gelitten hätten. Dazu ein paar Fakten, falls man dem „Statistischen Jahrbuch 1986 für die Bundesrepublik Deutschland“ und dem „Statistischen Jahrbuch 1986 der Deutschen Demokratischen Republik“ glauben darf (sämtliche Daten im Text sind gerundet). Der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch lag in der DDR bei 94 kg, in der BRD bei 90 kg. Der Ossi hat im Jahr 303 Eier gegessen, der Wessi 280, auch beim jährlichen Verbrauch von Butter liegt der Osten mit 10 kg klar vor dem Westen mit 6 kg. Ganz zu schweigen von den deutschen Grundnahrungsmitteln Brot (u.a. Getreideerzeugnisse), wo der DDR-Bürger mit 100 kg zu 73 kg die Nase vorne hat, und Kartoffeln, bei der ein Ostdeutscher sogar die doppelte Menge schafft (146 zu 73 kg). Vorne liegt der Bundesbürger, man ahnt es schon, bei frischem Obst (85 kg zu 38 kg) - und dabei besonders bei den „Südfrüchten“: 26 kg zu 12 kg -, Käse (15 kg zu 8 kg) und Fisch (12 kg zu 7 kg).
Der Eindruck von Mangel entstand vor allem dadurch, dass man in der DDR ständig in irgendeiner Schlange stehen musste. Das lag daran, dass bestimmte Waren knapp oder nicht immer erhältlich waren, aber auch an der geringen Zahl der Verkaufsstellen und organisatorischen Mängeln im Einzelhandel. Wenn es dann das knappe Gut zu kaufen gab, haben die Leute es sofort in rauen Mengen gebunkert und es häufig auch als Tauschobjekt im Kreis der Freunde und Kollegen verwendet. Gerade das Verkaufspersonal hat einen Teil der begehrten Ware zurückgehalten, um es Freunden und Bekannten zu verkaufen, von denen man sich andere Waren im Tausch versprach. So schaukelte sich der Mangel schnell hoch. Verderbliche Mangelware oder „Bückware“ wurde in den nächsten Tagen überdurchschnittlich oft konsumiert, weil die DDR-Haushalte selten mit Tiefkühltruhen ausgerüstet waren. Und so waren die berühmten Bananen jedes Mal in nullkommanix in den Mägen des Volkes verschwunden.
Tatsächlicher Nahrungsmangel konnte auch deswegen nicht entstehen, weil die meisten Menschen öffentlich mit Mahlzeiten versorgt wurden. Es wurde in der DDR viel weniger gekocht als in der BRD, schließlich waren auch die meisten Frauen berufstätig. Das entsprach dem Leitbild des Staates: „Nur die Ablösung der individuellen durch die gesellschaftliche Hauswirtschaft kann die volle Emanzipation der Frau und ihre volle Gleichberechtigung in der Praxis verwirklichen“, heißt es im Lehrbuch „Wissenschaftlicher Kommunismus“ (Berlin 1973). Und: „Das Ziel der kommunistischen Umgestaltung der Lebensweise besteht nicht darin, die persönliche Lebensweise zu beseitigen. Es geht darum, den Menschen von der Last der Sorge um die Organisation des Alltagslebens zu befreien.“ In den kostenlosen Betreuungseinrichtungen für Kinder gab es ab dem zweiten Lebensjahr eine Vollversorgung für 55 Pfennig pro Tag (sozial schwachen Familien wurde der Tagessatz erlassen). Es gab übrigens einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz, aber keine Verpflichtung, die Kinder dort betreuen zu lassen. Da die Kinderbetreuung über die Betriebe geregelt war, entfielen die zusätzlichen Fahrwege, über die heutige Eltern klagen. Nach dem Job nahm man das Kind mit nach Hause. Die Berufstätigen wurden am Arbeitsplatz versorgt, darauf gab es einen Rechtsanspruch. „Der Betrieb hat die Versorgung der Werktätigen im Betrieb nach ernährungswissenschaftlichen Grundsätzen mit einer vollwertigen Mahlzeit und einer Zwischenverpflegung sowie mit Erfrischungen zu sichern“ (Arbeitsgesetzbuch der DDR, § 228). Das kostete zwischen ein und zwei Mark am Tag. Auch die Rentner hatten nach ihrer Pensionierung einen Anspruch auf Versorgung: „Die Arbeitsveteranen haben das Recht, die Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens in Anspruch zu nehmen und am Werkküchenessen im Betrieb teilzunehmen“ (Arbeitsgesetzbuch der DDR, § 236).
Waren aus dem goldenen Westen konnte man in „Delikat“-Geschäften (Nahrungsmittel) oder in „Exquisit“-Läden (Bekleidung) in Mark der DDR kaufen, wobei man im Durchschnitt vom Vierfachen des Preises im Westen ausgehen musste, oder gegen Devisen (DM, Dollar, Pfund, Franken) in den „Intershops“. Die entsprechenden Einkaufsschecks für die „Intershops“ konnte man in der Bank gegen Westgeld eintauschen, als Tourist aus dem Westen konnte man in bar bezahlen. Richtig teuer war Bohnenkaffee: 35 Mark musste der DDR-Bürger für ein Pfund bezahlen. Daher verbrauchte der DDR-Bürger mit etwa drei Kilogramm im Jahr auch nur die Hälfte seiner Westverwandtschaft. 1984 betrug das durchschnittliche Arbeitseinkommen 1102 Mark brutto, das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen lag bei 1653 Mark monatlich (viele Frauen waren ja berufstätig, Arbeitslosigkeit gab es nicht).
Dafür lag der Osten im Verbrauch von Spirituosen vorne. Mit 4,6 Litern reinem Alkohol schluckte der Ostmensch die doppelte Menge im Vergleich zum Westmenschen. Beim Bier lagen beide Deutschlands gleich auf (Westen: 145 Liter im Jahr, Osten: 142) und bildeten mit den Tschechen und Belgiern die weltweite Spitzengruppe. Die Spitzenbiere der DDR waren „Wernesgrüner“ und „Radeberger“, letzteres gab als Sixpack auch im Westen zu kaufen. Im Gasthaus waren Bier und Schnaps übrigens im Osten erheblich billiger als im Westen, ein kleines Bier (0,25 l) kostete zwischen 40 und 68 Pfennigen. Wein war in der DDR weniger verbreitet und drei- bis fünfmal so teuer wie in der BRD, da es im Osten kaum Anbaugebiete gab.
Der Wohnungsmarkt war im Osten recht entspannt. Es gab ein Recht auf Wohnraum (Artikel 37 der DDR-Verfassung), die Miete betrug etwa eine Mark pro Quadratmeter. Die Miete machte nur etwa drei Prozent des durchschnittlichen Familienbudgets aus, durch Mieterhöhungen konnte also niemand aus seiner Wohnung vertrieben werden. Gegen die Kündigung durch den Vermieter garantierte der Staat Kündigungsschutz und im Falle einer juristischen Auseinandersetzung Rechtsschutz. Kehrseite der Medaille: teilweise schlechte Zahlungsmoral der Mieter und Verwahrlosung des Gemeinschaftseigentums. Es gehörte allerdings nicht der gesamte Wohnraum dem Staat: 1984 beispielsweise waren 54 Prozent der Neubauten staatlich, 31 Prozent genossenschaftlich (Genossenschaftsanteile erwarben die Mitglieder durch Geld und Arbeitsleistungen) und 15 Prozent privat.
Die Wohnungseinrichtung der DDR-Bürger wirkte oft etwas altertümlich. Das lag daran, dass man sich das Mobiliar nur einmal im Leben kaufte und es dann bis zum Tode behielt. In der westlichen Wegwerfgesellschaft werden nach wechselnden Moden alle paar Jahre Einrichtungsgegenstände ausgetauscht – man muss sich ja heute nur mal die Sperrmüllberge in deutschen Städten anschauen -, in der DDR war das anders. Die Ausstattung mit Fernsehgeräten war ähnlich: durchschnittlich 130 Geräte auf hundert Haushalte im Westen, 116 im Osten. Allerdings hatte der Westhaushalt 88 Farbfernseher, der Osthaushalt nur 34 pro hundert Haushalte. Ein normaler Schwarz-Weiß-Apparat kostete in der DDR 2050 Mark, ein Farbfernseher, mit dem man auch das Westfernsehen in Farbe sehen konnte, 4900 Mark – also mehrere Monatsgehälter (damals gab es mit PAL im Westen und SECAM im Osten zwei unterschiedliche Systeme für Farbfernsehen; wer nur das Ostsystem hatte, sah das Westfernsehen in einem leicht verschwommenen Schwarz-Weiß). Videorekorder gab es im Osten praktisch gar nicht, sie kosteten auf dem Schwarzmarkt 10.000 Mark und mehr. Die Ausstattung mit Waschmaschinen und Kühlschränken war im Osten so gut wie im Westen.
Das größte Problem waren die Pkw. Die DDR-Führung hielt die individuelle Motorisierung für eine gesellschaftliche Fehlentwicklung und wollte den öffentlichen Verkehr fördern. Aber der Deutsche will sein Auto. Der Staat bremste weniger über den Preis – ein „Trabant“ kostete rund 10.000 Mark, ein „Wartburg“ mit Sonderausstattung das Doppelte – als über die Wartezeit. Sechs bis zwölf Jahre musste man in den achtziger Jahren auf einen „Trabant“ warten, acht Jahre auf einen „Wartburg“. Importiert wurden in geringer Stückzahl auch „Lada“ und „Moskowitsch“ aus der UdSSR, „Tatra“ aus der CSSR sowie „VW-Golf“, kleine „Renaults“ und „Volvos“ aus dem Westen (Preis: bis 40.000 Mark). Das führte dazu, dass auf dem Gebrauchtwagenmarkt höhere Preise erzielt wurden als für Neuwagen. Dafür hatte fast jeder fünfte Haushalt in der DDR ein Motorrad von „MZ“ (Motorenwerke Zschopau), teilweise mit Beiwagen, auf denen ganze Familien unterwegs waren.
Gerade bei knappen Gütern wie Autos, bestimmten Nahrungsmitteln aber auch Baumaterial entwickelte sich in der DDR ein ökonomisches Paralleluniversum des Tauschhandels, in dem sich alles organisieren ließ. Es reichte nicht, Konsument zu sein – man brauchte Freunde, Familie und Kollegen, mit denen man seine Geschäfte machen konnte. Ein Basiskurs in freier Marktwirtschaft, ohne die der Alltag nicht funktionierte. Man brauchte nicht nur Geld, sondern knappe Güter und „Connections“. Übrigens gab es in der DDR keine Ratenzahlung oder Konsumentenkredite. Wenn man etwas kaufen wollte, musste man das Geld dafür gespart haben. Das erklärt, dass der durchschnittliche DDR-Bürger 1984 7.100 Mark der DDR als Sparguthaben auf der Bank hatte, der „reiche“ BRD-Bürger mit 9.500 DM aber nicht sehr viel mehr.
Ein altes Vorurteil ist ja auch, in der DDR wäre man durch irgendwelche Mach-mit-Aktionen und Propagandaveranstaltungen in seiner Freizeit gequält worden. Der tatsächliche Zeitaufwand für diese Veranstaltungen lag bei vier bis sechs Stunden im Monat, die meist mit der Arbeitszeit verrechnet werden durften. Politische „Berieselung“ fand während der Arbeitszeit statt, ebenso die Teilnahme bei Massenkundgebungen oder Staatsbesuchen, wo man mit einem „Winkelement“ (Fähnchen) am Straßenrand zu stehen hatte. Tatsächlich ging der DDR-Bürger in seiner Freizeit häufiger ins Theater als der Westmensch: Auf 100 DDR-Bürger kamen in der Spielzeit 1984/85 59 Theaterbesucher, in der BRD nur 27. Auch das Kino besuchte der Ossi mehr als doppelt so häufig wie der Wessi. 88 professionelle Orchester unterhielt die DDR, nur 38 die viel größere BRD. Diskotheken gab es nicht viele in der DDR und auf den Tanzveranstaltungen der Staatsorganisation FDJ durfte nur 25 Prozent westliche Musik gespielt werden. Dafür wurde privat mit der Familie und mit Freunden sehr viel mehr gefeiert. Private Kontakte waren wichtiger als Konsumangebote.
Puhdys - Wenn ein Mensch lebt. http://www.youtube.com/watch?v=5Sriuus7guQ
Es gab vor der Wende keinen Grund, als Westdeutscher arrogant auf die Menschen im Osten hinabzublicken. Und es gibt auch heute keinen Grund. Sicher war die DDR kein Rechtsstaat und keine Demokratie, aber man kann sich durchaus einige Aspekte des Lebens in diesem Staat anschauen und womöglich sogar etwas lernen. Stichworte: Gleichberechtigung, Arbeitsmarkt, Kinderbetreuung, Wohnungsmarkt, Nachhaltigkeit.
City - Am Fenster. http://www.youtube.com/watch?v=se-8CsPBDF8

Schwarz und Weiß

1
“Macht Bonetti weiß”, hatte Lucky Scarfati zu ihnen gesagt.
Das war in der Buchbranche das Todesurteil. Weiß bedeutet Schweigen, das Weiße auf einer Buchseite spricht nicht. Nur die schwarzen Buchstaben. Jemanden „weiß machen“ hieß, ihn zum Schweigen zu bringen. Ihn umzulegen. Ihn kalt zu machen. Buchhandel ist nichts für Weicheier. Wer diesen Markt kontrollieren will, muss bereit sein, über Leichen zu gehen. Man würde es nicht glauben, wenn man in die harmlosen Hornbrillengesichter der Verkäufer in den Buchläden blickt. Aber man erkennt ja auch nicht, wie knallhart das Geschäft mit der Prostitution ist, wenn man das müde Lächeln einer Zwanzig-Dollar-Nutte sieht.
Was Bonetti mit Frankie „Machine Gun“ Bertone und Tony „Merciless“ Costello gemacht hatte, konnte sich die New Yorker Familie nicht gefallen lassen. Unmöglich. Niemals. Wer im Literaturbetrieb Schwäche zeigte, wurde vernichtet. Wenn Haie merken, dass ein anderer Hai verletzt ist und blutet, stürzen sie sich auf ihn und reißen ihn in Stücke. Wenn Lucky Scarfati nicht reagierte, würden ihm die anderen Familien bei lebendigem Leibe die Haut abziehen und ihn an seinen Gedärmen durch die Buchabteilung von Bloomindale’s ziehen. Seine besten Autoren würden die Schwänze der Bosse von Chicago, Philly und Detroit lutschen – und sie hätten noch Glück gehabt. Die meisten würden vermutlich als „freie Mitarbeiter“ auf dem Medienstrich landen und dort elendig vor die Hunde gehen.
Seine besten Leute standen vor seinem Schreibtisch im Hochhaus des Verlags Lansky & Falcone in der Lower East Side: Jerry „Fat“ Barletta, Billy „The Bullet“ Muletto und Rossi „The Pastaman“ Raviolo. Sie wussten, was zu tun war. Eine eingespielte Crew.
2
Es war bereits dunkel, als sich „Fat“ Barletta und Billy Muletto dem Hotelzimmer im elften Stock des Waldorf Astoria Berlin näherten. Sie wussten, dass Bonetti in seinem Zimmer war. Als sie ihren Wagen vor dem Hotel abgestellt hatten, musste der Pastaman nur die Rezeption anrufen und behaupten, er sei ein Reporter der Berliner Morgenpost, der Bonetti sprechen wolle. Er wurde zu Bonetti durchgestellt und als er dessen Stimme hörte, hatte er einfach aufgelegt.
Um den Aufenthaltsort Bonettis herauszubekommen, hatten sie gestern eine rattenscharfe Blondine auf seinen Chauffeur angesetzt. Ein paar Stunden, eine Flasche Bourbon und eine Prise Kokain später wussten sie, wo Bonetti untergetaucht war. Was sie nicht wussten: Äugelein hatte seinen Chef informiert. Ein kurzer Anruf, als sich die Blondine gerade im Badezimmer frisch gemacht hatte.
Die Zimmernummer kostete sie noch einmal fünfhundert Euro, die sich ein Hotelpage eingesteckt hatte. Der Pastaman wartete mit laufendem Motor, während seine beiden Kollegen vor Bonettis Zimmertür standen.
Die Musik war nicht zu überhören. Wagners „Ritt der Walküren“. Barletta öffnete vorsichtig das Schloss mit einem Dietrich, während The Bullet mit gezogener Waffe nervös den Kopf hin und her wendete, um den ganzen Flur im Auge zu haben.
Endlich war die Tür offen und „Fat“ Barletta nickte Muletto kurz zu. Dann rissen sie die Tür auf und rannten ins Zimmer. Es war stockdunkel. Und leer.
Muletto schloss die Tür zum Flur. Sie wollten Licht anmachen, aber es funktionierte nicht. Jemand hatte die Glühbirnen herausgedreht. Dann sah Barletta den Lichtschein im Spalt unter der Badezimmertür. Er schlich heran und presste sein Ohr an die Tür. Das Rauschen von Wasser. Der verdammte Bastard stand unter der Dusche!
Jerry riss die Tür auf und feuerte sein halbes Magazin auf den Duschvorhang. Dann trat er näher und zog den Vorhang beiseite. Die Duschkabine war leer. An der Wand hing ein Zettel, auf dem stand: „Ihr habt euch mit dem falschen Mann angelegt“.
Barletta hörte durch das Rauschen des Wassers und die Musik noch ein anderes Geräusch. Es hörte sich an, als sei eine Scheibe zu Bruch gegangen.
Er ging zurück ins Zimmer. Billy Muletto lag tot auf dem Boden und eine Blutlache breitete sich um seinen Kopf aus.
Barletta sah zum Fenster und hob instinktiv seinen Revolver, aber es war zu spät. Mit einem hässlichen Klatschen schlugen die Kugeln in seinem Gesicht ein.
Andy Bonetti zerlegte seelenruhig sein Scharfschützengewehr und verließ das Dach des Europa-Centers auf der anderen Seite des Breitscheidplatzes.
Niemand bemerkte Johnny Malta in seinem Trenchcoat, der sein Gesicht mit einer schwarzen Melone und einem falschen Bart getarnt hatte. Er schob im Vorübergehen ein Paket unter den Wagen von Rossi Raviolo.
Kurze Zeit später explodierte eine Bombe vor dem Waldorf Astoria. Die Crew aus New York gab es nicht mehr.
Jefferson Airplane -White Rabbit. https://www.youtube.com/watch?v=WANNqr-vcx0&spfreload=10

Sonntag, 23. November 2014

Nemesis

Die meisten Leute klagen darüber, sie seien in der Schule von irgendeinem Typen gequält und gemobbt worden. Ich nicht. Ich war der Typ, der andere gequält und gemobbt hat. Ich habe meinen Mitschülern schon am Eingang das Milchgeld abgeknöpft und die Hausaufgaben einkassiert, die ich am Tag zuvor nicht gemacht hatte. Ich habe sie an den Handgelenken gepackt und sie mit ihren eigenen Händen ins Gesicht geschlagen. Dabei habe ich gehässig gelacht und sie gefragt, warum sie sich selbst schlagen. Ich habe ihnen in der großen Pause ihr Wurstbrot abgenommen, einmal reingebissen und dann angeekelt ausgespuckt, bevor ich das Brot auf den Boden geschmissen habe. Ich habe ihnen im Vorübergehen gegen den Hinterkopf geschlagen und Tiernamen gegeben. Kannst du dich erinnern? Ich habe dich scherzhaft in den Arm genommen und dir dann ins Ohr gerülpst. Ich habe einfach so mitten im Unterricht dein Mäppchen aus dem Fenster geschmissen. Ich habe mir deinen Radiergummi geliehen und nicht mehr zurückgegeben. Ich habe mir genüsslich den Zeigefinger abgelutscht und dann habe ich ihn in dein Ohr gesteckt. Wenn du einen Fehler gemacht hast, habe ich dich ausgelacht. Ich habe laut gefurzt und dann habe ich wieder gelacht. Du hast mich nie zu deinen Geburtstagspartys eingeladen und ich bin trotzdem gekommen. Du magst mich nicht und ich bin immer noch da. Heute bin ich dein Kollege. Ich werde im Altersheim dein Zimmergenosse sein. Können wir jetzt endlich den Film gucken, den ich unbedingt sehen will? Hast du’s kapiert, Arschgeige? Was siehst du mich so blöd an?
Depeche Mode – Strangelove. https://www.youtube.com/watch?v=JIrm0dHbCDU

Vorläufige Ansichten zum vorübergehenden Mangel an Liebstöckel

Unter dieser einprägsamen Überschrift habe ich die kulinarischen Eindrücke meiner zweiwöchigen Berlin-Reise versammelt. Mein erster Herbstspaziergang führt mich zu meinem Lieblingschinesen, dem „Hot Spot“ in der Eisenzahnstraße. Während ich mich an einer scharfen Spezialität des Hauses labe, die prasselnd und dampfend in einem Steinguttopf serviert wird, lausche ich den beiden Geschäftsleuten am Nachbartisch. Ein Mann um die Vierzig mit grauem Anzug, Schlips und Halbglatze erzählt von einem Metallica-Konzert, das sein bisher größtes Musikerlebnis gewesen ist. Sein identisch aussehendes Gegenüber ist etwa zehn Jahre jünger und hört zu. Dann verfallen beide in Smartphone-Schweigen, bis die beiden Portionen Eierreis von der Mittagskarte und die kleinen Coca-Colas kommen. Beim Essen reden sie von irgendeinem Fonds, den sie managen. Wenn sie wüssten, welche herrlichen Weine der alte Wu bereithält.
In Kreuzberg lächeln mich manche Menschen an, wenn ich vorübergehe. Das mag an meinem „Hard Rock Café Schweppenhausen“-Shirt liegen. Erinnerungen an Abende und Nächte mit kurzweiligen Gesprächen bei Whisky und Bier im „Kloster“ und im „Intertank“ wehen mich an. Ich bin mit einem Karikaturisten, dem exilierten österreichischen Adligen Ulrich von Harndrang-Puschelberg, und der moldawischen Opernsängerin Shminka Gotmonnek bei „Schillerburger“ in der Schönleinstraße verabredet, um ein gemeinsames Projekt zu besprechen. Nein, bin ich nicht. Aber die Burger sind einfach großartig. Und bei „Uncle Sam“ in Zehlendorf war ich in Sachen Hamburger auch wieder.
Mittagessen in meinem Lieblings-Thai-Restaurant „Suksan“ in der Ansbacher Straße. Die Inneneinrichtung ist wunderschön und man fühlt sich gleich zehntausend Kilometer weit weg, so als träte man in eine Bambushütte am Meer. Die Mittagskarte bietet Dutzende Gerichte, wobei das teuerste inklusive Vorspeise nur 7,90 Euro kostet. Ich lasse mir in asiatischen Restaurants übrigens immer Besteck geben. Nicht aus Gründen einer angeblichen kulturellen Überlegenheit (für die es gerade in kulinarischen Fragen nicht den geringsten Anlass gibt) oder wegen motorischer Unfähigkeit (ich habe in Japan und China das Essen mit Stäbchen gelernt), sondern aus ökologischen Gründen. Die Essstäbchen werden aus Holz gefertigt und nach einmaligem Gebrauch weggeworfen. Für diesen Unsinn werden jedes Jahr Millionen Bäume in Südostasien gefällt, das sollte man nicht unterstützen. Ich habe für asiatische Abende Kunststoffstäbchen in der Besteckschublade, die ebenso für die Ewigkeit gemacht und sogar vererbbar sind wie gutes Besteck aus Edelstahl.
Berlin Mitte, Oranienburger Straße, Auguststraße. Überall sehe ich junge, aufstrebende Angestellte in modischer Freizeitkleidung. Auch die Restaurants sind von ihnen bis auf den letzten Platz gefüllt. Hier bekomme ich keinen Bissen runter. Ich fahre zur „Prager Hopfenstube“ auf der Karl-Marx-Allee. Es sind nur ein paar Rentner und eine junge Mutter da. Der Kellner duzt mich – nicht weil das ein cooler Szeneladen wäre, sondern weil ich hier schon seit vielen Jahren einkehre. Dieses Restaurant ist ein Anker im wechselhaften Berlin, träge und treu trotzt es dem Lauf der Zeit. Eine Frau kommt herein und holt die telefonisch bestellten Bratkartoffeln ab. „Mehr kann ich mir nicht leisten“. Aber: „Ansonsten alles schicki“, sagt sie auf Nachfrage der Frau, die mit ihrem Kleinkind am Tresen sitzt. Später betritt noch ein Handwerker in fleckigen Arbeitsklamotten die „Hopfenstube“, eine gefaltete BILD-Zeitung ragt aus seiner hinteren Hosentasche. Ich trinke zwei Gambrinus und genieße das köstliche Gulasch, die Knödel und das Mährische Kraut. Zum Nachtisch trinke ich einen Becherovka, der mit seinen Lebkuchengewürzen wie flüssiger Advent schmeckt. Goldstaub tanzt in der Herbstsonne vor dem Fenster.
Ich nehme ein spätes Frühstück im „Deichgraf“ am Nordufer ein, dem Stammlokal von Wolfgang Herrndorf. Angenehm unspektakuläres und sympathisches Gasthaus mit einer langen Holztheke, in Würde alt gewordenen Holztischen und –stühlen. Hier ist Berlin wie es eigentlich ist. Keine Touristen, keine Sehenswürdigkeiten, normale Menschen mit Berliner Dialekt bei Kaffee und Bier. So unaufgeregt geht es im Wedding zu, das Herrndorf gegen die hippe Mitte Berlins eingetauscht hat. Auf der Toilette zieht man an einer Eisenkette und der Spülkasten über meinem Kopf brüllt wie ein T. Rex. Anschließend spaziere ich auf dem Uferweg in Richtung Spandau. Auf der anderen Seite des Kanals sehe ich Industrieanlagen, kein Ausflugsdampfer schippert vorbei. Hier hat er gelebt, hier ist er gestorben.
P.S.: Meine Lieblingskneipe in Berlin ist natürlich immer noch das "Offside" in der Jülicher Straße. Der Wirt hat mich auf den irischen Writers Tears aufmerksam gemacht, der zu mir als Schriftsteller passen würde. Hier habe ich mehr über Whisky und Whiskey gelernt als irgendwo sonst auf der Welt. In meiner Zeit als Kiezschreiber im Wedding war das mein Wohnzimmer …
Blancmange - I've Seen The Word. http://www.youtube.com/watch?v=VbMjwXgmvB0

Samstag, 22. November 2014

Wie der Buchhandel wirklich läuft

1
Es war früher Morgen und dichter Nebel lag über dem North Beach von Bad Nauheim. Kommissar Schawanski drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und stieg aus seinem Opel Omega.
Ein Jogger hatte die Leiche gefunden und ein Streifenpolizist stand in unmittelbarer Nähe. „Ich habe nichts angefasst“, sagte er stolz, als der Kommissar aus dem Nebel auftauchte.
Schawanski beugte sich hinab und betrachtete, was die Fische von dem Gesicht des Toten übrig gelassen hatten. Irgendwie kam ihm der vier Zentner schwere Typ mit den dünnen schwarzen Haaren bekannt vor.
Zwei Kugeln in den Bauch und eine Kugel ins Herz. Aus nächster Nähe. Die Schmauchspuren waren deutlich zu erkennen. Er zog seine Gummihandschuhe an und durchsuchte die Taschen des Mordopfers. Keine Brieftasche, keine Papiere. Wer auch immer diesen Mann verschwinden lassen wollte, hatte gründliche Arbeit geleistet.
Der Kommissar fand ein Streichholzbriefchen der Morena-Buchhandlung. Und er sah die vier tätowierten Buchstaben auf den Knöcheln der rechten Hand: FMGB. Das war Frankie „Machine Gun“ Bertone, ein Auftragsmörder, dem man bisher nie etwas nachweisen konnte.
Jemand war schneller gewesen als „Machine Gun“. Besser. Schawanski hatte einen Verdacht und lächelte grimmig.
2
Es war nicht schwer gewesen, Nemo Breslauer zu finden, denn er hinterließ eine Spur wie ein Sattelschlepper. Sein kanariengelber Hummer H2 stand auf dem Parkplatz hinter dem schäbigen Verlagshaus in der 41. Straße und er musste nur warten. Er öffnete eine Tür des Wagens mit seinem Dietrich und legte sich hinter den Vordersitz auf den Boden. Eine Stunde später kam Breslauer heraus, schloss die Fahrertür auf und setzte sich ans Steuer. Als er den Wagen in die Tiefgarage seines Apartmenthauses in der Bad Nauheimer East Side abgestellt hatte, drückte Bonetti ihm seinen Colt Python an die Schläfe.
„Wer hat Frankie auf mich angesetzt?“
Nemo erkannte die Stimme sofort. „Bitte, bring mich nicht um, Andy.“
„Wenn ich das wollte, hätte ich es schon längst getan. Also: Wer war es?!“
„Die New Yorker Familie. Sie wollen das Geschäft mit dem Bahnhofsbuchhandel und den Supermärkten übernehmen.“
Bonetti roch Breslauers Uringestank. „Wer noch?“
„Chicago und Detroit. Ich bin nur ihr Autor, Andy. Bitte tu mir nichts.“
„Du wirst dich nie wieder in Bad Nauheim blicken lassen. Hast du das verstanden, du Arschmade?“
„Natürlich. Ich mache alles, was du willst.“
Bonetti schoss Breslauer das rechte Ohr ab, die Windschutzscheibe des Hummer zerbarst in tausend Teile. Dann stieg er aus.
3
Bonetti betrat die Morena-Buchhandlung durch die Vordertür. Seine gefürchtete Linke war mit einem Schlagring verziert, in seiner Rechten hielt er einen Totschläger. Die beiden hünenhaften Bodyguards, die am ersten Regal hinter dem Eingang standen, erkannten den berühmten Autor und stürzten sich sofort auf ihn.
Er traf den ersten mit einem Fausthieb in den Solarplexus und zog ihm den Totschläger über den Schädel. Der zweite Typ wollte eine Pistole ziehen, doch Bonetti brach ihm mit einem gezielten Schlag das Handgelenk und zertrümmerte ihm mit einer linken Geraden das Nasenbein. Auch er sank bewusstlos zu Boden.
Bonetti stürmte ins Hinterzimmer, wo Tony „Merciless“ Costello gerade einen Riesenhaufen Bargeld zählte. Er packte den Capo des New Yorker Mobs mit einer Hand an der Kehle und ließ ihn einen halben Meter über dem Boden zappeln. Costello war ein kleiner schmächtiger Mann mit eisengrauen Haaren und roten Hosenträgern.
„Du bist raus aus dem Geschäft, Tony! Ist das klar?“
Costello röchelte und die Augen quollen aus seinem Gesicht.
Bonetti schlug seinen Kopf auf die Tischplatte, bis die Zähne aus seinem Mund flogen, als sei er ein Popcornautomat.
„Ist das klar?! IST – DAS – KLAR !!!“
Bonetti schleuderte ihn gegen die Wand des Büros.
„Wenn ihr bis morgen früh nicht aus der Stadt verschwunden seid, dann komme ich mit Johnny Malta und Heinz Pralinski nach New York und wir nehmen euer ganzes verficktes Verlagshaus auseinander. Ich will eure gottverdammten Scheiß-Bücher hier nie wieder sehen. Capisce?!“
Queen - Las Palabras de Amor. http://www.youtube.com/watch?v=ezlugYeippk

Freitag, 21. November 2014

Überlegungen zum Mikro- und Makrokosmos

Wenn man die Theorie vom Urknall ihrer wissenschaftlichen Sprache entkleidet, hört sich diese Erklärung vom Ursprung des Universums an wie die Geschichte eines Schamanen aus grauer Vorzeit. Am Anfang hatte das Universum also nur die Größe eines Kürbisses und ist dann immer größer geworden. Ein Samenkorn, aus dem die Sonne, die Planeten und schließlich die Menschen, Tiere und Pflanzen entstanden sind so wie aus einem winzigen Samenkorn ein riesiger Baum wird. Was für eine romantische Vorstellung! Mit dieser Erzählung kann man die Mitbewohner seiner Höhle, die sich um das abendliche Lagerfeuer versammelt haben, sicher begeistern. Aber sie beantwortet immer noch nicht die Frage, woher dieses Samenkorn kam und wer es gepflanzt hat, woher es die Kraft zu seinem Wachstum nimmt und warum es sich zur Realität unserer Gegenwart entwickelt hat. In dieser Hinsicht sind wir mit der modernen Wissenschaft keinen Schritt weiter gekommen.
Genauso verhält es sich mit dem Mikrokosmos: Der Mensch ist, wie das gesamte Universum, aus winzigen Bausteinen zusammengesetzt. Die Bausteine sind unsterblich und werden nach unserem Tod wieder für etwas Neues verwendet, so wie ein Kind mit seinen Bausteinen immer wieder etwas Neues erschafft. Auch diese Geschichte lässt sich noch heute hervorragend an jedem Lagerfeuer erzählen. Lego und Metaphysik – eine charmante Idee. Und all das reicht uns, um uns für die Krone der Schöpfung zu halten, für den Höhepunkt der Zivilisation und für das Zentrum des Universums. Wir größenwahnsinnigen Primaten wissen alles, oder? Ist das Jahr 2014 eigentlich der Gipfel menschlicher Peinlichkeit oder kommt da noch was? Und wer beantwortet uns diese Frage?
Immaculate Fools - Immaculate Fools. http://www.youtube.com/watch?v=JUYJQWUTe_o

Berliner Reisenotizen

„Der große Mann bewahrt sein kindliches Herz.“ (Mong Dsi)
In der Stunde, bevor die Stadt erwacht, ist alles ruhig. Kein Gewitter würde es wagen, die Stille zu durchbrechen. Keine Polizeisirene, kein Lastwagen, kein Betrunkener. Das erste Licht trifft den ersten Klang und es ist immer ein Singvogel, dem die Ehre gebührt, mit seinen zarten Tönen die große Stadt zu wecken. Damit beginnt alles. Minuten später höre ich das dunkle Brummen des ersten Autos und langsam beginnt das Konzert Berlins. Es fehlt nur noch, dass die an den Müllwagen hängenden Männer singen wie Gondoliere und ihre Hüte schwenken.
Die früh verblühten Schönheiten des Proletariats, die am Hermannplatz mit einem Kinderwagen auf die U-Bahn warten.
Ein Nachmittag mit dem Bus durch Marzahn und Hellersdorf. Die DDR ist so nah, 2014 so weit weg. Nur die Brandzeichen der Konzerne auf der Bekleidung, den Taschen und Schuhen der Jugendlichen erinnern an die Gegenwart. In Hönow steige ich wieder in die U-Bahn. Der Bahnhof gehört noch zu Berlin, auf dem Bürgersteig beginnt Brandenburg. Die Kinder sind auf dem Weg zum Schwimmen oder Turnen. Der freundliche Ein-Euro-Jobber mit der Kippe im Mundwinkel, der Laub harkt und mir den Weg erklärt.
„Übergewicht in Deutschland nimmt zu“, lese ich in der U-Bahn auf dem Monitor.
Ich erinnere mich, dass ich 1985 eine Kurzgeschichte geschrieben habe, in der es um die Flucht über eine Grenze ging. Der Protagonist kriecht durchs Gras, läuft von Baum zu Baum und versucht, nicht von den Grenzsoldaten auf dem Wachturm entdeckt zu werden. Als er es endlich auf die andere Seite schafft, merkt er, dass dort nichts ist. Nur eine Landschaft, die auf eine riesige endlose Wand aufgemalt ist. 1985 kafkaesk und surrealistisch – 2014 eine Allegorie auf die vergebliche Flucht der Ostdeutschen? Vielleicht gibt es gar keine Freiheit, in die man flüchten kann.
Was mir in Berlin aufgefallen ist: Menschen essen im Gehen, auf dem Fahrrad, im Auto oder in der U-Bahn. Auf dem Land sieht man Menschen nur in geschlossenen Räumen essen. Ausnahmen: Grillen, Volksfest.
Bei der Anreise habe ich Erfurt besucht und mir die Altstadt angesehen. Nach einem einstündigen Rundgang lasse ich mich am Domplatz nieder und bestelle ein vorzüglich mundendes „Schnitzel Atemlos“, das seinen Namen vermutlich der Knoblauchcremesoße verdankt, die separat in einer Sauciere serviert wird (diese empfehlenswerte Methode verhindert ein Aufweichen der Panierung (fälschlicherweise oft als Panade bezeichnet)). Versuch einer Wiedergutmachung? Helene Fischer ist schließlich in meiner rheinhessischen Heimat aufgewachsen, nachdem die Russen sie rausgeschmissen hatten. Das Hasseröder Schwarzbier schmeckt ausgezeichnet und hat eine Karamellnote im Abgang.
Danach habe ich noch einen Zwischenaufenthalt in Naumburg. Warum hält hier ein ICE? Kurzer Spaziergang durch die Bahnhofsgegend. Direkt gegenüber auf dem Vorplatz ist das Arbeitsamt, wenige Schritte weiter eine Baracke namens „Hotel Kaiserhof“. Ein Getränkemarkt, cruisende Glatzen, zwei Imbissbuden, ich bin der einzige Nichtraucher. Dicke Jugendliche unterhalten sich in einer Mischung aus amerikanischem Medien-Slang und Dialekt. Von was träumen die jungen Menschen hier? Hausmeister in Halle werden, DJ in Dresden? Ein Mann um die Dreißig mit Base-Cap und ausgebleichter Jeans-Jacke trägt auf dem linken Arm ein Kleinkind und durchwühlt mit der Rechten die Mülltonnen nach Pfandflaschen.
Ist Ihnen auch schon einmal aufgefallen, dass Graffiti ausschließlich gesellschaftskritisch sind und nie die bestehenden Verhältnisse loben? Die Kritik findet man an den Häuserwänden, das Lob in den Medien. „Mit dem Smartphone machen sie dich kaputt“ (an der Bahnstrecke kurz vor Rüsselsheim). „Auch ohne mich“ (Erfurter Altstadt). „Die kapitalistische Avantgarde angreifen“ (Berlin, in der Nähe des ehemaligen Grenzübergangs Bornholmer Straße).
Ich reise immer mit einem Notvorrat an Literatur in der Jackentasche, diesmal ist es ein schmales Reclam-Bändchen Flaubert. Auf der Rückfahrt von Berlin nach Bingen beobachte ich einen sehr dicken Mann, der langsam eine Tüte Chips vertilgt. Es gibt DVDs mit Walgesängen und Urwaldbildern – warum nicht mal so was? Ich fand den Anblick sehr entspannend. Wie eine Lavalampe.
Zwei Wochen ohne Medien. Wie gelassen man wird, wenn man weiß, dass man nichts verpasst. Ein Leben ohne Mord, ohne Skandal, ohne Katastrophe. Ohne den bunten Konfettiregen aus Nachrichtensplittern, ohne den unverdaulichen Brei aus unzusammenhängenden Informationen zu tausendundeinem Thema. Eigentlich darf man keinen Tag aussteigen, keine Folge der Serie verpassen - sonst ist man vom Karussell gefallen und kapiert gar nichts mehr. Kafka hat einmal über die Lektüre von Zeitungen gesagt, es sei wie mit dem Rauchen, „man muss den Unterdrückern die eigene Vergiftung bezahlen.“
Zum Schluss möchte ich Heinrich Böll das Wort überlassen: „Es war ganz finster geworden, als wir ausstiegen. Dunkel und warm. Und als wir aus dem Bahnhof traten, schlief das kleine Städtchen schon fest. Ruhig und geborgen atmeten die kleinen Häuser unter sanften Bäumen.“
P.S.: Hier noch ein Witz aus dem Osten. Keine Ahnung, wer ihn mir erzählt hat, keine Ahnung, wer ihn erfunden hat.
„Im DDR-Radio: Beim nächsten Ton ist es acht Uhr. Piep. Und nun noch eine Sonderdurchsage für die Herren von der Volkspolizei: Acht ist, wenn der große Zeiger nach oben zeigt und der kleine auf die Brezel.“
Skunk Anansie – Hedonism. http://www.youtube.com/watch?v=uy6YCtWS3BU

Donnerstag, 20. November 2014

Huxley 2014

Es ist eine Freude, wie der Mensch des 21. Jahrhunderts mit friedlichen Mitteln und einer geradezu mütterlichen Sorgfalt auf seine Aufgaben, auf seine Funktion als Erwachsener vorbereitet wird. Gewalt und Zwang seien uns fern, wir gehen mit der Ruhe und Übersicht von Rinderzüchtern vor, die den Ertrag ihrer Herde steigern wollen. Das Vorschulkind lernt, dass der eckige Stab nicht ins runde Loch passt. Man beginnt, ihm Englisch, die Sprache des Erfolgs, schon vor dem ersten Schultag zu vermitteln. Mit lustigen Computerspielen und bunten Simulationen übt es als Schulkind das spätere Alltagsleben ein, mit dem Smartphone trainiert es seine permanente Verfügbarkeit. Als Erwachsener hat der Mensch die geschmeidige Anpassungsfähigkeit an die Anforderungen seiner Ausbilder und Vorgesetzten soweit verinnerlicht, dass er sie als „Flexibilität“ und „Mobilität“ idealisiert und verwirklicht. Nach dem Glück sucht er in der ihm angebotenen Ratgeberliteratur. Er findet es in schönen und nützlichen Gegenständen, die er nach einiger Zeit durch neue Gegenstände ersetzt, die ihm noch schöner und noch nützlicher erscheinen. Wir leben gerne so. Kritik? Wir haben doch alles, es geht uns doch gut. Einmal ins Laufen gebracht, ist das Programm der zwanghaften Selbstoptimierung nicht mehr zu stoppen.
„Ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre ein Staat, in dem die allmächtige Exekution politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrscht, die zu gar nichts gezwungen werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben“, schreibt Aldous Huxley 1949 in seinem Vorwort zur Neuauflage von „Schöne neue Welt“. Seine Utopie ist schon heute Wirklichkeit geworden. Nur das in Deutschland die Gegenwelt der Reservate, in der die nicht integrierbaren „Wilden“ seines Romans leben, nicht existiert. Wer nicht anpassungs- oder leistungsfähig genug ist, vegetiert als isolierter Hartz IV-Empfänger in seiner Bruchbude vor sich hin, sediert von TV-Schwachsinn, Alkohol und Internetpornographie. Jeder Gegenentwurf zur herrschenden Vernunft endet offenbar zwangsläufig in der Selbstzerstörung. Unser Leben ist perfekt – und darum alternativlos.
Ton Steine Scherben – Sklavenhändler. https://www.youtube.com/watch?v=0M3TV0zuuTA&spfreload=10

Bonetti ist tot

"Der Bericht über meinen Tod wurde stark übertrieben." (Mark Twain)
Am Vormittag schlägt die Nachricht ein wie eine Bombe: Andy Bonetti ist tot. Er sei in einem Hotel in Miami bei einer autoerotischen Strangulierung ums Leben gekommen. Stunden später ist eine Überdosis Chrystal Meth in Nairobi die Todesursache, während eine andere Nachrichtenagentur meldet, Jorma Harkonnen, der Boss der finnischen Mafia in Bad Nauheim, habe ihn wegen seiner Spielschulden umlegen lassen.
„Spiegel Online“ richtet einen Liveticker ein und informiert die Leserschaft über Reaktionen aus aller Welt. Nachrufe, Gerüchte, Verzweiflung.
Das ZDF bringt eine Sondersendung mit ihrer Live-Korrespondentin Tricia Takanawa. Angeblich plant die Deutsche Post eine Gedenkbriefmarke.
Bonettis Verleger, Werner Wachtelgruber, gibt ein Interview und erklärt, dass sämtliche Werke neu aufgelegt werden sollen. Gebunden und in Schweinsleder. Sogar das philosophische Frühwerk Bonettis „Torheit und Gram“ soll wieder erscheinen. Es gäbe ferner Überlegungen, das unvollendet gebliebene Werk „Namenloses Unglück des Weltruhms“ im Vorweihnachtsgeschäft zu veröffentlichen.
Die Nachricht erreicht den hessischen Ministerpräsidenten Theobald Lackstern bei einem Mittagessen mit dem Wirtschaftsminister von Boldawien. Er ordnet eine dreitägige Staatstrauer mit Flaggen auf Halbmast an und bittet seinen Referenten, eine kurze Fernsehansprache vorzubereiten, die am Abend im Hessischen Rundfunk nach der Tagesschau gesendet werden soll. Der Referent berichtet, ein bedeutender Künstler habe bei ihm angefragt, ob er den Grabstein anfertigen dürfe.
Fans legen Blumen vor die Einfahrt zur Villa Bonetti und zünden Kerzen an. Die „Aktionsgemeinschaft spätgebärender Veganerinnen“ (ASV e.V.), die Bonetti mit Geldspenden unterstützt hatte, legt einen Kranz nieder. Fliegende Händler bieten „Bigger Than Jesus“-T-Shirts mit Bonettis Porträt an. Währenddessen überschlagen sich die Meldungen:
Die antifaschistische Literaturgesellschaft „Wehret den Anfängern“ aus Klappstadt an der Winsel regt an, aus der Villa Bonetti ein Museum zu machen, und würde gerne das Ausstellungskonzept erarbeiten.
Der Radiosender Ben FM meldet, das Wim Wenders einen Film über Bonetti mit dem Titel „Der Himmel über Bad Nauheim“ plant.
Der Octopus-Verlag (Bertelsmann-Gruppe) wird in der nächsten Woche eine Bonetti-Biographie auf den Markt werfen und hat damit das Rennen gewonnen. In anderen Verlagshäusern wird fieberhaft an Konkurrenzprodukten gearbeitet.
In Marburg hat sich ein Germanistikstudent an die Tür der Universitätsbibliothek gekettet und will erst wieder Alkohol zu sich nehmen, wenn der Mord an Bonetti lückenlos aufgeklärt ist.
Eine tantrisch-buddhistische Chakra-Schnellreinigung namens „Zwölfblättriger Lotos und Müller“ wirbt im Internet mit der „patentierten Bonetti-Methode“.
Die rechtsalternative Protestpartei „Aufstand der Anständigen“ fordert den Rücktritt des hessischen Kultusministers Jochen Knochendocht.
Der Bahnhofsvorplatz von Bad Nauheim soll in Andy-Bonetti-Platz umbenannt werden. Die posthume Ernennung zum Ehrenbürger ist geplant. Auch die örtliche Volkshochschule soll seinen Namen tragen.
Am Spätnachmittag kommt das Gerücht auf, der US-Verlag Lansky & Falcone, in dem die New Yorker Mafia ihre Finger hat, habe Bonetti ermorden lassen, um mit ihrem eigenen Autor Nemo Breslauer ins lukrative Geschäft mit dem deutschen Bahnhofsbuchhandel einzusteigen. Bonettis Verlag hatte auch einen exklusiven Deal mit Aldi und Lidl über einen 99 Seiten-Krimi pro Monat abgeschlossen, den die Amerikaner mit ihrer Uncle Sam-Krimireihe gerne übernehmen würden. Darüber berichtet die Internetseite „Crime & Business aktuell“ ausführlich kurz vor der Tagesschau.
Am Abend sitzen zwei Männer vor dem Kamin.
„Noch einen Schluck Bushmills, Johnny?“
„Nur einen winzigen Tropfen.“
„Das war gute Arbeit. Die Sache mit der Strangulierung hat mir gefallen. Solche Details geben einer Geschichte erst die rechte Würze.“
„Danke, Andy. Auf dein Wohl!“
Lawrence Brown – Do nothing till you hear from me. http://www.youtube.com/watch?v=H5RrVRMV8xc

Mittwoch, 19. November 2014

Die Mauer ist weg

„Ich war beim Mauerfall in Berlin dabei.“
„Echt? Wieso hast du mir nie davon erzählt?“
„Ich habe damals für die Security gearbeitet.“
9. November 2014. Bornholmer Straße. Hier begann alles vor 25 Jahren. Ich bin durch den Mauerpark an die Brücke spaziert. Die alte Grenze ist mit weißen Ballons in Mauerhöhe nachgezeichnet. Es sind viele Leute unterwegs, die hauptsächlich fotografieren. Menschenschlangen vor Souvenirständen und der ambulanten Gastronomie. Auf einer Leinwand werden historische Schwarz-Weiß-Filmaufnahmen aus der Zeit der Teilung gezeigt. Wohin führte der erste Weg der DDR-Bürger in jener Nacht? In den Wedding. In eine völlig unspektakuläre Ecke West-Berlins. Um 23:30 Uhr wurde die Grenze geöffnet – als im Wedding kaum noch was los war. Und im Wedding wird man sich gewundert haben, wer so spät noch in die Kneipe kommt.
Checkpoint Charlie. Hier ist geradezu Volksfeststimmung. Noch mehr Buden und Bilder der deutschen Geschichte, dramatische Musik, Popcorn, Flaschenbier. Kameras, Scheinwerfer und wichtige Menschen, die ich nicht kenne. Sie sprechen in Mikrophone und sind goldgelb angeleuchtet wie Lotteriegewinne. Ich habe genug von der Geschichte und flüchte zu meinem Lieblingsitaliener nach Kreuzberg. Hier bin ich dem Glück näher als an der alten Grenze. Die Plaudereien der Kellner im „+39“ tun mir gut. Alles klingt gut, wenn es in italienischer Sprache gesagt wird. Und es klingt besser als die ganzen Politikeransprachen, die ich im Laufe des Tages zu hören bekomme. Ich bin ein unfreiwilliger Angehöriger des deutschen Staates.
Wie ich übrigens aus zuverlässiger Quelle weiß, werden die Mauerstücke, die in den Souvenirshops der Innenstadt (die alle den gleichen Besitzer haben und aus dem gleichen Lagerhaus beliefert werden) mit „Echtheitszertifikat“ verkauft werden, in China hergestellt. Man erkennt die Fälschung an den albernen Bonbonfarben, die auch noch richtig frisch leuchten, obwohl der Mauerfall schon ein Vierteljahrhundert her ist. Wer sich noch an die Mauer erinnert, weiß natürlich, dass nur ein Bruchteil von ihr bemalt (und auch nur auf einer Seite, die Ostseite war jungfräulich grau) und nur ein vergleichsweise kleiner Teil (in der Innenstadt) monochrom beschriftet war.
Im Gegensatz zu mir war die charmante Dame, der ich diese Geschichte zu verdanken habe, in jener denkwürdigen Nacht tatsächlich am Ort des Geschehens und auf der Mauer. Sie berichtete von wahnsinnig viel Polizei und Militär auf der Ostseite. Wie war der November 1989 für mich? Als am 30.11.1989 der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, ermordet wurde, war es für in meinem Alltag ein größeres Ereignis als der Mauerfall, den ich erst am 10. November im Fernsehen mitbekommen habe. Wegen des Mordanschlags stand ich auf dem Weg von der Heidelberger Uni nach Ingelheim stundenlang im Stau und kam erst nach Mitternacht zu Hause an, weil die Polizei bei der Fahndung nach den Tätern den kompletten Verkehr über den Rhein lahmgelegt hatte. Ich hatte mich an einer Tankstelle mit Dosenbier eingedeckt und hörte Beastie Boys in ohrenbetäubender Lautstärke.
Der Mauerfall blieb – trotz seiner immensen Bedeutung – zunächst ein reines Medienereignis für mich. Ich kannte persönlich keinen einzigen Ostdeutschen und die rheinhessische Provinz ist von einer geradezu hartnäckigen Verschlafenheit. Als ich, vier Wochen nach dem Mauerfall, in Ingelheim auf unserem Balkon stand und eine Zigarette rauchte, wurde ich zum ersten Mal konkret mit der neuen Realität konfrontiert. Zuerst hörte ich nur ein Geräusch, so als würde ein pubertierender Dinosaurier herumpöbeln. Dann sah ich ein winziges hellblaues Auto die Rheinstraße entlangrollen. Es war nicht schnell, aber es produzierte eine gewaltige Qualmwolke, als wäre es einem Comic oder einem Slapstickfilm entsprungen.
Natürlich war ich damals auch begeistert und gerührt, mit welchem Enthusiasmus die Menschen für Freiheit und Selbstbestimmung eingetreten sind. Ich war überrascht und euphorisch, als die alten Herrscher davongejagt wurden. Und 1990 war ich enttäuscht und verbittert, als diese einmalige Chance der Geschichte weggeworfen wurde für Mallorca und Bananen, für Mercedes und Adidas. Glasperlen haben die Menschen bekommen – und so tapfer hatten sie für ihre Würde gekämpft. Helden für einen Augenblick. Und dann sanken sie zurück in die ewige Knechtschaft wie 1848 und 1918. Wie die Amerikaner nach 1776, wie die Franzosen nach 1789, wie die Russen nach 1917, wie die Chinesen nach 1949. Am Ende jeder großen Bewegung sehen wir die erbärmliche Mittelmäßigkeit unserer Gattung und eine neue Elite, die der alten erschreckend ähnlich ist. Wir erleben eine betäubende Epoche des Biedermeier und der Restauration. Wir spüren die Fesseln des Gewöhnlichen und bedauern eine Jugend, die wieder mit gesenktem Haupt aufwächst. Und das liegt nicht nur an den blöden Smartphones.
P.S.: Die Pogromnacht 1938 und die Ausrufung der Republik 1918, beides auch am 9. November, hat man heute versuchsweise in den Nachrichten vergessen. Weiter so!
Talk Talk – Living In Another World. https://www.youtube.com/watch?v=qAlLQaDXc4I

Dienstag, 18. November 2014

Ankunft in Berlin

Als ich am Südkreuz in die S-Bahn einsteige, bin ich mit einem Schlag wieder in Berlin. Die ungewohnte Nähe von Menschen, die man in Schweppenhausen nur selten sieht – Frauen mit Kopftüchern, bärtige Studenten, Männer mit Kinderwagen -, katapultiert mich in einem einzigen Augenblick in meine Vergangenheit zurück. Im ICE war mir die alte Heimat bei der Einfahrt in die Stadt gar nicht ins Bewusstsein gedrungen, da ich mich mit meinem Sitznachbarn, einem gelernten DDR-Bürger, der nach Meck-Pomm weiterfahren wollte, über den Untergang des Ostfußballs unterhalten habe.
Hansa Rostock hatte in der ersten Saison der gesamtdeutschen Bundesliga Bayern München geschlagen – im Hin- und im Rückspiel -, erzählte er mir freudestrahlend und öffnete zischend eine Dose Bier. Robotron Sömmerda, Aktivist Brieske-Senftenberg, Motor Jena, Traktor Schwerin, Chemie Leipzig, Fortschritt Meerane, Rotation Babelsberg, Empor Rostock, Turbine Erfurt – alles Vergangenheit. Die Bescheißereien, damit der Stasi-Club BFC DDR-Meister wurde: Hansa Rostock hatte einmal nach neunzig Minuten 4:2 geführt – der Schiedsrichter hatte so lange nachspielen lassen, bis es 4:4 stand.
In der S-Bahn denke ich daran zurück, wie es in den achtziger Jahren war, als ich Berlin besucht habe. Damals wurden im Zug noch die Ausweise von DDR-Grenzern kontrolliert, man war auf dem Weg in ein anderes Land. Am Bahnhof Zoo stieg man aus und war zunächst enttäuscht. Im Vergleich zum Frankfurter Hauptbahnhof war der West-Berliner Bahnhof winzig und wirkte wie eine Fabrikhalle. Da er der Reichsbahn und damit der DDR gehörte, war er völlig heruntergekommen und eine düstere Enklave der Obdachlosen, Drogenhändler und Prostituierten. Damals waren Bahnhöfe noch keine Einkaufszentren. Aber es gab im Erdgeschoss eine Buchhandlung „Heinrich Heine“, ein herrlich unübersichtliches Labyrinth neuer und alter Bücher, aus hohen Regalen und wackeligen Stapeln. Das war der erste Eindruck, den man vor dem Mauerfall von West-Berlin hatte: Drogen, Elend, Literatur. Eine Welt zwischen den Welten, zwischen dem blitzblanken Wirtschaftswunderland im Westen und der sozialistischen Diktatur im Osten.
Das alte West-Berlin, länger vom Feind belagert als Troja, ist untergegangen. Wer interessiert sich noch für Sehenswürdigkeiten wie den Funkturm oder die Gedächtniskirche? Das ICC war einmal mit Baukosten von einer Milliarde DM das teuerste Bauprojekt der BRD – und man konnte ja froh sein, dass man für dieses Kongress-Zentrum eine so charmante Abkürzung gefunden hatte. Heute spielt sich alles im ehemaligen Osten und in Neubauten ab, die nach dem Mauerfall entstanden sind. Auch das alternative Leben, die Revoluzzer und Anarchisten, die Traumtänzer und Lebenskünstler, sind längst verschwunden. Berlin ist normal geworden, es ist kein besonderer Ort mehr. Niemand gräbt noch Fluchttunnel in dieser Stadt, aber manchmal möchte man einen Fluchttunnel in die Vergangenheit graben.
Kaiser Chiefs - Coming Home. http://www.youtube.com/watch?v=VOxhVcCIsP4

Niemandsland

Das heutige Sony-Center am Potsdamer Platz liegt auf dem Gelände des ehemaligen Lenné-Dreiecks, vor dem Fall der Mauer ein Niemandsland zwischen Grenze und Westberlin. Ich erinnere mich noch gut daran, als das Gebiet, Teil des DDR-Territoriums, 1988 von etwa dreihundert Westberliner Jugendlichen besetzt wurde. Der Genosse Erich Honecker ließ sie gewähren, da das Gebiet ohnehin kurze Zeit später per Gebietstausch an Westberlin fallen sollte. Die Besetzer wurden von der Westberliner Polizei erst eingezäunt, dann wurde das Gelände nach der Übergabe gewaltsam von neunhundert Polizisten in Kampfanzügen geräumt. Die Besetzer flüchteten durch die Mauer, wurden von feixenden DDR-Grenztruppen mit Frühstück versorgt und über den Grenzübergang Friedrichstraße in den Westen zurückgebracht, ohne dass auch nur eine Verhaftung durchgeführt worden wäre. In der Mauer waren Türen, und wenn die Vopos (die Volkspolizisten der DDR) wollten, konnten sie vor dem »antifaschistischen Schutzwall« jeden verhaften, denn der Meter direkt vor der Mauer auf der Westseite gehörte noch zur DDR. Wer also die Mauer berührte, war bereits auf DDR-Gebiet. Letztlich gehörte die Westseite der »Berlin Wall« aber den Sprayern, deren Werke von Touristen aus aller Welt verewigt wurden – und die Westpolizei war machtlos, da die Mauer nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fiel. Ebenso wenig bekannt ist die Tatsache, dass es in diesem gottverlassenen Winkel des damaligen Westberlin eine Magnetschwebebahn gab, die Teststrecke umfasste aber nur drei Stationen. Wo heute eine Metropolenillusion namens Potsdamer Platz ihr hässliches Haupt in den Himmel hebt, fuhr damals ein knallroter Transrapid für Arme am einsamen Weinhaus Huth vorbei durch die Ödnis ins Nichts, abgesehen von der Besucherplattform und dem Souvenirstand. Bei der Vorführung des Prachtstücks vor etlichen zugereisten Oberbürgermeistern, denen die neue Technologie vorgeführt und angeboten wurde, funktionierte natürlich gar nichts. Immerhin war die Fahrt mit dieser technischen Meisterleistung auf Weltniveau ab dem Spätsommer 1989 kostenlos, dann fiel die Mauer. 1991 wurde die M-Bahn endgültig aufgegeben, nur zwei Jahre nach Inbetriebnahme. Mitten in der Brache, nur wenige hundert Meter von der Mauer entfernt, hatte man außerdem das sogenannte Kulturforum mit dem unförmigen bronzefarbenen Bau der Philharmonie in den märkischen Sand gesetzt, wo sich allabendlich erschöpfte japanische Touristen in den Schlaf geigen ließen.

Montag, 17. November 2014

99 Cent für Kritik

Dein Leben ist ein ständiges Tauschgeschäft: Konsumprodukte gegen lästige Fragen.
Ein Tsunami aus Scheißdreck überflutet uns alle mit einem dumpfen Gefühl der Zufriedenheit.
Ryuichi Sakamoto featuring Iggy Pop - Risky (12" Mix). https://www.youtube.com/watch?v=alcAyRT2fNk

Lehrkörper

Neulich ist ein Lehrer meiner alten Schule an Lungenkrebs gestorben. Ich kann mich noch gut an den riesigen Mann in seinem weißen Kittel erinnern. Legendär haben ihn zwei Aktionen gemacht. Einmal ist er morgens mit dem Traktor von Appenheim nach Ingelheim ans Gymnasium gefahren, nachdem er bei einer Alkoholkontrolle der Polizei seinen Führerschein abgeben musste. Ein anderes Mal hat er eine Schülerin nach vorne an die Tafel gerufen und sie nicht etwa geprüft, sondern seine Brieftasche gezogen und ihr drei Mark in die Hand gedrückt. Damit schickte er sie zum nächsten Kiosk, um eine Packung Roth-Händle ohne Filter zu kaufen. Ob es so etwas heute noch im Unterricht gibt? In der Fünf-Minuten-Pause stand er immer am offenen Fenster des Klassenzimmers und rauchte. Ruhe sanft, weißer Riese!

2002

Auszüge aus dem Notizbuch:
1. Januar, Schweppenhausen. Neues Jahr, neues Glück, neues Geld. Der Euro gibt mir das Gefühl zu verreisen, ohne die Stadt verlassen zu haben. Überall muss ich rechnen, alle Preise sind anders – von den fremden Scheinen und Münzen ganz zu schweigen. Die alte D-Mark versucht man währenddessen loszuwerden wie die üblichen Urlaubsrestbestände am letzten Tag der Reise – obwohl mir meine letzten Geldstücke doch so vertraut erscheinen.
7. Januar, Berlin. Den ersten Euro erhielt ich am zweiten Januar in einem Stromberger Supermarkt, als ich Sekt kaufte. Die letzte DM habe ich heute für Nudeln mit Steinpilzen in der Kantine ausgegeben.
12. Februar, Berlin. Man frisst so viele Informationen in sich hinein. Und doch scheidet man das meiste wieder unverdaut aus.
3. Mai. Das Lebensmotto und zugleich die Lebensberechtigung des modernen Menschen: Es gibt immer was zu tun. Läuft übrigens auch als Baumarktreklame ganz prächtig.
28. Juni. ... und auf dem Grabstein soll stehen: Genialer Faulpelz.
15. August. Er sprang in ein Taxi und rief dem Fahrer zu: „Fahren Sie mich irgendwo hin, ich werde überall gebraucht.“
16. Oktober. So stellt man sich Berlin anderswo vielleicht vor und so ist es manchmal wirklich: Im Nachbargebäude des Wissenschaftszentrums, in dem ich meine Tage vertrödle, in der Neuen Nationalgalerie, wird die neue Regierungskoalition besiegelt und verkündet. Viel Presse, aber nur wenig zu sehen, da die Regierung wegen einer Greenpeace-Performance den Hintereingang vorzog. Da Mittagspause ist, gehe ich hin und komme sogar an der Security vorbei in den Saal. Da ich aber keinen Presseausweis habe, werde ich wieder hinauskomplimentiert. Nervöse Blicke, offenbar hält man mich für einen Spinner.
21. Oktober. Der berühmte Dichter hatte sich eine Schnittwunde zugefügt, um mit seinem eigenen Blut schreiben zu können. Jetzt fiel ihm nichts mehr ein.
7. November. Humor ist immer auch der Humor der Anderslachenden.
2. Dezember. Ich bin mit Freunden für ein paar Tage nach Rom gefahren. Im August habe ich noch eine alte Freundin in Stockholm besucht, ansonsten habe ich fast meinen kompletten Urlaub in Schweppenhausen verbracht und mir die Fußball-WM angesehen. In Rom ist es so warm, dass mir das Eis aufs T-Shirt tropft. Wir sind in einem Pilgerhotel in der Nähe des Petersdoms. An der Wand hängt kein Fernseher, sondern Jesus. Schwester Brunhilde leitet das Hotel, wir verstecken unsere Weinvorräte, die wir teilweise unter der Jacke hineinschmuggeln müssen, wie Pubertierende auf Klassenfahrt. Tagsüber Kultur (Die „Sehenswürdigkeiten“, um mal einen alten Ausdruck zu benutzen), abends Essen und Trinken in Trastevere. Vor allem auf dem Petersplatz wird das Jahrtausende alte Handwerk des Bettelns noch von uralten Klageweibern gepflegt. Ich sehe, wie eine der Bettlerinnen in einer Seitenstraße verschwindet, wo sie in einen Wagen einsteigt. Ein junger Mann hält ihr die Tür auf. Hut ab vor diesen Profis!
19. Dezember. Ich bin nicht nur allein im hintersten Winkel des Schulhofes, ich bin auch unsichtbar, denn ich habe mir eine Grube gegraben und luge nur gelegentlich unter einem Stein hervor, um die anderen Schüler in ihrem sinnlosen, von allen Überlegungen unbeschwerten Spiel zu beobachten.
Alexander O'Neal - Criticize. https://www.youtube.com/watch?v=N04Q6NaYhCQ

Sonntag, 2. November 2014

Wenn der Scheich kommt

Es geschah anlässlich einer jener sagenhaften Abendgesellschaften, die Andy Bonetti im opulenten Ballsaal seiner Villa zu geben pflegte. Der Anlass war die Einweihung eines riesigen handgewobenen Gobelins, der die deutsche Fußballnationalmannschaft nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft 2014 zeigte. Der bekannte Bad Nauheimer Pianist Alfred „Freddy“ Wasserstrahl hatte sich gerade an den Konzertflügel gesetzt und hob an, das Präludium seiner jüngst komponierten Fuge „Ehre sei Satan in der Tiefe“ zu spielen. Sein Bruder Moritz Wasserstrahl, der bereits vor vielen Jahren nach Belgien ausgewandert war und es dort unter seinem neuen Namen Maurice Lafontaine zu einem berühmtem Chocolatier und Pralinenerfinder gebracht hatte, stand neben ihm und nippte an seinem Champagner.
Der apostolische Nuntius Monsignore Grasso di Manzo, der offizielle Vertreter des Heiligen Stuhls in Bad Nauheim, kam mit zornesrotem Kopf auf den Pianisten zu. „Sie werden es nicht wagen, diesen Schmutz vor all diesen Leuten zu spielen“, zischte er empört.
„Ich glaube nicht an Gott, aber an den Teufel, Monsignore“, sagte Freddy Wasserstrahl mit einem süffisanten Lächeln und senkte seine Hände drohend über die Tasten.
Da erschütterte ein schriller Schrei … - ja was? Die Stille? Die Abendgesellschaft? Oder sagte der Botschafter des Papstes noch etwas? Er hatte den Faden verloren und hob den Blick vom Monitor. Unter ihm lag der Mainzer Winterhafen mit seinen vielen Segelbooten, auf denen trotz der frühen Stunde schon einige silberhaarige Herren in weißen Hosen und marineblauen Pullovern zu sehen waren. Es versprach, ein sonniger Frühlingstag zu werden. Genau das richtige Wetter für eine Segelpartie auf dem Rhein. Und er saß an seinem Schreibtisch und arbeitete an seinem globalisierungs- und kapitalismuskritischen Roman mit dem Titel „Belphegor“. Er sah sein Buch schon im Schaufenster der Mainzer Gutenberg-Buchhandlung Dr. Kohl auf der Großen Bleiche: „Belphegor“ von Jimmy Stoppelkamp. Oder sollte er sich ein Pseudonym zulegen?
Seit dem Herbst saß er jeden Vormittag an diesem riesigen polierten Mahagonitisch mit kostbaren Intarsien und kam nicht wirklich voran. Er hatte eine Menge Figuren erschaffen, aber es gelang ihm nicht, sie wirklich in Bewegung zu setzen. Sie waren mit charakterlichen Eigenschaften, optischen Details und merkwürdigen Gewohnheiten überfrachtet, aber es fiel ihm keine mitreißende Handlung ein. Was machten reiche und bedeutende Menschen eigentlich den ganzen Tag?
Da klingelte das Telefon. Das Telefon? Erschrocken starrte er es an. Warum nicht sein Handy? Nach mehrmaligem Klingeln hob er ab. Es war der Sekretär des Scheichs. Er würde übermorgen mit seiner Familie anreisen. Das Haus habe bis dahin in tadellosem Zustand zu sein.
Er bekam augenblicklich eine Panikattacke. Sein Herz raste. „Mandy“, schrie er und rannte aus dem Arbeitszimmer auf den Flur, wo er fast auf dem spiegelglatten Parkett ausgerutscht wäre. „Mandy, wach auf!“ Seine Stimme überschlug sich. „Wach auf, der Scheich kommt!“
Mandy öffnete die verquollenen Augen und war verwirrt. „Was? Wer kommt?“ fragte sie mit schwerer Stimme.
„Der verdammte Scheich! Du musst hier verschwinden!!“ Dann rannte er weiter ins Wohnzimmer.
Der ganze Tisch, ein filigranes Meisterwerk aus japanischem Kirschholz, stand voller leerer Bierflaschen, auf dem prächtigen weißen Ledersofa lagen überall Chips-Krümel verstreut. Er riss die Fenster auf, um den kalten Zigarettenrauch hinaus zu lassen. Was muss ich noch machen, fragte er sich wie im Fieber. Er hatte sich mit seiner Freundin im ganzen Haus breit gemacht. Die kleine Dienstbotenwohnung, die ihm als House Sitter, als Hausverwalter, als Facility Manager oder was auch immer in seinem Vertrag gestanden hatte, im Keller neben den Garagen zugewiesen war, hatte er seit dem Herbst nicht mehr betreten. Der Scheich kommt! Denk nach! Die Schweinekoteletts und der Whisky müssen weg. Das Sex Pistols-Poster muss von der Wand. Und sicher lag irgendwo im Badezimmer dieser Scheiß-Dildo von Mandy Seidelwitz.
P.S.: Scheich Mohammed Ibrahim Al-Hudaithi aus Saudi-Arabien hat 2013 im Mainzer Winterhafen ein Haus gekauft, das er einmal im Jahr benutzt, wenn er mit seinem Harem, seinen zahlreichen Kindern und Verwandten in die Stadt kommt, wo die ganze Sippschaft in der Uni-Klinik einem ausführlichen Gesundheits-Check unterzogen wird. Den Rest des Jahres steht die Immobilie an der Uferpromenade der Innenstadt leer.
Les Rita Mitsouko – Marcia Baila. https://www.youtube.com/watch?v=t6FVlfOgTo8

Verbraucherinformationen

In den nächsten zwei Wochen bin ich im Urlaub. Berlin, 25 Jahre Mauerfall. Ich habe bei einem Preisausschreiben ein Meet & Greet mit David Hasselhoff gewonnen (Wendy, Heft 21/2014). Es ist geplant, dass wir zusammen einen Kasten Bier vor der East Side Gallery leer trinken und dann im Liegen einen Hamburger essen. Wenn The Hoff anschließend zu singen beginnt, reißen sie diesen Teil der Mauer sicher auch noch ein. Ich verstehe sowieso nicht, warum es der Berliner Senatsverwaltung in all den Jahren noch immer nicht gelungen ist, dieses nutzlos gewordene Bauwerk komplett zu entsorgen. Vermutlich sind die zuständigen Beamten den ganzen Tag mit dem neuen Flughafen beschäftigt.
Als Lektüre für die Zwischenzeit biete ich Ihnen eine seeehr lange Kurzgeschichte aus dem Jahr 2004 an: „Ödland“. Die Geschichte eines Ex-Politikers, der sich auf seine letzte Reise begibt. Genau das Richtige für den Monat November. Ich empfehle Ihnen, jeden Tag eines der neun Kapitel zu lesen. Ich bin jedenfalls offline. Medienfrei. Einfach mal abschalten.
In einem Jahr haben wir das nächste Jubiläum: 25 Jahre deutsche Einheit. Silberne Hochzeit.
Ich wollte damals nicht heiraten.
Aber Gabi war schwanger.
Verdammte Bananen.
Ideal – Berlin. http://www.youtube.com/watch?v=tYyZaoVT3WA

Ödland, Kapitel 1

Ich habe alles gehabt. Mein Name war in allen wichtigen Publikationen dieser Republik. Mein Gesicht war im Fernsehen. Meine Stimme im Radio. Immer und immer wieder. Es gab einen Zeitpunkt, da zog ich mich gelangweilt in mein Landhaus zurück, stellte mir vor, was dereinst auf der Messingplatte stehen möge, die man sicherlich nach meinem Tod am Gebäude anbringen würde, und wartete auf die Busladungen von Japanern, die sicher nichts Besseres zu tun hätten, als auf dem Bürgersteig herumzulungern und zu fotografieren. Aber die Japaner sind nie gekommen. Und es ist still geworden hier.
In früheren Zeiten ekelte ich mich bisweilen vor der Nähe der Menschen. Dienstliche Besprechungen, öffentliche Auftritte, fremde Menschen, die sich plötzlich an dich drängen und deine Nähe suchen. Eigentlich die Nähe zu etwas anderem, zu deiner Position, zu deinem Einfluss, an dem sie glauben, nur durch bloße physische Annäherung teilhaben zu können. All das war mir unbehaglich. Ich trug mein Amt wie eine Monstranz vor mir her, obwohl niemand besser als ich wusste, wie sehr ich dem Zauberer von Oz ähnelte, der allein mit seinem beeindruckenden Auftritt von der Dürftigkeit des Amtsinhabers abzulenken hoffte. Aber das Amt schützte mich zugleich wie ein Panzer. Die ehrfürchtigen Blicke, das Stottern, die Unnatürlichkeit – all das galt nicht mir, sondern meiner Hülle. Und ich hatte das Privileg, gute Worte durch den Panzer zu mir dringen zu lassen und schlechte Worte meiner Behörde und meiner Partei anzulasten.
Heute wünsche ich mir Gesellschaft. Aber ich bin allein in meinem Haus. So allein, wie ich es mir immer gewünscht habe. Aber ein Wunsch kann auch bis zum Überdruss erfüllt werden. Dieses Maß an Einsamkeit ist für einen einzelnen Menschen unerträglich, soviel zur Ironie der Situation. Übermaß und völligen Mangel an menschlichem Kontakt gab es in meinem Leben reichlich. Aber ich habe nie ein ausgeglichenes Verhältnis erlebt. Die Schnittmenge von vielen Menschen und keinem Menschen in deiner Nähe ist ein Mensch. Dieser Mensch war Kerstin. Ich wollte nicht so früh von ihr sprechen. Aber meine Gedanken kehren immer wieder zu ihr zurück. Sie war so jung, als sie gestorben ist. Und ich bin jetzt ein alter Mann.
Sicher, ich bin der ironische Skeptiker meiner Jugendzeit geblieben. Aber der Anzug aus Fleisch ist doch sehr schlaff geworden. An der Wursttheke des Kleinstadtsupermarkts würde niemand von mir revolutionäre Kritik am herrschenden Konzernkapitalismus erwarten. Mit meinen kurzen grauen Haaren und der städtischen Kleidung würde man mich ohnehin beim ersten Anblick dem Lehrerberuf zuordnen und bereits innerlich Abstand von mir genommen haben, bevor ich noch einen guten Tag wünschen kann. Einer wie ich ist auch in der Menge eines Volksfests der einsamste Mensch, den man sich vorstellen kann. Einsamer könnte in der deutschen Provinz, in dieser ehernen Festung der Geistesferne, nicht einmal das verlorene japanische Schaf aus der ausgebliebenen Touristenherde sein.
Daher ziehe ich mich zurück. Ich beschränke meine Ausflüge in die Außenwelt auf ein überschaubares Minimum. Und selbst diese Ausflüge führen mich häufig zum Gefühl der Einsamkeit zurück. Es reicht ein Blick in die mit warmem gelbem Licht gefüllten Fenster einer alten Backsteinvilla oder auf ein junges Liebespaar, das abends auf einer Parkbank sitzt oder meinetwegen des Gelächter, das aus Wirtshäusern oder von Kinderspielplätzen schallt. Manche Menschen verrohen in der Einsamkeit, andere werden empfindsam bis zur Schreckhaftigkeit. Die Ereignislosigkeit bläst jede winzige Veränderung zu einer Bedrohung auf. Ein fremdes Gesicht auf dem Bürgersteig vor ihrem Haus setzt eine Kette von Überlegungen in Gang, die von Misstrauen und Angst geprägt sind. Wenn nichts passiert, kann alles eine Gefahr sein. Die Sicherheitsfirmen verdienen ein Vermögen an dieser aus Langeweile geborenen Furcht. Ich habe mir bisher die Gelassenheit bewahrt, dieses Haus allein und ohne Angst zu bewohnen. Und ich habe den Respekt vor unbekannten Menschen nicht verloren, wie viele einsame alte Menschen. Meine Verachtung gilt nur den bekannten Wesen in meiner Nachbarschaft.