Wenn
Freund Hein zu Besuch kommt, wird es keine große Sache sein. Es wird in keiner
Zeitung stehen, denn es wird weder der Klimawandel, ein Erdbeben oder ein
Weltkrieg sein, dessen Opfer wir werden. Es ist ein unüberschaubares Minenfeld,
das mit jedem Jahr dichter und gefährlicher wird, und in dem wir uns jeden Tag
bewegen müssen. Da die Zeit nicht stehenbleibt, können wir es auch nicht.
Zu den
anfänglichen Gefahren wie Verkehrsunfall, Krebstod oder Gewaltverbrechen
gesellen sich im Alter, bei einigen auch schon früher, Herzinfarkt und
Schlaganfall. Parkinson, Alzheimer, Demenz, Zombies und Vampire lauern am
Wegesrand. Oder man siecht einfach in Zeitlupe dahin und sitzt am Ende mit
einer Windel im Rollstuhl und wird mit Brei gefüttert. Der Kreis des Lebens hat
sich geschlossen.
Es
gibt den leichten Tod und das langsame grausame Sterben. Die einen sind noch
geistig und körperlich fit, dann legen sie sich eines Abends in ihr Bett,
schlafen ein und wachen nie wieder auf. Andere sind jahrelang bettlägerig und
werden regelmäßig gewendet, damit sie nicht wundliegen. Einmal in der Woche
zieht man sie an, setzt sie in einen Rollstuhl und fährt sie in den Garten des
Altersheims, wo sie eine Stunde lang das Gebüsch anschauen dürfen, bevor man
sie wieder ins Bett bringt. Ein ereignisloses Dahinvegetieren, ein endlos
erscheinendes Warten auf das Ende. Oder man steht den ganzen Tag im Badezimmer
vor dem Spiegel und unterhält sich mit seinem Spiegelbild, das man für seine
Cousine hält. Habe ich selbst als Altenpfleger erlebt.
Ich
habe mich 1976, im Alter von zehn Jahren, zum ersten Mal ernsthaft mit dem Tod
befasst, als ich wegen einer Blinddarmentzündung zwei Wochen im Krankenhaus
lag. Es waren entsetzlich heiße Hochsommertage und ich durfte nach der
Operation tagelang nichts trinken. Mein Onkel und mein Urgroßvater sind an
Blinddarmentzündung gestorben, mir hätte das auch passieren können. Damit hatte
ich gar nicht gerechnet. Die Alten sterben, aber Kinder sind unsterblich. Ich
wurde nachdenklich. Wegen meiner gebückten Haltung nannten mich die anderen
Patienten auf den Fluren „der alte Mann“. Als ich wieder zuhause war, begann
ich zu schreiben. Ab Januar 1977 führte ich ein Tagebuch, weil ich das
Bedürfnis hatte, mein Leben festzuhalten.
Das
zweite mal habe ich mich 1986, zehn Jahre später, mit dem Tod befasst, als ich
meinen Zivildienst in einem Altersheim abgeleistet habe. Unsere Pflegestation
war eher ein Hospiz, keiner hat sie je lebend verlassen. Ich betrat einige Male
Zimmer, in denen eine Leiche lag, ich sah Menschen beim Sterben zu. Mal kam der
Tod leicht, mal kämpfte eine arme Seele um jeden einzelnen Atemzug. Dazu habe
ich bereits einen Text geschrieben: Kiezschreiber: Wenn der
Tod kommt
Weitere
zehn Jahre später, 1996, starb der letzte Mensch aus der Generation meiner
Großeltern. Seitdem mein Großvater mütterlicherseits 1943 im Krieg gefallen
war, hatte meine Großmutter selbständig, ohne Haushaltshilfe oder Pflegerin, in
einer kleinen Mietwohnung gelebt – fünfzig Jahre lang. Sie kam wegen einer
Thrombose ins Krankenhaus und war zwei Wochen später tot. Mein Großvater
väterlicherseits ging 1969 in Rente, nach fünfzig Jahren Maloche auf dem
Bauernhof seines Vaters, als Grubenarbeiter und Maurer. Er hat es im Ruhestand
geschafft, sich zweimal am Tag zu besaufen: einmal vormittags und einmal
nachmittags. Seine Stammkneipe war nur fünfzig Meter entfernt. Macht
zweihundert Meter am Tag. Den Rest der Zeit saß er in seinem Sessel. Nach einem
Sturz hatte er einen Oberschenkelhalsbruch und starb kurz darauf im
Krankenhaus. Das war 1987. Zwei leichte Tode.
Schwerer
hatte es meine andere Großmutter. Sie starb in geistiger Umnachtung nach drei
Jahren in der geschlossenen Abteilung eines Altersheims. Am Ende hat sie weder
meinen Vater noch mich wiedererkannt. Wer weiß, ob sie am Ende überhaupt noch
ihren eigenen Namen kannte? Es ist eine Lotterie, auf die wir keinen Einfluss
haben. Während der Selbstoptimierer auf Fitness und Vitamine schwört, hat sich
vielleicht schon ein pflaumengroßer Tumor hinter seinem linken Auge gebildet.
Während ich diese Zeilen schreibe, entsteht womöglich gerade ein tödliches
Blutgerinnsel in meiner Halsschlagader. Wer denkt, er sei der alleinige
Herrscher über sein Schicksal, ist einem Irrglauben oder dem Größenwahn
verfallen.