Mittwoch, 30. November 2022

Lou York verlässt die Stadt


Sein Anzug hatte die Farbe von frischem Asphalt. Giovanni Toblerone, auch Johnny T oder einfach Big T genannt, schenkt noch einmal nach. Zwanzig Jahre alter Grappa. Birdy greift gierig nach dem Glas. Wenn man diesen Burschen betrunken hält, kann man ihn beliebig manipulieren.

***

Mein Name ist Lou York und ich lebe vom Verbrechen. Aber ich trinke keinen Grappa.

„Kannst du einen Job für mich erledigen?“

„Was springt für mich dabei raus, Big T?“

„Es geht um fünfzig Riesen. Wir machen halbe-halbe. Ich habe die Info, du machst den Job. Ist ganz einfach.“

„Um was geht es?“

„Einmal im Monat nehme ich an einer Spielrunde teil. Wir treffen uns in einer Suite in der Pension Pinselmeier. Wir spielen ‚Siedler von Catan‘ um hohe Einsätze. Es sind jedes Mal dieselben fünf Leute. Ich dachte immer, es wären meine Freunde, aber sie haben mich systematisch ausgenommen. Gefälschte Rohstoffe waren unter dem Tisch befestigt. Die Jungs hatten immer ein Erz im Ärmel. Beim Rohstofftausch haben sie mich ständig benachteiligt. Ich will Rache, Lou. Als Mitspieler bin ich unverdächtig, wenn du kommst.“

„Sind die Jungs bewaffnet?“

„Nein. Du kannst dir gerne als Bonus ihre teuren Uhren abgreifen.“

„Wann steigt die nächste Partie?“

„Samstagabend, neun Uhr.“

***

Pension Pinselmeier. Ich miete mich einen Tag vorher ein Stockwerk tiefer ein. Big T hat mir erzählt, dass der Wirt regelmäßig frisches Eis für die Drinks und ein paar Snacks vorbeibringt. Er klopft an und ruft „Zimmerservice“.

Am Samstagabend nehme ich meine Pumpgun aus der Reisetasche und gehe zur Suite. Wer eine Waffe benutzen will, trägt eine kurzläufige Pistole im Hosenbund. Wer keine Waffe abfeuern will, kommt mit einer doppelläufigen Pumpgun. Das beeindruckt die Leute.

„Zimmerservice“.

Ich höre dumpfe Schritte, dann wird die Tür geöffnet. Vor mir steht ein alter Mann in einem braunen Anzug, der ein paar graue Strähnen über seine Halbglatze gekämmt hat.

Ich halte ihm die Pumpgun unter die Nase und sage: „Hinsetzen!“

Dann werfe ich einen Stoffbeutel auf den Spieltisch. „Geld, Uhren und Brieftaschen. Alles in den Beutel.“

Ich beobachte sie aufmerksam. Keiner sagt ein Wort. Nach zwei Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, ist alles in der Tasche.

„Gib mir den Beutel, Opa!“

Er gibt sie mir und ich renne hinaus, so schnell ich kann. Aber nicht zum Ausgang, sondern in mein Zimmer. Ich hatte die Zimmertür nicht abgeschlossen und bin blitzschnell verschwunden. Ich wähle Birdys Nummer und lasse es, wie verabredet, dreimal klingeln. Dann schalte ich mein Handy und das Licht aus, gehe ans Fenster und beobachte den Parkplatz vor der Pension.

Er weiß, was zu tun ist. Ich hatte ihm meinen raffinierten Plan vorher erklärt. Er war begeistert, denn bei einer Polizeikontrolle würde man weder Diebesgut noch einen Dieb finden. Mit quietschenden Reifen fährt er los. Birdy ist von Beruf Fluchtwagenfahrer und hat einen Maserati.

„Los, hinterher!“ ruft Big T. „Wir müssen das Schwein kriegen. Ich will mein Geld zurück.“

Die Männer laufen die Treppe hinunter, so schnell zu können. Nicht schnell genug. Birdy hat sie in wenigen Minuten abgehängt.

***

Ich verlasse in Ruhe die Pension und stelle die Reisetasche mit dem Geld und der Pumpgun in den Kofferraum meines Wagens, wo schon ein alter Samsonite mit meinen Klamotten liegt. Ich werde nicht mehr in die Bruchbude zurückkehren, in der ich drei Monate gelebt habe. Mit fünfzig Riesen verbringt man den Winter an der Côte d’Azur. In diesem Geschäft macht man sich keine Freunde.     

 

Dienstag, 29. November 2022

Die Ritter der Schwafelrunde

 

Blogstuff 744

„Du musst erst furchtbar verletzt werden, bevor du ernsthaft schreiben kannst.“ (Ernest Hemingway)

Wenn die Medien wirklich ein Problem mit der WM in Katar hätten, könnten sie doch einfach aufhören, die Spiele zu übertragen und darüber zu berichten, oder? TV-Quote beim Spiel Deutschland gegen Spanien am Sonntag: 49,3 Prozent.

Es scheint nur so, als sei er untätig. In Wirklichkeit sammelt er seine Kräfte.

Seit wann haben so viele Berliner Restaurants am Montag geschlossen? Nichts ist gefährlicher als ein hungriger Mann, der einsam durch die Straßen streift.

Der Werbeslogan „KFC – eine Wing-Wing-Situation“ wurde abgelehnt.

Als Gott Adam aus dem Paradies vertrieben hat, trat er ihm gewaltig in den Hintern. Daher das Loch. Er hat seinen verdammten Arsch gespalten wie Moses das Rote Meer.

Das Leben in der Schweiz hat Höhen und Tiefen.

Am letzten Abend gab es auf dem Kreuzfahrtschiff ein Kostümfest. Ich kam als Matrose.

Was mir im Zug auffällt:

In Halle steigt eine Gruppe Reisender ein, Ehepaare um die fünfzig. Sie sitzen noch nicht richtig, da werden Rotkäppchen-Piccolos und Pappbecher ausgepackt. Noch eine Stunde bis Berlin. Vier junge Amerikanerinnen laufen ohne Schuhe durch den Zug, sie tragen alle weiße Socken. Ausgerechnet der Chinese neben mir trägt keine Maske. Genießt er die deutsche Freiheit (#ZeroCovid)? Jetzt tauschen die Hallenser kleine Schnapsflaschen, Wodka gegen Kümmerling, und packen Ditsch-Bretzel aus. Noch vierzig Minuten bis Berlin. Ein kleiner Junge macht ein Spiel auf seinem Tablet und drei kleine Mädchen schauen zu. Die Amerikanerinnen haben sich im Bistrowagen Pommes geholt. Seit wann kann man im ICE Fritten kaufen? Die Hallenser trinken jetzt Rotwein. Zitat: „Bevor die Flasche warm wird." Noch zwanzig Minuten bis Berlin. Der Zug kommt nicht pünktlich in Berlin an, sondern hat (laut Anzeigentafel) drei Minuten Verfrühung. Kurz vor dem Bahnhof Südkreuz hält der Zug, um dann mit sieben Minuten Verspätung einzufahren. Die Bahn kann einfach nicht anders.

Bei der Rückfahrt sitzt ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen neben mir. Als der Zug im Berliner Hauptbahnhof anfährt, packt sie die obligatorische Ditsch-Tüte und eine Flasche Wasser aus. Wir haben den Bahnhof noch nicht verlassen, als sie ihre Mahlzeit beginnt. Geheimnisvoller Zusammenhang zwischen Essen und Zugfahren. Am schlimmsten sind Eltern mit kleinen Kindern. Ein rollender Kiosk. Den Apfel bekommt immer die Mama.

The Prodigy - Out Of Space (Official Video) - YouTube




Montag, 28. November 2022

Der erste Tag

 

Maximilian Grube arbeitete als Life Coach und hatte sich auf die Resozialisierung von Berufspolitikern spezialisiert. Er saß in seinem alten Opel Astra, den er für diesen Zweck angeschafft hatte, und wartete vor dem Wirtschaftsministerium auf Hubertus Nothnagel, seinen neuen Kunden.

Es klopfte an die Scheibe der Beifahrertür. Grube sah ein freundliches rundes Gesicht mit Halbglatze und Hornbrille. Er nickte ihm zu. Nothnagel ging zur hinteren Fahrzeugtür und öffnete sie.

„Nein, nein, mein lieber Herr Staatssekretär. Sie haben keinen Dienstwagen mehr und ich bin nicht ihr Chauffeur. Setzen Sie sich bitte auf den Beifahrersitz.“

Nothnagel schloss die Tür und setzte sich neben Grube.

„Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Herr Grube. Schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen. Wie ist das werte Befinden?“

„Diese geschwollene Sprache müssen Sie sich abgewöhnen“, antwortete Grube. „Wir werden täglich Übungen in Alltagssprache machen. Brötchen heißt Schrippe, Flasche heißt Pulle und Auto heißt Karre.“

Nothnagel lächelte schüchtern. „Und was ist das für eine antiquierte Karre, wenn ich fragen darf?“

Grube fuhr los. „Das ist ein Opel. So was fahren normale Leute. Haben Sie einen Führerschein?“

„Ja, aber ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr gefahren.“

„Ab jetzt fahren wir jeden Tag auf einem Verkehrsübungsplatz. Ihre Integration in die Gesellschaft wird mindestens drei Monate dauern. Ich werde Sie dabei in allen Aspekten unterstützen.“

Grube wusste, dass ihm eine schwere Aufgabe bevorstand. Je länger ein Politiker dem Alltag entwöhnt war, desto schwieriger wurde es. Sein Beruf war mit dem eines Bewährungshelfers vergleichbar. Kommt ein Ganove nach fünfzehn Jahren aus dem Knast, kann er ohne Unterstützung von anderen schnell überfordert sein. Zum Glück brauchen Berufspolitiker, im Gegensatz zu ehemaligen Sträflingen, keine neue Wohnung und keinen Arbeitsplatz.

Grube bog von der Straße auf einen großen Parkplatz ab.

„Wo sind wir hier?“ fragte Nothnagel.

„Das ist ein sogenannter Supermarkt. Hier kann man Lebensmittel kaufen.“

„Davon habe ich schon gehört.“

„Als erstes brauchen wir einen Einkaufswagen.“

Grube führte Nothnagel zu einer Schlange ineinandergeschobener Wagen.

„Haben Sie einen Euro?“

„Nein“, antwortete Nothnagel. „Ich fürchte, damit kann ich nicht dienen.“

„Ab jetzt werden Sie immer Bargeld bei sich haben. In einer Brieftasche. Die besorgen wir später. Heute machen wir einen Testkauf. Wir kaufen ein paar wesentliche Dinge wie Butter und Brot. Die bringen wir anschließend zu Ihnen nach Hause.“

Der erste Tag ist immer der härteste, dachte Grube. Sein erster Klient wäre fast an einer Fußgängerampel überfahren worden, weil er den Unterschied von Rot und Grün nicht gekannt hatte.   

Sonntag, 27. November 2022

Sätze von zeitloser Schönheit

 

Blogstuff 743

Einen Tag lang werde ich von Arte gefilmt. Ich sitze an einer Schreibmaschine aus dem 17. Jahrhundert, deren Buchstabendinger man vor jedem Wort mit Kohlenstaub bepinseln muss. Dann sind wir in einem Lokal. Wegen der fünfzigköpfigen Crew müssen sämtliche Tische beiseite geräumt werden. Vor lauter Nervosität schütte ich mir das erste Bier ins linke Ohr.

Wenn ich den ganzen Tag Salat fressen würde, würde ich auch aussehen wie Heidi Klum.

Hätten Sie’s gewusst? Schildkröten haben auch eine Leber, obwohl sie gar keinen Alkohol trinken.

Im Romantik-Hotel in Wichtelbach sind alle Zimmer nach berühmten Gästen benannt. Ich habe mal im Zimmer „Saskia Esken“ übernachtet.

Es ist gängige wissenschaftliche Praxis, die aufgestellten Hypothesen empirisch zu belegen. Daten, Fakten, Zitate. Das scheint in den sogenannten Alternativmedien nicht bekannt zu sein. Wilde Spekulationen, aberwitzige Vermutungen, bösartige Unterstellungen bis hin zu kruden Verschwörungstheorien, blanker Eklektizismus, um die eigene Meinung zu untermauern. Deswegen ist ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung äußerst gering geblieben. 

Nie wieder Krieg? Dann gäbe es die ganzen Kriegs- und Antikriegsfilme doch gar nicht. Nazis, Vietkong, Skynet. Dann doch lieber „Nie wieder Rosenkohl“.

„Mein" Fahrer George Russell gewinnt seinen ersten Formel 1-Grand Prix und ich sehe es nicht. Ich erfahre es erst am Abend des 26. November, als ich wieder zuhause und online bin. Alle vorherigen Rennen der Saison habe ich live gesehen …

Wie viele gute Geschichten sind auf einem Friedhof begraben?

Die Hochnäsigkeit der Zwerge.

Was immer auch die Menschen machen / Es bringt die Götter stets zum Lachen.

20. November. In Berlin liegt Schnee. Wohl dem, der jetzt in einem Sommerjäckchen, ohne Schal und Mütze, auf Reisen ist.

Eigentlich wohnt man nicht „in Berlin“, sondern in einem Dorf, Kiez genannt, anderswo Viertel (tatsächlich: Tausendstel), wo man die Nachbarn, Verkäuferinnen und Kellner kennt. Dieser kleinräumige Lebensstil ist über Jahrtausende stabil geblieben. Die beruhigende Eintönigkeit des Immergleichen.

Bonetti hat eine neue Vorgruppe: „The Oklahoma Checkerbunnies“.

Culture Beat - Mr.Vain (Extended Vídeo Mix) - YouTube

 

 

Samstag, 26. November 2022

Das Schweigen der Regale

 

Einst ging ein Holzfäller in den Wald, um einen Baum zu fällen. Er fand eine prächtige Eiche und hob die Axt.

„Haltet ein“, rief der Baum. „Ich bin verzaubert.“

„Ein sprechender Baum“, sagte der Holzfäller. „Erzähl mir deine Geschichte.“

Und so begann der Baum, ihm von seinem Schicksal zu berichten. Einst lebte er als Mensch in einer Stadt. Er hatte eine Wohnung und ging jeden Tag zur Arbeit. Eines Tages starb der Dämon, der die Stadt beherrschte, durch die Hand eines noch mächtigeren Dämons. Und so wurde der Zauber des toten Dämons aufgehoben. Sein Tisch verwandelte sich in einen Ochsen, seine Stühle in Ziegen und sein Bett in eine Unke. Das Haus wurde zu einem Vogel und flog davon. Die Tiere liefen in alle Himmelsrichtungen und kamen nie wieder. Er selbst wurde zu einer Eiche. Das alles geschah vor fünfhundert Jahren.

„Wirst du mir mein Leben schenken?“ fragte der Baum.

Der Holzfäller aber lachte und fällte ihn. Aus dem Holz wurden Billy-Regale für Ikea gemacht.

Samstag, 5. November 2022

Bonetti bringt Lucht ins Dinkel

 

Blogstuff 742

“Traveling with no destination, no place to go
Nameless towns with faceless people, no place I know”

(Visage: The Damned Don’t Cry)

Die Runkelrübe ist der Spargel Niedersachsens.

Ich sage nur: „dickschwänzige Schmalfußbeutelmaus“. Nicht die Natur ist das Problem, sondern die Biologie.

Ein Volk, ein Reich, ein Fahrschein. Aber 49 Euro ist zu teuer.

Die meisten Saarländer leben vom halbsesshaften Brandrodungsanbau (Kartoffeln, Tabak, Steckrüben) oder im Gebirge als nomadische Jäger und Sammler. Sie meiden den Kontakt zur Außenwelt und sind auch für Glasperlen oder Privatfernsehen unempfänglich. Höhlenmalereien aus dem späten 19.Jahrhundert belegen, dass die Saarländer über die Beringstraße nach Mitteleuropa („Mitropa“) eingewandert sind.

Kann sich noch jemand an das Ende der Welt 2012 erinnern? Der Maya-Kalender? Leute, die sich von einer Handvoll Spanier ausrotten lassen, kann ich nicht ernstnehmen.

Ich finde es gut, dass Muslime jetzt einen gesetzlichen Feiertag haben. #Allah-Heiligen

31. Oktober. „Eine Leiche zum Dessert“ bei Arte. Eine Schande, heute noch einen solchen Film zu zeigen. Keine Person ist non-binär, es werden behindertenfeindliche Witze gemacht (Alec Guinness als blinder Butler) und die Darstellung des chinesischen Detektivs durch Peter Sellers ist nicht nur kulturelle Aneignung, sondern rassistisch. Und das waren nur die ersten fünf Minuten. Der Satz „Ich hasse Schwule“ und die Info, dass man Asiaten am Geruch erkennt, kommen später.

Ich bin kein Rassist, aber ich kann einen Belgier am Geruch erkennen. Man kann mir die Augen verbinden und mich an zehn Europäern vorbeiführen. Nur der Belgier riecht nach Pommes frites.

Die Klimabewegung nutzt die Klaviatur der Aufmerksamkeitsökonomie inzwischen sehr professionell. Aber nach dem zehnten Angriff auf ein Kunstwerk und der hundertsten Straßenblockade nutzt sich das ab, es interessiert niemanden mehr. Die Bewegung muss ihre Aktionen auf ein neues Eskalationsniveau heben, um das gleiche Ergebnis zu erzielen. Aber mediale Aufmerksamkeit ist immer noch kein politischer Einfluss. Das mussten alle sozialen Bewegungen der letzten fünfzig Jahre lernen. Also: rein in die Parteien oder Gründung einer Partei.  

Wir haben in der Bundesregierung eine studierte Volkswirtin, aber Wirtschaftsminister ist ein Philosoph. Wir haben eine studierte Agrarwissenschaftlerin, aber Landwirtschaftsminister ist ein Sozialpädagoge.

P.S.: In den nächsten drei Wochen bin ich offline. Ich werde im Frankfurter Sackbahnhof (eine Perle unserer schönen Sprache) in einen Wunder-ICE steigen, mit dem ich pünktlich auf dem besten Flughafen der Welt (BER) landen werde. Große Männer, große Pläne.

Inner City Good Life CJ's Living Good Club Mix - YouTube


 

Freitag, 4. November 2022

Was ich wirklich hasse

 

Wann hat diese Rucola-Seuche eigentlich angefangen? Vor zwanzig Jahren? Vorher kannte man Rucola überhaupt nicht. Es hieß noch Rauke und wuchs unbeachtet auf jeder Wiese. Aber heute bestellst du dir eine Pizza mit Parmaschinken und Grana Padano und sie hauen dir zwei Handvoll Rucola auf den Teigfladen. Du siehst keinen Schinken und keinen Käse, wenn dein Essen serviert wird, nur dieses dämliche Grünzeug. Rucola ist kein Nahrungsmittel! Fahrt mal nach Neapel, wo die Pizza erfunden wurde. Da kennen die überhaupt kein Rucola. Rucola passt geschmacklich zu gar nichts, außer zu noch mehr Rucola. Und überhaupt dieses Alibi-Grünzeug auf jedem Teller. Ich will keine Petersilie auf dem Schnitzel, ich brauche keine Achteltomate auf dem Tellerrand.

Nächste Woche: Umgehungsstraßen.


Vier Freunde


„Wir küssten uns. Er schmeckte nach überreifem Apfel, Haselnuss, dem Holz eines Stegs am zugefrorenen See, einem Hauch Zimt und dem Sand der Sahara, den der Wind in diesem Winter zu uns nach Osnabrück getragen hatte.“ (Moritz Hürtgen)

Ein Schulfreund von mir hatte sich in eine Klassenkameradin verliebt. Sie ging jeden Samstagabend zur Katholischen Jungen Gemeinde ins örtliche Gemeindehaus. Dort wollte er sie ansprechen, traute sich aber nicht allein hin. Also musste ich ihn begleiten. Es war unfassbar. Es war der einzige Samstagabend als Siebzehnjähriger, an dem ich keinen Alkohol getrunken habe. Rauchen durfte man auch nicht. Wir haben getöpfert. Ich traue mich kaum, es auszusprechen. Ich töpferte einen Aschenbecher mit einem Totenkopf in der Mitte. Damit war ich natürlich ein Outlaw. Zum Glück musste ich nie wieder dorthin. Mein Freund sprach sie an diesem Abend an und tatsächlich wurden sie ein Paar. Für vier Wochen. Sie hat später einen anderen Schulfreund von mir geheiratet, der nach dem Abitur eine illegale Autowerkstatt betrieben hat, obwohl er nicht allzu viel von Autos wusste. Ich habe ihm mal geholfen, einen verrosteten Kotflügel zu spachteln und wir haben die Kronkorken unserer Bierflaschen in die Spachtelmasse gedrückt. Diese Art von Reparaturen. Später wurde er Wasserballtrainer. Aber nicht in der Bundesliga. Er war ein riesiger breitschultriger Kerl mit einer Brille wie aus einem Didi-Hallervorden-Sketch. Seine Augen wirkten absurd groß und furchteinflößend. Seine Frau hat die Kleinfamilie mit ihrem Job als Tierarzthelferin über Wasser gehalten. Inzwischen hat er stark zugenommen und sämtliche Haare verloren. Vor Jahren hat ihn ein anderer Schulfreund auf einer Party getroffen und das Paar mit „The Beauty and the Beast“ beschrieben.

P.S.: Der beschriebene Hüne war auch mal vier Wochen in der Nervenheilanstalt Alzey, weil er sich für die Reinkarnation von Bob Marley hielt. Er wollte die Bibel neu schreiben und rief einen Zeitungsfotografen an, ob er das Buch bebildern könne. Immer wieder schöne Erinnerungen. Heute sind alle brav geworden.

Unterm Säufermond - YouTube

 

 

 

Donnerstag, 3. November 2022

Revolution

 

„Indem die Akademiker Originalität, Kreativität und Genialität reklamierten, bestritten sie erfolgreich den adligen Höflingen mit ihren am Französischen orientierten, angeblich auf bloße Verfeinerung und Politur angelegten Verhaltensweisen die kulturelle Führungsrolle.“ (Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft)

Am Beginn der Moderne steht nicht nur eine ökonomische und technische Revolution, die Industrialisierung, sondern auch eine soziale Revolution. Der Aufstieg des Bürgertums beginnt, die jahrtausendealte Adelsherrschaft nähert sich ihrem Ende. Bildung und Leistung setzen sich gegenüber Herkunft und Privilegien durch.

Diese Revolution ist das Ergebnis der Aufklärung im 18. Jahrhundert, die im Namen der Vernunft alte Traditionen und Strukturen auf den Prüfstand stellte. Ohne das Bildungsbürgertum kam keine Regierung und keine Verwaltung aus, ohne das Besitzbürgertum der Fabrikanten gab es kein Wirtschaftswachstum, ohne Wissenschaftler keinen Fortschritt, ohne Lehrer keine Bildung. Heute regiert das Bürgertum, sehen Sie sich nur die aktuelle Bundesregierung an: ausnahmslos Akademiker, sechs von 16 Mitgliedern sind Juristen. Der Adel ist längst bedeutungslos geworden, es gibt keinen Hofstaat mehr. Auf A wie Adel folgte B wie Bürgertum.

Lustigerweise entstand im 19. Jahrhundert eine absurde Theorie, wonach auf das Bürgertum das Proletariat als herrschende Klasse folgen würde. Das ist natürlich Unsinn. Bis heute hat es keine weitere soziale Revolution gegeben. Das Gesinde von damals ist immer noch Gesinde. Ihre Kinder werden zu Gesinde, Ausnahmen bestätigen die Regel. Das deutsche Proletariat hat sich nicht erfolgreich organisiert, es hat auch keine politische Vertretung innerhalb oder außerhalb des Parlaments. Es ist, wie zu allen Zeiten, sprachlos und machtlos.

Es ist allerdings die große Tragödie des deutschen Bürgertums, dass auf die soziale keine politische Revolution folgte. Das Bürgertum beschränkte sich auf die Rolle einer staatstragenden funktionalen Elite und die repräsentative Demokratie als bürgerliche Herrschaftsform setzte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, unter tätiger Mithilfe der Alliierten, endgültig durch.

Tocotronic - Nach Bahrenfeld im Bus - YouTube

 

Dienstag, 1. November 2022

Der alte Mann und das Meer

 Es ist ja nicht so, dass bei uns nichts los wäre. Wir haben einen neuen Helden. Und den größten Welsfang in der Geschichte der Rheinfischerei. Gegrillter Wels ist übrigens sehr lecker.

"Ein absolutes Monster": Angler zieht riesigen Wels aus dem Rhein - SWR Aktuell

Trash-Interviews

 

Ich habe in meiner Zeit als Kiezschreiber eigentlich nur Trash-Interviews gegeben. Bis auf die Stunde, die ich beim rbb im altehrwürdigen Funkhaus war. Der Sender heißt 88,8.

Das zweite Interview war bei Radio Alex, die aus dem Brunnenviertel, meiner damaligen „Wirkungsstätte“, gesendet haben. Vorher hieß der Laden OKB. Offener Kanal Berlin. Da darf jeder mal senden. Rolf ist seit ewigen Zeiten dabei. Seine Sendung heißt OKBeat. Als DDR-Kind hat er schon seine eigenen Radiosendungen auf Kassette aufgenommen und seine Umgebung damit gequält. Er ist Hartz-IV-Empfänger und aktives SPD-Mitglied. Eine ganz aparte Kombination. Da habe ich zwischen den Songs Kurzgeschichten vorgelesen

Das dritte Interview haben irgendwelche Austauschstudenten aus obskuren Balkanstaaten aufgenommen, die glaubten, ich hätte was zu sagen. Loser. Sie hatten eine Kamera und haben das Gespräch auf der Aussichtsplattform des Flakbunkers im Humboldthain gedreht. Keine Ahnung, was ich gesagt habe. Keine Ahnung, ob die Scheiße irgendwo im Kosovo gesendet wurde.

Das vierte Interview gab ich einer polnischen Studentin, die an ihrer Masterarbeit über Gentrifizierung in Berlin schrieb. Wir trafen uns in einem Café im Schillerkiez in Neukölln. Nach Stilllegung des Flughafens Tempelhof war hier der Bevölkerungsaustausch zwischen Unter- und Mittelschicht gerade in vollem Gang. Ich zog ein knallgelbes Hoodie und Chucks an. Was Problem-Boomer eben so machen, wenn sie junge Frauen mit Mörderhupen treffen.

Bei einem Cappuccino erklärte ich ihr, wie das hier in Berlin läuft. Habe mich richtig in Rage geredet. Social Justice Warrior nix dagegen. Ich deutete auf zwei Studenten am Nachbartisch und sagte: „Schau dir die Jungs an. Der Papa von dem einen ist Zahnarzt, der Papa von dem anderen ist Rechtsanwalt. Die sind nicht von hier, todsicher aus Westdeutschland. Die machen mit ihrem Geld den ganzen Kiez kaputt. Und die türkischen Familien können sich eine neue Bleibe suchen. Das Café, in dem wir gerade sitzen, hat es früher nicht gegeben. Das ist natürlich auch ein Teil der Gentrifizierung. Kein Türke würde hier freiwillig reinkommen. Überhaupt die ganze vegane Öko-Scheiße!“

Im Café ist es still geworden. Wütende Blicke. Aber wenn ich mal in Fahrt bin, gibt es kein Halten mehr. Am Ende frage ich sie, ob sie auch zur U-Bahn geht. Da fragt sie mich, ob ich nicht hier wohnen würde. Nee, sage ich, ich habe eine Eigentumswohnung in Wilmersdorf. Mein Vater, der mir diese Wohnung vor dreißig Jahren gekauft hat, ist übrigens ein Architekt aus Westdeutschland. Jetzt dürfen Sie lachen.