Montag, 30. Juli 2012
Berlin, französischer Sektor
Jean-Marc ist ein Arbeitskollege und kommt aus Frankreich. Wenn ich mit ihm Auto fahre, das heißt, wenn ich auf dem Beifahrersitz Zeuge der elementaren Wucht seiner begnadeten Fahrkünste werde, dann begebe ich mich in eine andere Welt, in der eigene physikalische Regeln herrschen. Ich sehe beispielsweise einen Lkw frontal auf uns zu rasen, während Jean-Marc seelenruhig den Inhalt eines neuen Kinofilms referiert und eben jenen 80-Tonner im letzten Moment schneidet und knapp vor ihm nach links in eine Straße einbiegt. Ich schwöre, dass in diesem Augenblick, da wir auf zwei Rädern des greisen Renaults im Nanometerbereich am Kühler des Lastwagens vorbei in die Seitenstraße segelten, der Tod persönlich neben mir geritten ist. Ich sah ihn im Seitenfenster hysterisch lachen und die Sense schwingen. Machen andere Fahrer solche Aktionen mit ihm, verwandelt sich Jean-Marc in einen Louis de Funès des Straßenverkehrs und schimpft wie ein Rohrspatz. So hat er in Nizza Autofahren gelernt. Und der Witz ist: Die ganze Zeit laufen klassische Violinkonzerte vom Tonband, als wäre man im Fahrstuhl von Versailles gelandet. Trotzdem weiß ich, dass ich immer ankommen werde.
Freitag, 27. Juli 2012
Olympische Spiele 2012
Sport ist ein wesentlicher Teil meines Lebens. Fußball, Formel 1. Früher auch andere Sachen, aber ich schaff das alles gar nicht mehr. Ich mache viel Sport. Samstags Sportschau, gelegentlich auch das aktuelle Sportstudio. Sonntags oft schon morgens den Frühschoppen auf Sport1. Da kommen einige Stunden zusammen. Und das bei jedem Wetter. Egal, ob es draußen stürmt oder schneit, ich bleibe dem Sport treu. Da könnten sich viele jüngere Menschen ein Beispiel nehmen. Wenn man Jahrzehnte dabei ist, dann ist einem der Fußball oder der Motorsport so ans Herz gewachsen, dass man sich ein Leben ohne den Sport gar nicht mehr vorstellen kann. Natürlich kenne ich die Einwände. Ich werde nicht jünger, das Spiel wird immer schneller. Dazu die Verletzungsgefahr auf dem Weg zum Kühlschrank. Man leidet doch sehr mit und im Alter regeneriert man sich nicht mehr so schnell wie früher. Das Herz, die Leber … - dazu die psychische Belastung. Ich sage nur: Enke. Der Druck ist natürlich inzwischen enorm. Auch weil es um viel Geld geht. Verdammte Sportwetten! Aber ich bin nun mal ein echter Fan. Ich brauche den Sport. Olympia? Nee, bin doch mitten in der Saisonvorbereitung für die Bundesliga …
Samstag, 14. Juli 2012
Beschleunigung und Politik
Gegen den hektischen Dilletantismus unserer Tage hat das Bundesverfassungsgericht einen wohltuenden Kontrapunkt gesetzt. Es möchte sich dem aggressiven Druck der Finanzmärkte und deren politischen Zauberlehrlingen entziehen und bedingt sich mehr Zeit zum Nachdenken aus. Während im Bundestag im Schweinsgalopp Gesetze verabschiedet werden, die einander an Absurdität noch übertreffen wollen, möchten die Richter sich mit der gebotenen Sorgfalt den Verträgen zur europäischen Schuldenunion und ihren Konsequenzen widmen. Im Parlament und in der deutschen Politik generell zeigt sich ein Politikversagen, das tiefer reicht, als es im ersten Moment erscheinen mag. Wie die Blockflöten haben die etablierten Westparteien das Ermächtigungsgesetz für Brüssel abgenickt, die Debatte war eine drittklassige und pseudodemokratische Farce und die einzige Partei, die gegen das Gesetz gestimmt hat, wird von unserem heißgeliebten Verfassungsschutz observiert. Die Verfassungsrichter haben sich für Entschleunigung entschieden, um eine elementare Entscheidung über unsere Zukunft treffen zu können. Ich hoffe, sie tun das richtige. Unsere politische Elite tut es jedenfalls schon lange nicht mehr.
Montag, 9. Juli 2012
Der analoge Flaneur
Der analoge Flaneur findet sich vorzugsweise in den großen Städten. Auf dem Land gibt es sein Pendant, den analogen Wanderer. Der analoge Flaneur spaziert gemächlich durch die Straßen und Parks, er sieht den Menschen zu und betrachtet die Gebäude, er hört Gespräche und Gezwitscher, er spürt die Sonne im Gesicht und lässt dabei seine Gedanken von der Leine. Er ist vollkommen unverkabelt, während er draußen in der Welt unterwegs ist. Er hat keinen Stöpsel im Ohr, um Radio oder Musik zu hören. Er hat kein Smartphone, keinen Tablet-Computer und kein elektronisches Buch dabei. Der analoge Flaneur ist entkoppelt von der modernen Technik. Alles, was ihn mit der Welt noch verbindet, sind seine Schuhsohlen. Er ist vollständig der Realität und seinen Träumen ausgeliefert, nichts lenkt ihn ab von der absichtslosen Bewegung im Hier und Jetzt. In zwanzig Jahren wird eine Figur wie der analoge Flaneur unvorstellbar geworden sein.
Samstag, 7. Juli 2012
Todesstreifen Reloaded
Die Berliner Mauer war von 1961 bis 1989 das Symbol der Teilung, der Inbegriff des Schismas dieser Welt in Kommunismus und Kapitalismus. Seither ist der Mauerpark das Symbol der Überwindung dieser Teilung. Bunter kann man sich die Einheit Deutschlands und der Welt kaum vorstellen. Seit 2012 ist der Mauerpark allerdings wieder zu einem Symbol der Teilung geworden: zwischen Politikern und Bürgern ist eine Mauer des Schweigens entstanden, ein Todesstreifen aus hochnäsiger Volksverachtung und Größenwahn, ein Minenfeld gebrochener Versprechen und taktischer Lügen, patroulliert von den schweigsamen Schergen des Systems. Politiker wie Beton-Spallek, die mit Baulöwen und Bankern in Hinterzimmern einsame Entscheidungen treffen und das Licht der Öffentlichkeit scheuen (sein Parteigenosse Mappus mag ihm als Vorbild gedient haben), sind eine Gefahr für die Demokratie. Aber die Bürger in Pankow und Mitte lassen sich weder entmündigen noch entmutigen. Wer im Mauerpark auf die harte Macho-Tour Fakten schaffen will wie der Baustadtrat und der Bürgermeister von Mitte, wird es auf die harte Tour lernen müssen: Politik funktioniert in einer Demokratie nur mit dem Bürger, nicht gegen ihn.
Dienstag, 3. Juli 2012
Bernd
Sein Schnarchen schwillt an und ab wie eine pervers gewordene Meeresbrandung. Es begleitet uns den ganzen Abend, während wir vor dem Fernseher sitzen. Aber am schlimmsten ist es, wenn sein Schnarchen für ein paar Augenblicke aussetzt. Wir schauen uns an und wenn es länger dauert, beginnen wir, uns Sorgen zu machen. Wir haben schon lange nichts mehr gehört. Soll jemand ins Nachbarzimmer gehen und nachschauen? Den Notarzt rufen? Oder gleich den Abdecker?! Aber dann werden wir Ohrenzeuge eines gewaltigen Röchelns, eines Grindwals würdig, der aus dem Ozean steigt, ein Schnorchellaut, der dem Kreidezeitalter zur Ehre gereicht hätte, Assoziationen von Flusspferden und Panzernashörnern wabern durchs ständig vor sich hindenkende Bewusstsein, und alsbald ist er nach einhelliger Meinung wieder unter den Lebenden. Und so versinken wir mit dem ewigen Rauschen eines besinnungslosen Trinkers wieder in den Anblick des elektronischen Lagerfeuers.
Sonntag, 1. Juli 2012
Wahnsinn en gros et en detail
Manchmal fällt es schwer, zu glauben, was gerade geschieht. An einem großen und einem kleinen Punkt, an einer globalen und einer lokalen Frage kristallisiert sich in diesen Tagen der Wahnsinn deutscher Politik.
ESM: Obwohl man noch im Morgengrauen wesentliche Teile dieses Vertragswerks in mündlichen Verhandlungen verändert hat und selbst diese Veränderungen in den folgenden Interviews auf haarsträubende Weise in alle Richtungen interpretiert werden, wird es vom Bundestag und Bundesrat mit überwältigender Mehrheit abgesegnet. Jeder Gebrauchtwagen- oder Teppichhandel wird sorgfältiger abgewickelt, als dieses Programm, mit dem der Steuerzahler bis in alle Ewigkeit blechen darf und nun auch der Sparstrumpf und die Altersvorsorge dem Zugriff eines elitären Zirkels in Brüssel überlassen werden. Die Folgen dieser fatalen Fehlentscheidung erkennen wir an den Reaktionen der Beteiligten. Es freuen sich Banken und Hedge-Fonds von der Wall Street bis nach Tokio, denn ihnen bleibt nun genügend Zeit, ihre fehlgeschlagenen Investitionen im Süden Europas den Steuerzahlern der ESM-Geberländer zu übertragen; es freuen sich die deutschen Exportunternehmen, denn die Menschen im Süden können weiter den subventionierten Schrott kaufen, den sie schon vorher nicht brauchten; es freuen sich die Regierungen der Mittelmeerstaaten, denn sie müssen nun keine Reformen mehr vornehmen, die ihre Wiederwahl gefährden würden. Wer freut sich nicht? Der nordeuropäische Steuerzahler und die Bürger in den südlichen Ländern, bei denen von dieser ganzen Rettungsarie für Banken und Fonds nicht ein lausiger Cent ankommen wird (der sogenannte „Wachstumspakt“ ist schlecht gemachte Volksverarschung, mehr ist dazu nicht zu sagen).
Mauerpark: Hier kann man mit dem Begriff „Volksverarschung“ nahtlos weiterarbeiten. Was in den letzten Wochen an unseriösen und übereilten Aktionen seitens der SPD veranstaltet wurde, spottet jeglicher Beschreibung. Hier steigt man vom Reich der Teppich- und Gebrauchtwagenhändler hinab in die düsteren Gefilde der Hütchenspieler. Da wird mit einem hochsymbolischen Ort der deutschen Teilung und der gelebten Einheit der Menschen in Deutschland und in aller Welt (auch wenn’s am Sonntag manchmal nervt …) umgesprungen, als würde es sich um einen Acker am Ortsrand von Königs Wusterhausen handeln, auf dem ein Neubaugebiet entstehen soll. Politiker wie Gothe oder Gaebler von der SPD, die ohnehin in Sachen Stadtentwicklung überfordert scheint (Flughafendesaster usw.), handeln nicht nur grob fahrlässig, sondern schaden dem Land Berlin und damit uns allen mit ihrem Dilettantismus. Inzwischen hat ja glücklicherweise auch der allerletzte Teilnehmer jener ominösen „Bürgerwerkstatt Mauerpark Fertigstellen“ begriffen, dass er schamlos ausgenutzt, belogen und betrogen wurde – selbst altgediente SPD-Mitglieder … Wieder die Frage: Wen freut diese Entwicklung? Die CA Immo als Grundstückseigentümer macht ein Riesengeschäft, die hiesige Baumafia und ihre Seilschaften in der SPD profitieren von dem Coup. Wer ist der Dumme? Parknutzer und Anwohner, denen mit der Riesenbaustelle ein schönes Spektakel bevorsteht. Ich sag Euch, wie es ausgeht: Der Mauerpark wird im Norden zubetoniert, der Rest so lange reglementiert und kommerzialisiert, bis den Leuten das kalte Kotzen kommt, und neue Grünflächen gibt es nicht, weil die Stadt kein Geld hat – das Geld haben nämlich die Banken in New York, London, Frankfurt, Madrid, Rom und und und. Sollen wir uns das alles wirklich gefallen lassen?
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