"Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung."
(Wilhelm II. über die Zukunft der Mobilität)
"Das Web 2.0 wird bald Geschichte sein."
(Ansgar Heveling, CDU, über die Zukunft der Netzkultur)
Dienstag, 31. Januar 2012
Montag, 30. Januar 2012
In Memoriam FDP
Nach den neuesten Berliner Umfragen sind die Piraten bei 14 Prozent und die FDP wird mittlerweile unter den Sonstigen subsumiert. Am Ende wird man sagen, der neoliberale Hardliner Guido Westerwelle und seine Entourage haben die altehrwürdige Partei in den Abgrund und den politischen Bankrott geführt. Ironischerweise ist die Partei des erklärten Marktradikalismus Opfer des kapitalistischen Systems geworden, die Partei des Wettbewerbs ist im Wettbewerb der Parteien gescheitert. Sie hat ihren Kunden schlechte Produkte wie Steuersenkungen oder Hasspredigten gegen Hartz IV-Empfänger andrehen wollen und Artikel ins Schaufenster gestellt, die sich als Ladenhüter erwiesen: Brüderle, Niebel, Rösler. Die Kundschaft hat folgerichtig das Geschäft gemieden und sich der Konkurrenz zugewandt. Jetzt machen andere die Geschäfte – so knallhart und brutal ist eben das demokratische Business, liebe Freundinnen und Freunde der Kapitalfraktion. Man kann sein Vermögen auch leichtfertig im großen Casino des Bürgervertrauens verspielen. Aber keine Angst: Eure Wählerstimmen sind nicht weg, sie hat nur ein anderer.
Die Tragik der Schleckers
Es freut mich persönlich ungemein, dass die Drogeriekette Schlecker, die ich seit Jahren boykottiere, endlich pleite gegangen ist. Sehr gut finde ich auch, dass die Familie Schlecker bankrott gegangen ist. Das waren schlimme Ausbeuterschweine, denen ich ein hartes Schicksal gönne - wenn möglich als Beschäftigte im Einzelhandel. Dazu muss man nichts mehr sagen, eine Billigkette weniger. Eindeutig übertrieben finde ich aber, welch üble Scherze das Schicksal mit den Namen der Gescheiterten treibt. Nicht nur, dass der Unternehmensgründer A. Schlecker heißt, nein, er muss seinen Sohn auch noch Lars Schlecker nennen, womit natürlich jeglichen Wortspielen, bei denen vorzugsweise das anfängliche L wegzulassen sei, Tür und Tor geöffnet wird. Hier sei den herumalbernden Schicksalsgöttern einmal ins Poesiealbum geschrieben, dass man mit Namen keine Witze machen soll. Hat nicht auch der finsterste Ausbeuter einen letzten Fetzen Würde verdient, mit der er seine moralische Blöße bedecken kann? Und die Graffitikünstler, die vor das Schlecker-Schild immer noch ein A und ein R gesprayt haben, sollten sich ebenfalls was schämen ...
Donnerstag, 26. Januar 2012
Zukunftsangst
So ist die Zukunft, so ist das 21. Jahrhundert: Eine Rückrufaktion von Herstellern künstlicher weiblicher Brüste läuft gerade, über 500.000 Frauen sind weltweit davon betroffen. Es ist die erste Tittenrückrufaktion der Geschichte - alle müssen zurück in die Werkstatt. Und diese Story ist deswegen so deprimierend, weil man früher dachte, im 21. Jahrhundert gäbe es so kluge und nützliche Erfindungen wie zum Beispiel einen Dienstroboter, der einem die ganze Drecksarbeit abnehmen kann. Wir haben viel zu lange viel zu logisch gedacht. Und dann bekommt man in der Realität nicht nur völlig falsche Brüste präsentiert, sondern auch noch einen Sondermüllskandal erster Klasse. An diesem Punkt kommt die Zukunft nicht gerade gut weg, wenn man eine Weile darüber nachdenkt - vor allem aus Sicht der Frauen ....
Freitag, 20. Januar 2012
20 Jahre Mykonos und das Berliner Fell
Was unterscheidet den echten Berliner eigentlich von anderen Menschen, insbesondere in der vielbeschworenen und oft gescholtenen Provinz? Es ist sein dickes Fell. Den Berliner schockt nichts, er hat alles schon mal gesehen und kann zu jeder erzählten Geschichte eine wahnwitzige Steigerung aus seiner eigenen Biographie besteuern. Als Zugereister habe ich mich natürlich gefragt, wie man dieses dicke Fell bekommt. Die Antwort: Weil in dieser Stadt einfach so viel passiert, dass sich das Leben förmlich mit Anekdoten und Dramen vollsaugt.
Eines meiner Erweckungserlebnisse in dieser Hinsicht war der Terroranschlag auf das Restaurant „Mykonos“, der im Sommer 1992, also vor zwanzig Jahren, in der West-Berliner City verübt wurde. Wie es der Zufall wollte, war ich sechs Wochen zuvor aus Kreuzberg ins gegenüberliegende Haus gezogen. An diesem Abend war ich gerade noch an der Tankstelle gewesen, um Dosenbier und Zigaretten zu holen. In meinem Wohnzimmer lief dröhnend laut Frank Zappa, so dass ich zunächst gar nicht mitbekommen hatte, was passiert ist. Ich erinnere mich, dass ich am Kühlschrank stand, um Nachschub zu holen, als aus dem griechischen Lokal Männer heraus gerannt kamen und in einen schwarzen Mercedes S-Klasse sprangen. Ich blieb am Fenster stehen und wartete mit einem Bier in der Hand. Kurze Zeit später versuchten zwei eintreffende Streifenpolizisten, die Augenzeugen am Weglaufen zu hindern. Dann hörte ich die ersten Sirenen. Es war ein komisches Gefühl, denn normalerweise hört man ja, wie sich das Geräusch nähert und dann wieder verschwindet. Diese Sirenen näherten sich und blieben vor meinem Fenster – Zappa nix dagegen. Bald darauf stand die ganze Straße voller Rettungs- und Polizeifahrzeuge, und nach etwa einer Stunde Sirenengeheul und blechernem Funkgeplapper trugen Sanitäter die ersten Opfer hinaus. Am nächsten Morgen klingelte die Kripo um acht Uhr bei mir, sie verhörte alle Anwohner. Zwei Stunden später stand der Reporter der „Berliner Morgenpost“ vor der Tür, er interviewte und fotografierte mich. Und so landete ich als „Der Augenzeuge“ in der Samstagsausgabe und wurde in meinem Viertel für einige Tage zum Promi. Auf dem Weg zur Post lief zum Beispiel ein Ehepaar an mir vorüber, kaum wähnte man mich außer Hörweite, fragte die Frau: „Ist er das nicht?“ Ihr Mann antwortete: „Doch“. Und im Supermarkt starrte mich eine ältere Frau richtig fassungslos an, als sie mich erkannte.
Am Tag nach dem Blutbad waren etliche Fernsehteams und andere Journalisten unten auf der Straße, das Haus war von den Medien regelrecht belagert. Die gegenüberliegende Straßenseite wurde abgesperrt und militärisch bewacht, vermutlich Bundesgrenzschutz. Ein Überlebender wurde von einer Horde Reporter verfolgt. Er schob sein Fahrrad langsam den Gehweg entlang und redete, die Meute lief wie ein Rudel junger Hunde um ihn herum. Im Laufe des Tages wurden Kränze und schwarz umrandete Bilder gebracht, eine Solidaritätsdemonstration fand statt und über Megaphon verlasen die Kurden, deren Politiker vom iranischen Geheimdienst ermordet worden waren, ihre Texte. Eine Freundin (aus der Provinz) hat mich in der Zeit noch auf den Paranoia-Trip geschickt, der Geheimdienst würde sicher auch noch die Zeugen des Attentats liquidieren und mein Name würde mit Foto und Adresse ja schön fett in der Presse stehen, herzlichen Glückwunsch auch. Was soll ich sagen? Inzwischen bin ich ein echter Berliner geworden. Wenn mir morgen jemand erzählen würde, er käme gerade vom Mars, würde ich nur ungerührt antworten: „Bin ick letzte Woche ooch jewesn, war jané so dolle.“
Eines meiner Erweckungserlebnisse in dieser Hinsicht war der Terroranschlag auf das Restaurant „Mykonos“, der im Sommer 1992, also vor zwanzig Jahren, in der West-Berliner City verübt wurde. Wie es der Zufall wollte, war ich sechs Wochen zuvor aus Kreuzberg ins gegenüberliegende Haus gezogen. An diesem Abend war ich gerade noch an der Tankstelle gewesen, um Dosenbier und Zigaretten zu holen. In meinem Wohnzimmer lief dröhnend laut Frank Zappa, so dass ich zunächst gar nicht mitbekommen hatte, was passiert ist. Ich erinnere mich, dass ich am Kühlschrank stand, um Nachschub zu holen, als aus dem griechischen Lokal Männer heraus gerannt kamen und in einen schwarzen Mercedes S-Klasse sprangen. Ich blieb am Fenster stehen und wartete mit einem Bier in der Hand. Kurze Zeit später versuchten zwei eintreffende Streifenpolizisten, die Augenzeugen am Weglaufen zu hindern. Dann hörte ich die ersten Sirenen. Es war ein komisches Gefühl, denn normalerweise hört man ja, wie sich das Geräusch nähert und dann wieder verschwindet. Diese Sirenen näherten sich und blieben vor meinem Fenster – Zappa nix dagegen. Bald darauf stand die ganze Straße voller Rettungs- und Polizeifahrzeuge, und nach etwa einer Stunde Sirenengeheul und blechernem Funkgeplapper trugen Sanitäter die ersten Opfer hinaus. Am nächsten Morgen klingelte die Kripo um acht Uhr bei mir, sie verhörte alle Anwohner. Zwei Stunden später stand der Reporter der „Berliner Morgenpost“ vor der Tür, er interviewte und fotografierte mich. Und so landete ich als „Der Augenzeuge“ in der Samstagsausgabe und wurde in meinem Viertel für einige Tage zum Promi. Auf dem Weg zur Post lief zum Beispiel ein Ehepaar an mir vorüber, kaum wähnte man mich außer Hörweite, fragte die Frau: „Ist er das nicht?“ Ihr Mann antwortete: „Doch“. Und im Supermarkt starrte mich eine ältere Frau richtig fassungslos an, als sie mich erkannte.
Am Tag nach dem Blutbad waren etliche Fernsehteams und andere Journalisten unten auf der Straße, das Haus war von den Medien regelrecht belagert. Die gegenüberliegende Straßenseite wurde abgesperrt und militärisch bewacht, vermutlich Bundesgrenzschutz. Ein Überlebender wurde von einer Horde Reporter verfolgt. Er schob sein Fahrrad langsam den Gehweg entlang und redete, die Meute lief wie ein Rudel junger Hunde um ihn herum. Im Laufe des Tages wurden Kränze und schwarz umrandete Bilder gebracht, eine Solidaritätsdemonstration fand statt und über Megaphon verlasen die Kurden, deren Politiker vom iranischen Geheimdienst ermordet worden waren, ihre Texte. Eine Freundin (aus der Provinz) hat mich in der Zeit noch auf den Paranoia-Trip geschickt, der Geheimdienst würde sicher auch noch die Zeugen des Attentats liquidieren und mein Name würde mit Foto und Adresse ja schön fett in der Presse stehen, herzlichen Glückwunsch auch. Was soll ich sagen? Inzwischen bin ich ein echter Berliner geworden. Wenn mir morgen jemand erzählen würde, er käme gerade vom Mars, würde ich nur ungerührt antworten: „Bin ick letzte Woche ooch jewesn, war jané so dolle.“
Dienstag, 17. Januar 2012
Frauen und Politik
Machen wir uns nichts vor: Wenn Frauen ein Arbeitsfeld erobern, heißt das, dieses Feld ist gesellschaftlich unbedeutend geworden. Als die Männer bemerkt haben, dass man an den Finanzmärkten besser verdient als in den Arztpraxen, wanderten die männlichen Alphatiere in die Banken und Unternehmensberatungen. Seit die Frauen massiv in den Arztberuf drängen, sinken in diesem Bereich die Verdienstmöglichkeiten. Aus der Bildung verabschieden sich die Männer auch, interessanterweise von unten nach oben, in nennenswerter Zahl besetzen sie noch die Lehrstühle der Universitäten, in Kindergarten und Grundschule sind sie schon lange verschwunden. Und jetzt: Politik. Ich sehe es mit einem lachenden und einem weinenden Auge, dass die Politik immer weiblicher wird, denn der soziale Fortschritt der Gleichstellung läutet das Ende der Demokratie ein. Die Männer/Macher in den Konzernen sitzen schon jetzt am längeren Hebel – wäre es anders, wären diese Menschen woanders.
Samstag, 14. Januar 2012
„Ärgernis, Aufsehen, Empörung: Skandale in der Geschichte“
Seit 1973 veranstaltet die renommierte Körber-Stiftung, für die ich in aller Bescheidenheit auch schon als Juror fungiert habe, gemeinsam mit dem Bundespräsidenten einen jährlichen Geschichtswettbewerb, an dem sich junge Leute beteiligen sollen. Mehr als 125.000 Schülerinnen und Schüler haben bereits an diesem Wettbewerb teilgenommen, es ist laut Wikipedia „die größte Laienforschungsbewegung Deutschlands“. Das aktuelle Thema lautet: „Ärgernis, Aufsehen, Empörung: Skandale in der Geschichte“. Eine kluge und weitsichtige Entscheidung, wie wir inzwischen wissen. Der aktuelle Bundespräsident hat Ende letzten Jahres die Preisträger des Geschichtswettbewerbs ausgezeichnet, es aber leider seitdem verabsäumt, auch die persönlichen Konsequenzen aus seinen diversen Skandalen zu ziehen, um den Grad der Würdelosigkeit seines Verhaltens nicht ins Unermessliche steigen zu lassen. Gib dir einen Ruck, Wulff, und geh endlich! Du hast so ein schönes Haus in Niedersachsen …
Mittwoch, 4. Januar 2012
Unvergessliches Treffen
Es war im Intercity von Köln nach Berlin. Günter hatte bereits seinen reservierten Fensterplatz am Tisch eingenommen, als Tom den Großraumwagen betrat. Tom ließ seinen Blick über die Sitzreihen wandern. Dann sah er Günter, der gerade ein Notizbuch und einen Stift aus seiner Jacke kramte.
„Ach, hallo. Günter. Bist du das?“
Günter blickte hoch. „Tom? Na, das ist ja eine Überraschung.“
„Ist hier noch frei?“
„Klar. Setz dich.“
Tom setzte sich auf den freien Fensterplatz direkt gegenüber.
„Günter Schurack, Schillergymnasium. Das ist dreißig Jahre her, oder?“ Tom grinste breit, während er das iPhone vor sich auf dem Tisch platzierte.
„Genau. Tom Burckhardt. Du hast dich nicht viel verändert. Nur die Haare sind ein bisschen kürzer.“
Sie lachten beide. Früher hatte Tom lange Haare gehabt, nun trug er sie kurz und mit gewaltigen Geheimratsecken.
„Wo geht’s denn hin?“ fragte Tom.
„Nach Bielefeld, auf eine Tagung,“ antwortete Günter.
„Was machst du da?“
„Ich halte einen Vortrag.“
„Einen Vortrag?“ fragte Tom erstaunt. „Bist du Wissenschafter?“
Günter lächelte. „Ich bin Betriebswirt.“
Tom riss die Augen auf und lachte einmal kurz. „Ist nicht dein Ernst? Betriebswirt?“ Dann grinste er. „Passt aber irgendwie. Warst du damals nicht in der Jungen Union?“
„Ja“, sagte Günter. „Und du warst doch damals der große Revoluzzer in den Achtzigern.“
„Stimmt“, Tom schüttelte lachend den Kopf. „Ich habe mir nichts gefallen lassen.“
„Was machst du denn heute so?“
„Ich habe eine kleine Agentur in Berlin. Wir sind ein paar Leute, aber es läuft total super.“
Günter grinste. „Sag bloß, du machst Werbung. Reklame für den Konsumterror der Großkonzerne?“
Tom zuckte leicht mit den Schultern. „Es ist keine Werbung, wir machen Krisen-PR. Wir entwickeln Strategien und Argumentationen für unsere Kunden. Ich mache Kommunikation, das ist es im Kern. Und wir haben jede Menge Kunden aus dem Bereich Erneuerbare Energien.“
„Nicht schlecht“. Günter nickte anerkennend. „Berlin ist bestimmt aufregend.“
„Ach, weißt du, wenn man den ganzen Tag am rödeln ist und zwei kleine Kinder hat, beschränkt sich die Aufregung auf den Straßenverkehr und die Steuererklärung.“
Günter lachte. „Bist du verheiratet?“
„Ja. Ich weiß, es klingt spießig. Aber wir haben eine richtig fette Hochzeit auf der Finca meiner Frau gefeiert. Ist schon zehn Jahre her. Auf Mallorca. Hast du auch Familie?“ Tom zeigte Günter ein Bild auf seinem Telefon. Eine kurzhaarige Frau und zwei kleine Mädchen standen vor einem üppig geschmückten Weihnachtsbaum.
Günter schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin Single.“
„Lebst ganz für die Wissenschaft, was? An welcher Uni bist du denn?“
„Duisburg. Aber ich wohne in Bonn.“
„Als Professor verdient man sicher nicht schlecht, oder?“ fragte Tom.
„Ich bin Privatdozent. Im Moment lebe ich von den Lehrveranstaltungen, die ich mache.“ Günter schob Tom eine Visitenkarte über den Tisch. „Hier. In unserem Alter hat man ja so was.“
Tom lachte und gab Günter seine Karte. Dann betrachteten beide für einen kurzen Augenblick die Visitenkarten des Anderen.
„Kollwitzplatz“, sagte Günter und nickte mit einem spöttischen Grinsen zu. „Das ist im Prenzlauer Berg, oder? Ziemlich angesagter und teurer Flecken. Deine Agentur muss ja gut laufen, wenn du dir dort die Miete leisten kannst.“
„Ja, dort wohnt die digitale Boheme, wie man so sagt. Und, ehrlich gesagt, haben wir das Loft sogar gekauft. War schweineteuer, aber es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn du nachts an deinem Schreibtisch sitzt und über die Stadt schaust.“ Tom räkelte sich behaglich in seinem Sitz.
Günter schaute ihn ernst an. „Das hätte ich nicht gedacht. Geschäftsmann, verheirateter Familienvater, Grundeigentümer und Autofahrer. Eigentlich musst du jetzt nur noch einen Baum pflanzen, dann hast du den ganzen bürgerlichen Kanon abgearbeitet.“
Tom wurde nun auch ernst. „Das brauche ich nicht mehr, ich habe letztes Jahr tausend Euro für ein Wiederaufforstungsprojekt in Vietnam gespendet. Und du? Immer noch ein strammer Antikommunist und Parteisoldat? Bist du noch für die bürgerliche Sache unterwegs? Ist aus dem Helmut-Kohl-Fan jetzt ein Merkel-Vasall und Westerwelle-Knecht geworden?“
„Ich lebe jedenfalls bescheiden und fahre auch nicht Auto. Und was heißt hier bürgerlich? Du lebst doch bürgerlicher als ich!“
Tom lachte verächtlich. „Was soll denn das heißen? Als du noch gegen die 35-Stunden-Woche und für die NATO-Aufrüstung gekämpft hast, habe ich mich bei den Grünen für Umweltschutz und gegen Atomkraft engagiert. Ich habe am Ende Recht behalten.“
„Aus dir ist ein bürgerlicher Bettvorleger geworden, der systematisch alles verraten hat, woran er mal geglaubt und wofür er mal gekämpft hat. Du spielst hier den Salonbolschewisten mit deinem ganzen Apple-Wichtigtuer-Scheißdreck und deiner Jack-Wolfskin-Kacke.“ Günter war auf einmal wütend und laut geworden.
Tom sah ihn erschrocken an. Dann schwiegen beide eine Weile.
In leisem drohendem Tonfall fuhr Günter fort: „Du hast am Ende nicht Recht behalten. Du nicht! Ich bin mir treu geblieben und du bist ein Verräter. Wofür der ganze Kampf? Wozu hast du das alles gemacht, die ganze Provokation, die Parolen, die du überall hingeschmiert und gebrüllt hast, wenn du am Ende doch alle deine Ziele verraten hast? Du bist der schlimmste Verräter, den man sich vorstellen kann. Du hast nicht andere verraten, du hast dich selbst verraten. Du bist als Bonzensohn auf die Welt gekommen und jetzt bist du selbst ein Bonze geworden. Du bist nicht besser als jeder andere Unternehmer, der seinen Profit auf dem Rücken seiner Angestellten macht. Und von deinem reichen Papa habe ich in der Zeitung gelesen, der hat mit seinen Hedge-Fonds Millionen verdient. Ihr Grünen seit doch die neuen Spießer! Vor dreißig Jahren hast du Leute wie mich bekämpft, weil ich für dich der Inbegriff des Spießertums war. Jetzt wählst du selbst die Spießerpartei von heute. Ihr Besserverdienenden rümpft die Nase über Leute, die zu Aldi oder Kik gehen, während ihr eure bürgerliche Scheiße im Biomarkt kauft oder bei Manufaktum. Dabei kapiert ihr gar nicht, dass viele von uns sich die teuren Sachen gar nicht leisten können und eben politisch unkorrekt einkaufen müssen. Ihr pseudolinken Klugscheißer haltet anderen gerne Vorträge über Klimawandel und fliegt danach für zwei Wochen zum Skiurlaub nach Davos. Arme Leute haben eine bessere Ökobilanz als ihr, weil sie sich die Umweltverschmutzung gar nicht leisten können. Die reden allerdings auch nicht so geschwollen daher wie ihr hochnäsigen Wichtigtuer.“
Dann hielt der Zug in Bielefeld und Günter stieg aus.
„Ach, hallo. Günter. Bist du das?“
Günter blickte hoch. „Tom? Na, das ist ja eine Überraschung.“
„Ist hier noch frei?“
„Klar. Setz dich.“
Tom setzte sich auf den freien Fensterplatz direkt gegenüber.
„Günter Schurack, Schillergymnasium. Das ist dreißig Jahre her, oder?“ Tom grinste breit, während er das iPhone vor sich auf dem Tisch platzierte.
„Genau. Tom Burckhardt. Du hast dich nicht viel verändert. Nur die Haare sind ein bisschen kürzer.“
Sie lachten beide. Früher hatte Tom lange Haare gehabt, nun trug er sie kurz und mit gewaltigen Geheimratsecken.
„Wo geht’s denn hin?“ fragte Tom.
„Nach Bielefeld, auf eine Tagung,“ antwortete Günter.
„Was machst du da?“
„Ich halte einen Vortrag.“
„Einen Vortrag?“ fragte Tom erstaunt. „Bist du Wissenschafter?“
Günter lächelte. „Ich bin Betriebswirt.“
Tom riss die Augen auf und lachte einmal kurz. „Ist nicht dein Ernst? Betriebswirt?“ Dann grinste er. „Passt aber irgendwie. Warst du damals nicht in der Jungen Union?“
„Ja“, sagte Günter. „Und du warst doch damals der große Revoluzzer in den Achtzigern.“
„Stimmt“, Tom schüttelte lachend den Kopf. „Ich habe mir nichts gefallen lassen.“
„Was machst du denn heute so?“
„Ich habe eine kleine Agentur in Berlin. Wir sind ein paar Leute, aber es läuft total super.“
Günter grinste. „Sag bloß, du machst Werbung. Reklame für den Konsumterror der Großkonzerne?“
Tom zuckte leicht mit den Schultern. „Es ist keine Werbung, wir machen Krisen-PR. Wir entwickeln Strategien und Argumentationen für unsere Kunden. Ich mache Kommunikation, das ist es im Kern. Und wir haben jede Menge Kunden aus dem Bereich Erneuerbare Energien.“
„Nicht schlecht“. Günter nickte anerkennend. „Berlin ist bestimmt aufregend.“
„Ach, weißt du, wenn man den ganzen Tag am rödeln ist und zwei kleine Kinder hat, beschränkt sich die Aufregung auf den Straßenverkehr und die Steuererklärung.“
Günter lachte. „Bist du verheiratet?“
„Ja. Ich weiß, es klingt spießig. Aber wir haben eine richtig fette Hochzeit auf der Finca meiner Frau gefeiert. Ist schon zehn Jahre her. Auf Mallorca. Hast du auch Familie?“ Tom zeigte Günter ein Bild auf seinem Telefon. Eine kurzhaarige Frau und zwei kleine Mädchen standen vor einem üppig geschmückten Weihnachtsbaum.
Günter schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin Single.“
„Lebst ganz für die Wissenschaft, was? An welcher Uni bist du denn?“
„Duisburg. Aber ich wohne in Bonn.“
„Als Professor verdient man sicher nicht schlecht, oder?“ fragte Tom.
„Ich bin Privatdozent. Im Moment lebe ich von den Lehrveranstaltungen, die ich mache.“ Günter schob Tom eine Visitenkarte über den Tisch. „Hier. In unserem Alter hat man ja so was.“
Tom lachte und gab Günter seine Karte. Dann betrachteten beide für einen kurzen Augenblick die Visitenkarten des Anderen.
„Kollwitzplatz“, sagte Günter und nickte mit einem spöttischen Grinsen zu. „Das ist im Prenzlauer Berg, oder? Ziemlich angesagter und teurer Flecken. Deine Agentur muss ja gut laufen, wenn du dir dort die Miete leisten kannst.“
„Ja, dort wohnt die digitale Boheme, wie man so sagt. Und, ehrlich gesagt, haben wir das Loft sogar gekauft. War schweineteuer, aber es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn du nachts an deinem Schreibtisch sitzt und über die Stadt schaust.“ Tom räkelte sich behaglich in seinem Sitz.
Günter schaute ihn ernst an. „Das hätte ich nicht gedacht. Geschäftsmann, verheirateter Familienvater, Grundeigentümer und Autofahrer. Eigentlich musst du jetzt nur noch einen Baum pflanzen, dann hast du den ganzen bürgerlichen Kanon abgearbeitet.“
Tom wurde nun auch ernst. „Das brauche ich nicht mehr, ich habe letztes Jahr tausend Euro für ein Wiederaufforstungsprojekt in Vietnam gespendet. Und du? Immer noch ein strammer Antikommunist und Parteisoldat? Bist du noch für die bürgerliche Sache unterwegs? Ist aus dem Helmut-Kohl-Fan jetzt ein Merkel-Vasall und Westerwelle-Knecht geworden?“
„Ich lebe jedenfalls bescheiden und fahre auch nicht Auto. Und was heißt hier bürgerlich? Du lebst doch bürgerlicher als ich!“
Tom lachte verächtlich. „Was soll denn das heißen? Als du noch gegen die 35-Stunden-Woche und für die NATO-Aufrüstung gekämpft hast, habe ich mich bei den Grünen für Umweltschutz und gegen Atomkraft engagiert. Ich habe am Ende Recht behalten.“
„Aus dir ist ein bürgerlicher Bettvorleger geworden, der systematisch alles verraten hat, woran er mal geglaubt und wofür er mal gekämpft hat. Du spielst hier den Salonbolschewisten mit deinem ganzen Apple-Wichtigtuer-Scheißdreck und deiner Jack-Wolfskin-Kacke.“ Günter war auf einmal wütend und laut geworden.
Tom sah ihn erschrocken an. Dann schwiegen beide eine Weile.
In leisem drohendem Tonfall fuhr Günter fort: „Du hast am Ende nicht Recht behalten. Du nicht! Ich bin mir treu geblieben und du bist ein Verräter. Wofür der ganze Kampf? Wozu hast du das alles gemacht, die ganze Provokation, die Parolen, die du überall hingeschmiert und gebrüllt hast, wenn du am Ende doch alle deine Ziele verraten hast? Du bist der schlimmste Verräter, den man sich vorstellen kann. Du hast nicht andere verraten, du hast dich selbst verraten. Du bist als Bonzensohn auf die Welt gekommen und jetzt bist du selbst ein Bonze geworden. Du bist nicht besser als jeder andere Unternehmer, der seinen Profit auf dem Rücken seiner Angestellten macht. Und von deinem reichen Papa habe ich in der Zeitung gelesen, der hat mit seinen Hedge-Fonds Millionen verdient. Ihr Grünen seit doch die neuen Spießer! Vor dreißig Jahren hast du Leute wie mich bekämpft, weil ich für dich der Inbegriff des Spießertums war. Jetzt wählst du selbst die Spießerpartei von heute. Ihr Besserverdienenden rümpft die Nase über Leute, die zu Aldi oder Kik gehen, während ihr eure bürgerliche Scheiße im Biomarkt kauft oder bei Manufaktum. Dabei kapiert ihr gar nicht, dass viele von uns sich die teuren Sachen gar nicht leisten können und eben politisch unkorrekt einkaufen müssen. Ihr pseudolinken Klugscheißer haltet anderen gerne Vorträge über Klimawandel und fliegt danach für zwei Wochen zum Skiurlaub nach Davos. Arme Leute haben eine bessere Ökobilanz als ihr, weil sie sich die Umweltverschmutzung gar nicht leisten können. Die reden allerdings auch nicht so geschwollen daher wie ihr hochnäsigen Wichtigtuer.“
Dann hielt der Zug in Bielefeld und Günter stieg aus.
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