Dienstag, 5. Mai 2015

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“Franken ist wie ein Zauberschrank: immer neue Schubfächer tun sich auf und zeigen bunte glänzende Kleinodien und das hat kein Ende.” (Karl Immermann: Fränkische Reise)
Seßlach ist der erste Höhepunkt unserer dreitägigen Frankenreise. Ein winziges Städtchen, wie es sie vor hunderten Jahren überall in Europa gegeben haben muss. Fachwerkhäuser an buckligen Gassen mit Kopfsteinpflaster, Kirche, Rathaus, Adelssitz, kleine Plätze mit Wirtshäuern und drum herum eine Stadtmauer mit trutzigen Türmen. Eine perfekte Märklin-Welt, die schon mehrfach als Filmkulisse gedient hat. Es würde nicht weiter verwundern, wenn gleich ein Herold in den Ort geritten käme, der die Entdeckung Amerikas verkündete. Sympathisch sind die zahlreichen Gruppen von Jugendlichen, die an diesem Tag mit Bier- und Weinflaschen in der Hand auf den Landstraßen und in den Dörfern unterwegs sind.
Eingerahmt wird die Besichtigung Seßlachs vom Besuch des Brauereigasthofs Greifenklau in Bamberg, in dem wir uns zur Mittagszeit mit einigen Bieren, Braten, Kloß und Wirsing innerlich festigen, und einem ebenso genussreichen Abend im „Schwarzen Adler“ in der Nähe von Bad Staffelstein, wo wir unsere Fremdenzimmer gebucht haben.
Am nächsten Morgen sprechen wir nach einem soliden Frühstück beim Getränkemarkt vor, der in Sachen regionales Bier vorbildlich sortiert ist. Und ich rede nicht von Mango-Radler 0,0%. Wir diskutieren nach dem Kauf von 14 verschiedenen Flaschen darüber, dass man den Begriff „Bier“ eigentlich nicht für alkoholfreie Getränke verwenden dürfte. Sie sollten auch nicht mit Bier im selben Regal stehen, sondern eher bei den Kindergetränken wie Limonade. Warum gibt es nicht ein eigenes Regal „Plörre“ weit weg vom Bier, damit man nicht aus Versehen diese menschenfeindliche Brühe kauft?
Eine Stunde später stehen wir auf den Felszinnen des Staffelbergs und blicken weit über das Land. Auf den gegenüberliegenden Hügeln sitzen alte Klöster, in den Tälern reiht sich Dorf an Dorf. Zwischen den frühlingsgrünen Wiesen leuchten überall die gelben Rapsvierecke, als hätten Kinder die Landschaft ausgemalt. Der Aufstieg vom Tal zur alten Keltenfestung (etwa 250 Höhenmeter) fällt in meinem Alter und in meiner Gewichtsklasse schon unter die Rubrik Alpinismus. Auf dem Gipfelplateau wartet ein kleines Gasthaus auf uns, das frisches Bier und einfache Mahlzeiten bietet.
Pünktlich zur Eröffnung um zehn Uhr treten wir ein, um zehn nach zehn sind bereits alle Tische besetzt. Man würde keinen Platz mehr bekommen, wenn man erst jetzt den Gastraum betreten würde. Es ist laut, es wird gelacht und man hört das Gläserklirren, wenn die Menschen miteinander anstoßen. Eine solche Stimmung kenne ich aus Berlin oder Rheinland-Pfalz noch nicht mal, wenn es Samstagnacht ist. Und hier wird nach dem Frühstück schon Bier getrunken, als gäbe es kein Morgen mehr. Anderswo würde man blöd angeschaut werden, wenn man um diese Zeit Alkohol trinken würde – hier machen es alle. Ich sehe weder Wassergläser noch Kaffeetassen auf den Tischen.
Es ist gerade einmal zehn Uhr dreißig, als wir unser zweites Glas Helles geleert haben und weiterziehen, weil uns die Sonne in die Biergärten lockt. Wir fahren zur prächtigen Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen, wo es das grandiose „Nothelfer Pils“ in der Klosterbrauerei gibt. Zusammen mit Held-Bräu aus Oberailsfeld das beste Bier, das ich in meinem Leben getrunken habe.
Notiz: Ich möchte in einem Fass beerdigt werden. In Franken.
Im Landgasthof „Hennemann“ essen wir anschließend zu Mittag. Gepökelte Ochsenzunge, eine Köstlichkeit vergangener Tage, die ich schon seit vielen Jahren nicht mehr auf einer Speisekarte gesehen habe. Die Strafe folgt auf dem Fuß bzw. auf der Toilette: Als ich im Anschluss an meine Sitzungstätigkeit wieder den Gürtel schließen will, zerbricht die stählerne Schnalle und der Lederriemen platzt mir mit einem Peitschenknall vom Leib. Nachdem ich die Überreste meines Wanstbändigers im Papierkorb unter dem Waschbecken entsorgt habe, gehe ich zum Tisch zurück.
N., mein stoischer Reisebegleiter, merkt an meinem Grinsen, dass etwas Berichtenswertes vorgefallen sein muss. Nach meinem vollständigen Rapport sagt er nur, das wäre mir schon einmal passiert, und es wäre in jener Zeit gewesen, die das Ende meiner Frauenbeziehungen eingeleitet hätte. Ich korrigiere ihn und erkläre mein Gürtelplatzen, meine Wanstexpansion und diese unsäglichen Beziehungsverwicklungen bildeten eine zufällige Koinzidenz, aber keinen Kausalnexus. Natürlich ernte ich nur hämisches Gelächter und ordere ein weiteres Bier.
Den sonnigen Nachmittag verbringen wir im Biergarten des „Schwarzen Adler“. Wir sitzen recht idyllisch am Waldrand, lauschen dem Vogelgezwitscher, dem Plätschern eines kleinen Brunnens und dem Geschwätz einer Gruppe am Nachbartisch, die vermutlich aus Ost-Berlin kommt. „Weesde“, „Haak jesaach“, „Zu Ostzeiten“ und „Ick wa ünne Charité, Alta“. Die verzweifelten Versuche, als Großstädter auf dem Land originell zu wirken: „Wir nehm nochn Bier wennse uns fotografiern“, sagt Maik zur Kellnerin und reicht ihr sein Handy. „Dann könnse Feierahmd machen“. Später wird dann „Ahmdbrot“ statt Abendessen geordert. Ich erinnere mich wieder an eine Freundin, die in den frühen Neunzigern mit dem Spruch „Ich würde dich gerne mal zum Abendbrot einladen“ von einem Ostdeutschen auf einer Party in Ost-Berlin (auf der es übrigens auch Ochsenzunge gab – die lag komplett auf dem Buffettisch!) angesprochen wurde – das Date kam nicht zustande. Zwei O-Töne zum Thema Frauen noch von diesem Tisch: „Wenn eene loofen will, lass se loofen. Entweder se kommt von alleene zurück oder nüch“; „Meene Frau hatte früher jenauso ne jroße Brust wie deine – aber jetze hat se jar keene mehr.“
Nach einem Nachmittag des Zuhörens denke ich: Wir sind 1990 nicht vereint worden, wir wurden wie Frankensteins Monster zusammengenäht. Noch eine Bemerkung zu den Gasthäusern. Erstens gibt es davon unglaublich viele. Unser Dörfchen namens End, in dem es noch nicht einmal Straßennamen gibt, sondern nur Nummern an den Häusern (wir waren in „End 13“), leben vielleicht hundert Menschen, aber es gibt drei Gasthäuser. Wohnfläche und Baugrund sind hier offenbar recht günstig. Jedes Gasthaus hat vielleicht hundert Sitzplätze und einen großen Biergarten. Und die Toiletten können mühelos mit Versailles mithalten.
An diesem Tag sammle ich viel Material in diesen Gasthäusern – und am späten Abend erhalte ich noch den Anruf einer Frau in meinem Fremdenzimmer, die sich verwählt hatte, den ich geschickt in die Länge ziehe. Ich trinke allerdings auch 14 Bier – alles für die Recherche, den Ruhm und die Literatur. Als ich am nächsten Morgen erwache, döse ich noch eine ganze Weile mit geschlossenen Augen, höre aber überdeutlich jedes noch so kleine Geräusch im Gasthof.
Am dritten Tag besichtigen wir noch das Kloster Banz, vor dem ein Gedenkstein für Franz Josef Strauß herumliegt. Schlagartig wird mir wieder klar, dass dieser liebenswerte Landstrich Teil des finsteren Freistaats Bayern ist. Wir kehren auf der Rückfahrt in Zeil am Main ein, im Brauereigasthaus Göller. Hier wird seit 501 Jahren gebraut. Das Gebäude heißt „Alte Freyung“ und war früher einmal Zufluchtsort für Verfolgte, jetzt bietet sie Biertrinkern eine Heimstatt.
Es ist Sonntagmorgen und ein Dutzend alte Männer sitzt beim Kartenspiel. Sie wirken gleich alt, so als ob sie schon zusammen zur Schule gegangen wären. Die Stimmung ist ausgelassen, alle trinken natürlich das Göller-Pils oder ein Weißbier. Auf der Speisekarte weist man darauf hin: „Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass mäßiger Alkoholgenuss den Organismus stärkt.“ Es geht im weiteren Text um die guten Vitamine des golden funkelnden Krafttrunks sowie die nervenstärkende und beruhigende Wirkung des Hopfens. Nimm das, Krankenkasse!
Sympathisch ist auch, dass auf der Speisekarte das alkoholfreie Bier nicht unter „Bier“, sondern bei den anderen alkoholfreien Getränken steht. Es wird auch nicht das Wort Bier verwendet, sondern „alkoholfreies Weizen“ usw. Auch der Wirtshausspruch „Raus mit dem Wort, wenn’s wahr ist, nunter mit dem Bier, wenn’s klar ist“ gefällt mir. Als wir unser Essen bestellen, fragen wir die Kellnerin, ob unsere Vermutung richtig ist, dass die ganzen Kartenspieler zum Mittagessen nach Hause gehen. Sie bestätigt uns, dass die Herren alle um 8:30 Uhr zum Kartenspielen kommen und nach zwölf Uhr gehen. Sie würden noch an zwei Abenden jede Woche bis zwei Uhr nachts spielen. Fidele Rentner!
Was mir noch in diesem Gasthaus aufgefallen ist: Hier ist keiner dünn. Aber dann wird es doch Zeit, Abschied zu nehmen. Ein letztes Bier noch, dann geht es auf den beschwerlichen Weg nach Hause. Freudloser Autokorso, dreispurig. Und hinter dem Rhein wird wieder Staub inhaliert und der alten Frankenherrlichkeit nachgetrauert …
Louis Prima - Route 66. https://www.youtube.com/watch?v=mNtilnWb0-M
P.S.: Die beiden Bilder zeigen Seßlach und sind von N.

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