Sonntag, 31. Mai 2015

Reden oder Schweigen

„Es liegt auf der Hand, dass der Untertanenstaat die Kritik, in welcher Form auch immer, als etwas Überflüssiges und Lästiges empfand, dass er sie bekämpfte und womöglich ganz zu verhindern suchte und daher die Kritisierenden zu verketzern bemüht war: Wo man Unterordnung und Ergebenheit fordert und den Gehorsam und die Gefolgschaft verherrlicht, wird das selbständige Denken sogleich zum Ärgernis; wo Befehle gelten sollen, muss sich die Kritik als gefährlicher Störfaktor erweisen. Mit anderen Worten: Freiheit und Kritik bedingen sich gegenseitig. Wie es also keine Freiheit ohne Kritik geben kann, so kann auch die Kritik nicht ohne die Freiheit existieren.“ (Marcel Reich-Ranicki: Sind Verrisse Flegeleien?)
Manche Menschen glauben, Recht zu haben, nur weil ihnen schon lange niemand mehr widersprochen hat. Erich Honecker oder Erich Mielke glaubten das bis zum bitteren Ende. Die Andersdenkenden hatten es entweder aufgegeben und schwiegen, oder sie saßen im Knast. Jeder drittklassige Diktator glaubt, Recht zu haben. Leute mit einer anderen Meinung werden einfach liquidiert.
Wer widerspricht heute noch der Bundesregierung? Nicht mal die Opposition. Wir haben es alle aufgegeben. Wir sind erloschen, wir haben resigniert. Demokratie ist die zivilisierte Form der Anpassung. „Wer schweigt, stimmt nicht immer zu. Er hat nur manchmal keine Lust, mit Idioten zu diskutieren“, hat Albert Einstein zu diesem Thema vor langer Zeit einmal angemerkt.
Jimi Hendrix - Purple Haze. https://www.youtube.com/watch?v=fjwWjx7Cw8I
(“Purple Haze” war der Name einer – neben “Sunshine Exposion” - bekannten Sorte von LSD-Trips in den USA)

Alte Sprichwörter 4 - Afrika

Abessinien
Je kleiner die Eidechse, umso größer die Hoffnung, ein Krokodil zu werden.
Der Mann, den kein Hunger plagt, sagt von der Kokosnuss, dass sie eine harte Schale hat.
Die Kuh kennt den, der sie melkt, aber nicht den, dem sie gehört.
Angola
Verlache den kleinen Kern nicht, eines Tages wird er ein Palmbaum sein.
Hat dich ein Weißer geschlagen, beklag dich nicht bei einem Weißen.
Nigeria
Das Böse ist ein Hügel: jedermann steigt auf seinen eigenen und zeigt auf einen anderen.
Drei Freunde gibt’s auf der Welt – Mut, Verstand und Einsicht.
Die Stärke des Leoparden besteht in der Furcht vor dem Leoparden.
Der Mensch ist die Medizin des Menschen.
Der Regen fällt nicht auf ein Dach allein.
Vom Schwatzen wird der Reis nicht gar.
Nicht in der Stadt, erst in der Wildnis lernt man den Mann kennen.

 
Der Eilfertige und der Lahme treffen sich auf der Fähre wieder. (ägyptisches Sprichwort)
Die Wurzeln erzählen den Zweigen nicht, was sie denken. (kongolesisches Sprichwort)
Der Geduldige hat alle Reichtümer dieser Welt. (liberianisches Sprichwort)
Ein Narr trägt sein Herz auf der Zunge, ein weiser Mann seinen Mund im Herzen. (maurisches Sprichwort)
Wer vom Wein trunken ist, wird wieder nüchtern; wer vom Reichtum trunken ist, wird es nicht. (Sprichwort der Swahili)
Das Wissen ist ein Affenbrotbaum: du kannst ihn nicht umspannen. (sudanesisches Sprichwort)
Das Flusspferd, welches du sehen kannst, wirft dein Boot nicht um. (südafrikanisches Sprichwort)

 
(Aus: Karl Rauch (Hrsg.): Sprichwörter der Völker, 1963)
Fargo Sountrack- Fargo, North Dakota. https://www.youtube.com/watch?v=W4NCC0dUXks

Samstag, 30. Mai 2015

Der Graue

„Die Hölle ist leer, und alle Teufel sind hier." (William Shakespeare: Der Sturm)
Ich war gerade beim Frühstück, als es an der Haustür klingelte. Als ich öffnete, stand ein Mann vor mir: graue Haare, graue Jacke, graue Hose. Selbst sein Gesicht wirkte seltsam kränklich und farblos.
Er hielt mir eine Dienstmarke aus Blei unter die Nase und sagte: „Ich komme von der BSF. Wir benötigen Ihre Mitarbeit.“
„Was ist denn die BSF?“ fragte ich verblüfft.
„Die Behörde zur Sicherung der Freiheit. Darf ich reinkommen?“
Wir setzten uns in mein Wohnzimmer. Ich bot ihm ein Glas Wasser an, aber er lehnte ab.
„Ihr Nachbar im Haus nebenan wird verdächtigt, gegen die staatliche Ordnung zu agitieren. Wir möchten Ihr Haus benutzen, um ihn zu beobachten.“
„Aber haben Sie nicht die Möglichkeit, seine Daten zu überwachen?“
„Doch. Aber das reicht nicht.“
Dann ging er zum Fenster, schon vorsichtig den Vorhang beiseite und blickte zum Nachbargrundstück. Nach einer Weile zückte er ein Notizbuch und schrieb etwas auf.
Ich ging in mein Arbeitszimmer im hinteren Teil des Hauses und setzte mich an meinen Schreibtisch.
Als ich mittags in die Küche kam, saß dort der Graue am Tisch und aß ein belegtes Brot.
„Soll ich uns nichts zu essen machen?“ fragte ich und ging an den Kühlschrank.
„Nicht nötig. Ich habe alles dabei. Und heute Nacht bekomme ich Nachschub geliefert.“
„Heute Nacht?“
„Ja.“
Er schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte und ins Wohnzimmer kam, waren dort viele technische Apparaturen mit blinkenden Lichtern aufgebaut.
„Das ist alles, was ich benötige“, sagte der Graue zu mir und deutete auf die Geräte. „Mehr als diesen Raum brauche ich nicht. Sie können sich ansonsten ganz ungezwungen im Haus bewegen.“
Er blieb sieben Jahre.
Jodie Foster's Army - Skateboard Anarchy. https://www.youtube.com/watch?v=iChTg8hCl_E

Alte Sprichwörter 3 - Asien

Arabien
Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt.
Die Geduld ist der Schlüssel zur Freude.
Das Ich ist die Mutter der Götzen.
China
Wer sein Herz dem Ehrgeiz öffnet, verschließt es der Ruhe.
Der Fisch, den man nicht fängt, ist immer groß.
Nichts ist besser verkauft, als was man einem echten Freunde, der bedürftig ist, schenkt.
Fürchte dich nicht, langsam zu gehen, fürchte dich nur, stehenzubleiben.
Wenn das Leben vollendet ist, gehen wir mit leeren Händen fort.
Vor dem Mahl lasst uns die Süd-Ebenen erforschen und die Nord-Berge besteigen; nach dem Mahl sind Schlangen in den Süd-Ebenen und Tiger in den Nord-Bergen.
Einen Tag ungestört in Muße zu verleben, heißt, einen Tag lang ein Unsterblicher sein.
Wenn sie auch nicht hundert Jahre alt werden, so bereiten sich die Menschen doch Sorgen für tausend Jahre.
Male einen Tiger und du malst nur seine Haut, kenne einen Menschen und du kennst nur sein Gesicht.
Trinke drei Jahre lang Wein, und du hast kein Geld. Trinke drei Jahre lang keinen Wein, und du hast auch kein Geld.
Japan
Generäle siegen, Soldaten fallen.
Sobald man davon spricht, was im nächsten Jahr geschehen wird, lacht der Teufel.
Wer Geld hat, kann sich sogar vom Teufel bedienen lassen.
Hebt man den Blick, so sieht man keine Grenzen.
Die Räuber von Geld werden hingerichtet, die Räuber von Ländern zu Königen gemacht.
Je mehr ein Reicher und ein Aschenbecher ansammeln, desto schmutziger werden sie.
Sobald die kleine Quelle versiegt, trocknet der große Strom aus.

 
Es lebt kein Mensch viel länger als hundert Jahre, aber Worte gibt es, die sind gut tausend Jahre alt. (mongolisches Sprichwort)

 
(Aus: Karl Rauch (Hrsg.): Sprichwörter der Völker, 1963)
The Beatles - And I Love Her. https://www.youtube.com/watch?v=Nm4YlZ3oYsQ

Freitag, 29. Mai 2015

Berufsbild: Forentroll

Sie sind in Geldnot?
Sie würden alles machen?
Sie nehmen auch Rubel?
Sie sind psychopathisch und narzisstisch veranlagt?
Sie wollten schon immer was mit Medien machen?
Onkel Wanja braucht dich! Genosse User, bitte melde dich!
Adresse:
Trollarmee
c/o Wladimir Putin
Kreml
Roter Platz 1
Moskau
Russland
www.obamaistdoof.ru
Gemeinsam gegen den Yankee-Imperialismus, der sich nur mit dem proletarischen Kampfmittel des Leserbriefs aufhalten lässt!

Petry Heil

Frauke Petry, in ihrer eigenen Partei auch böswillig als „AfD-Zschäpe“ bezeichnet (https://alternativernewsletter.wordpress.com/2013/10/04/afd-sachsen-fischen-in-braunem-gewasser-petry-heil/), hat in einem öffentlichen Lokal ein Interview gegeben. Dabei kam es zu einer Diskussion mit Andersdenkenden, bei dem jemand an den Tisch gestoßen ist, an dem der Journalist mit Frau Petry saß. Dabei ist ein Glas mit Fruchtsaft umgefallen. Das Staatsschutzkommissariat der Polizei Göttingen ermittelt.
Sperrt alle Straßen! Wo bleibt der Rettungshubschrauber? Wo ist die GSG 9? Das ist doch Terrorismus! Mit Vorratsdatenspeicherung wäre das nicht passiert. Es geht um die Jeanne d’Arc der Nationalkonservativen!
http://www.presseportal.de/blaulicht/pm/7452/3033246

Was ist Deutschland?

Zu dieser Frage möchte ich den berühmten Historiker Aloys Schulte (1857-1941), Professor in Freiburg, Breslau und Bonn, zitieren, der in seinem Werk „Der deutsche Staat. Verfassung, Macht und Grenzen“ geschrieben hat: „Das Ganze stellt sich als ein von der Nordsee in den Kontinent vorgeschobener Sack dar.“
„Ein Ausländer, nachdem er Deutschland bereist hatte, wurde, so erzählt eine Anekdote, befragt, wie denn nun die Deutschen so seien. ‚Wissen Sie‘, antwortete der Befragte, ‚Sie brauchen sich nur in Deutschland morgens zwischen sieben und acht Uhr an eine Hauptverkehrsstraße einer x-beliebigen Stadt zu stellen: was da an Ihnen vorüberrauscht und in welcher Weise, zeigt Ihnen erschöpfend, womit Sie es bei den Deutschen zu tun haben.‘ (…) Der todernste Fanatismus, mit dem man nach Hause jagt, entspricht dem todernsten Fanatismus, mit dem man morgens an seinen Arbeitsplatz jagt, während man im Ausland nach der Arbeit ein wenig bummelt, noch in ein Café oder eine Bar (…) geht (…). Der Deutsche aber rast zu seiner nächsten Pflicht, genannt Familie, heute meist ersetzt durch den Fernsehapparat.“ (Hans Eberhard Friedrich: Deutschland)
Dem ist nichts hinzuzufügen. Oder doch? Zum Beispiel dieser Interviewausschnitt aus dem Jahr 2013:
„Frage: Warum rebelliert die Jugend nicht gegen die öffentliche Verblödung?
Bernhard Heinzlmaier (Jugendforscher): Weil man als blöder Mensch gut leben kann, solange die wirtschaftliche Situation gut ist. Die hohe Attraktivität der Konsumangebote bindet die Energie der Jugend und löst ihre Kritik auf.“
Und zum Abschluss noch ein Zitat aus dem Jahre 1959, das immer noch aktuell ist: „Das heranwachsende Mädchen will vor allem zur Gruppe gehören. In der Gruppe erhält es das Gefühl der Sicherheit, das es so dringend braucht. (…) Mädchen wollen sich den Normen weiblicher Schönheit anpassen, wie sie im Film und von Fotomodellen gezeigt werden. In ihrem Streben nach der idealen Gestalt machen sie vielleicht Abmagerungskuren.“ (Janet L. Wolff: Kaufen Frauen mit Verstand? Ein Leitfaden zum Verständnis der Frau von heute und zur Beeinflussung ihrer Kaufwünsche)
Amii Stewart - Knock On Wood. https://www.youtube.com/watch?v=8I9PIaPWTjI

Weiterbildung für Blogger

Die Formulierung "Die Grünen sind ein Pädophilen-Swinger Club, der nur aus Steuergründen als Partei aufgezogen wurde" verstößt gegen das Presserecht und könnte eine Unterlassungsklage oder eine Abmahnung oder sonst was Juristisches nach sich ziehen. Schreiben Sie also lieber: „Die Grünen wehren sich gegen die Behauptung, ein Pädophilen-Swinger Club zu sein, der nur aus Steuergründen als Partei aufgezogen wurde“ oder „Es gibt Leute, die behaupten, dass die Grünen ein Pädophilen-Swinger Club seien, der nur aus Steuergründen als Partei aufgezogen wurde“.
Blogger, die sich mit Ihren Meinungen und Berichten an die Öffentlichkeit wenden, fallen unter das Presserecht. Satire darf bekanntlich nicht alles, sondern endet an den Hausnummern 186 (üble Nachrede), 187 (Verleumdung) und 192 (Formalbeleidigung).

Alte Sprichwörter 2 - Europa

Frankreich
Die heimlichen Diebe sind auf den Galeeren, die öffentlichen Diebe in den Palästen.
Drei Dinge lassen sich nur bei drei Gelegenheiten erkennen: die Kühnheit in der Gefahr, die Vernunft im Zorn und die Freundschaft in der Not.
Wer streng auf seine Gesundheit achtet, dem steht der Tod schon vor der Tür.
Junge Leute reden von dem, was sie tun, Alte von dem, was sie getan haben, und Narren von dem, was sie zu tun vorhaben.
Wer sich selber kennt, achtet sich selber als den Geringsten.
In dieser Welt gibt es nichts Sichreres als den Tod und die Steuern.
Wir trinken, ohne durstig zu sein, und betreiben die Liebe zu jeder Zeit; das ist der einzige Unterschied zwischen uns und den anderen Tieren.
Polen
Wer dumm von Geburt ist, kauft sich auch in Paris nicht Verstand.
Die Gesetze sind wie Spinnweben; die großen Hummeln brechen durch, die Fliegen aber bleiben hängen.
Heirate, und du bist wohlauf für eine Woche; schlachte ein Schwein, und du bist wohlauf für einen Monat; werde Priester, und du bist versorgt für’s ganze Leben.
Reichtum gebietet, Tugend weicht ihm.
In böser Zeit sind Freunde weit.
Russland
So, wie du deinem Freund einschenkst, musst du selber trinken.
Wenn der Himmel Milch regnen ließe, hätten nur die Reichen Krüge, um sie einzufangen.
Liebe ist ein Glas, das zerbricht, wenn man es zu unsicher oder zu fest fasst.
Gehe schnell und du wirst das Unglück einholen; gehe langsam und es holt dich ein.
Dem Vogel ist ein einfacher Zweig lieber als ein goldener Käfig.
Schweden
Advokaten und Soldaten sind des Teufels Spielkameraden.
Keiner wird je so alt, dass er nicht glaubt, noch etwas länger leben zu können.
Besser, eines Armen Frau als Sklavin eines Reichen.
Jeglicher gute Rat kommt immer hinterher.
Der Teufel hat mehr als zwölf Apostel.
Spanien
Ein Armer und ein Kardinal enden beide auf die gleiche Weise.
Weil er dachte und weil er meinte, ist er zu Madrid am Galgen gestorben.
Wer nicht raucht und auch nichts trinkt, der ist schon auf andere Art dem Teufel verfallen.
Willkommen, Unglück, wenn du allein kommst.
Ein Unrecht hinnehmen, zieht ein anderes nach sich.

 
Je weniger Verstand einer hat, umso weniger merkt er den Mangel. (englisches Sprichwort)
Geiz wird nicht satt, bevor er nicht den Mund voll Erde hat. (holländisches Sprichwort)
Der Reiche und das Schwein werden nach ihrem Tod hoch geschätzt. (ukrainisches Sprichwort)

 
(Aus: Karl Rauch (Hrsg.): Sprichwörter der Völker, 1963)

 
Amelita Galli-Curci - Home Sweet Home. https://www.youtube.com/watch?v=Y3xBLGrRSqk

Donnerstag, 28. Mai 2015

Neue Atombomben in meiner Nachbarschaft

"Guck mich gefälligst an, während ich dich ignoriere!" (Ada Blitzkrieg)
Die USA stationieren gerade neue Atombomben in Rheinland-Pfalz. Zwanzig Bomben lagern in den Bunkern des Fliegerhorstes Büchel in der Eifel. Was macht unser aller Dornröschen im Kanzleramt? „Weder werde die Regierung über Stationierung und Modernisierung der Atombomben in Deutschland informiert, noch wolle sie selbst etwas von den USA dazu wissen.“ Immerhin berichtet rp-online – bei BILD oder SPION, äh: SPON lese ich dazu nix. Den folgenden Artikel habe ich von Nina Hagen über Facebook bekommen:
http://www.rp-online.de/politik/deutschland/neue-atomwaffen-in-deutschland-aid-1.4272603
The Police - Bombs Away. https://www.youtube.com/watch?v=55xaWhhT98E

Alte Sprichwörter 1 - Deutschland

Ehrgeiz und Geldgeiz ist ein Brunnen allen Übels.
Wo ein Adler nicht fort kann, findet eine Fliege noch zehn Wege.
Amtleute geben dem Herrn ein Ei und nehmen dem Bauern zwei.
Wenn das Arbeiten nur leicht wär, tät’s der Bürgermeister selber.
Armut ist aller Künste Stiefmutter.
Gott lässt genesen, der Arzt kassiert die Spesen.
Aushorcher und Angeber sind Teufels Netzeweber.
Überm vollen Bauch lächelt ein fröhliches Haupt.
Ein Bauer zwischen zwei Advokaten ist ein Fisch zwischen zwei Katzen.
Im Becher ersaufen mehr Leute als im Bach.
Der Bettler schlägt kein Almosen, der Hund keine Bratwurst, der Krämer keine Lüge aus.
Besser eignes Brot als fremder Braten.
Verlöre, wer die Ehe bricht, flugs seine Nase im Gesicht, so könnten viele Teller schlecken, statt ihre Nas‘ in alles stecken.
Wenn man mit Geld anklopft, so springt die Tür allein auf.
Wenn man Deutsche verderben will, ruft man Deutsche dazu.
Eigenlob stinkt, Freundeslob hinkt, Feindeslob klingt.
Eigennutz erwürgt auch den Freund.
Iss, trink, sei fröhlich hier auf Erd‘; denk nur nicht, dass es besser werd.
Geld an sich ist weder bös noch gut; es liegt immer an dem, der’s brauchen tut.
Wenn man die Gerechtigkeit biegt, bricht sie.
Nicht was uns wert, was fremd und neu, darüber machen wir großes Geschrei.
Bei großem Gewinn ist großer Betrug.
Hinter dem Gitter schmeckt auch der Honig bitter.
Das Glück ist eine blinde Kuh und läuft dem dümmsten Ochsen zu.
Wenn Gold redet, schweigt alle Welt.
Gescheite Hähne frisst der Fuchs auch.
Heute ist die beste Zeit.
Das Ich und Mich, das Mir und Mein regiert in dieser Welt allein.
Das Leben ist ein Irrlicht, ein Windstoß der Tod.
Die Leute sagen immer, die Zeiten werden schlimmer. Die Zeiten bleiben immer, die Menschen werden schlimmer.
Der größte Schritt ist der aus der Tür.
Wenn die Sonne auf einen Misthaufen scheint, so antwortet er mit Gestank.
Lediger Stand hat Ruh im Land.
Wer stirbt, hat ausgelernt.
Wenn die Sintflut kommt, wollen alle Fische werden.
Die Wahrheit ist ein selten Kraut, noch seltner, wer es gut verdaut.
Freier Mann hasst allen Zwang.
(Aus: Karl Rauch (Hrsg.): Sprichwörter der Völker, 1963)
E.L.O. - Don't Bring Me Down. https://www.youtube.com/watch?v=bl3iS0VCJ1Q

Das Recht des Stärkeren

„Die USA haben seit der japanischen Kapitulation 1945 keinen größeren militärischen Erfolg mehr gehabt – trotz durchdringender Militarisierung.“ (Norman Birnbaum)
Die Vereinigten Staaten sind unbestritten ein gewalttätiges Land. Die Wahrscheinlichkeit, einem Mord zum Opfer zu fallen, ist in den USA fünf Mal höher als in Deutschland. Wenn wir in den Nachrichten von einem Dreijährigen hören, der jemanden erschossen hat, denken wir sofort an dieses Land. Und haben immer Recht. Nicht nur die Gesellschaft ist gewalttätig, auch die Politiker greifen zu Mitteln der Gewalt, um ihre Interessen international durchzusetzen. Entweder führen US-Präsidenten direkt Krieg (Koreakrieg, Vietnamkrieg, zweiter und dritter Golfkrieg, zweiter Afghanistankrieg usw.) oder indirekt (erster Afghanistankrieg, erster Golfkrieg usw.). Aktuell führen sie in vielen Ländern einen Krieg mit ferngesteuerten Bomben (Drohnenkrieg). Missliebige Politiker versucht man mithilfe der CIA zu ermorden (Fidel Castro von 1960 bis 1964, „Operation Mongoose“) oder abzusetzen (Pinochet-Putsch in Chile – übrigens an einem elften September). Waffen und Gewalt spielen eine große Rolle in der Welt der US-Amerikaner.
Russland ist unbestritten ein gewalttätiges Land. Journalisten und Oppositionelle werden reihenweise ermordet. Unabhängigkeitsbewegungen werden gewaltsam unterdrückt (Tschetschenien). Gewalt ist ein Mittel der Außenpolitik: Ukraine. Aber an diesem Punkt ist der Einsatz von Gewalt nicht nur graduell, sondern substantiell anders als in den USA. Die USA hätten ein Land wie die Ukraine längst bombardiert und dann besetzt. Auch Russland besitzt diese Möglichkeit. Putin geht zur Durchsetzung seiner Interessen jedoch anders vor. Durch den Bürgerkrieg im Osten der Ukraine, durch wirtschaftliche Sanktionen und die Annexion der Krim hat er den Gegner verwundet. Die Ukraine unter der Herrschaft des Schokoladen-Oligarchen und Polit-Amateurs Poroschenko ist angeschossen, aber nicht tot. Mit der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen hat man das Land zudem im Würgegriff. Man massakriert auch nicht die Zivilbevölkerung durch Bombardements, wie es die Amerikaner tun würden, sondern vertreibt sie. Und jetzt schaut man in Ruhe zu, wie die Ukraine ökonomisch, sozial und politisch den Bach hinunter geht. Russland wartet, dass sich die westlichen Verbündeten der Ukraine angewidert von diesem verwundeten Land abwenden, dessen Jammern und Klagen wir täglich in den Ohren haben. Es ist eine alte militärische Taktik: Verwunde einen gegnerischen Soldaten und warte, bis dessen Hilferufe den Gegner mürbe machen. Niemand kann sich in die Gefahr begeben, der Ukraine zu helfen. Niemand will für den Verwundeten sein Leben riskieren. Die Zeit spielt für Putin. Wir werden den Anblick des verletzten Landes nicht mehr lange ertragen und uns von der Ukraine abwenden. Niemand spricht mehr von einer EU- oder NATO-Mitgliedschaft.
Die alten Supermächte des zwanzigsten Jahrhunderts haben die Welt immer noch im Griff. Den anderen Staaten bleiben nur das Völkerrecht, die Vereinten Nationen und anderes Spielzeug aus dem politischen Kindergarten. Es gilt – wie seit Anbeginn der Zeit – das Recht des Stärkeren.
P.S.: Längst vergessen ist, dass die USA einmal direkt Krieg gegen Russland geführt haben. Folgendes Zitat ist aus dem Buch „Die Weltbeherrscher – Militärische und geheimdienstliche Operationen der USA“ von Armin Wertz (nach: NachDenkSeiten). “Plötzlich sahen die Alliierten die Möglichkeit, die kommunistische Herrschaft in Russland zu beseitigen, ehe sie sich festigen konnte. Im Juli 1918 landeten zwei japanische Divisionen (30.000 bis 40.000 Mann), 7.000 Amerikaner, zwei britische Bataillone, 3.000 Franzosen und Italiener in Wladiwostok (…). Zur selben bekämpften Polen, Litauen, Lettland und Estland die sowjetische Regierung an der westrussischen Front und drangen bis Kiew vor. Zugleich hatten sich in Murmansk und Archangelsk 12.000 Mann britischer, verbündeter und 5.000 amerikanischer Truppen verschanzt. (…) Als die Niederlage der Alliierten und der weißrussischen Armee gegen Ende des Jahres 1919 nicht mehr aufzuhalten war, versetzte die New York Times ihre Leser in Angst und Schrecken mit Schlagzeilen wie ‘Rote wollen Krieg mit Amerika’ (…) Die USA erkannten die UdSSR erst 1933 diplomatisch an.”

Mittwoch, 27. Mai 2015

Der Mann, der Berlin verkaufte

„Ein Held kann man sein, auch ohne die Erde zu verwüsten.“ (Nicolas Boileau-Despréaux)
Wer weiß, wie die deutsche Geschichte verlaufen wäre, hätte es diesen Mann nicht gegeben? Preußen wäre vermutlich nicht zur Großmacht aufgestiegen. Keine Hohenzollern-Dynastie, kein ehrgeiziger Profilneurotiker, der Deutschland und die Welt in den Ersten Weltkrieg stürzt. Und die Flagge des Freistaats Bayern würde auch an der Spree und der Oder wehen. Berlin - eine bayrische Metropole. Was für eine Vorstellung. Oder aus Berlin wäre erst gar keine Metropole geworden, sondern eine bayrische Provinzstadt. Ein märkisches Passau. Aber es ist alles anders gekommen.
Berlin wurde von einem Mann verkauft, dem das Geld und das schöne Leben lieber gewesen sind als das Regieren eines störrischen Völkchens am Rande des Reiches. Sein Name: Otto der Faule. Er war der jüngste Sohn Ludwigs des Bayern, der als deutscher Kaiser die Mark Brandenburg erworben hatte, nachdem die im Osten herrschenden Askanier ausgestorben waren. Berlin und Brandenburg waren also im Besitz der Wittelsbacher, die bekanntlich von 1180 bis 1918 das Königreich Bayern regiert haben. Otto der Faule trug seinen Namen nicht zu Unrecht, er galt als träge und hedonistisch, fress- und sauflustig. Im Jahre 1373, sein Vater war schon lange tot, verkaufte er Brandenburg und damit auch Berlin für 500.000 Gulden an den Kaiser Karl IV.
Solchermaßen mit Reichtümern gesegnet beschloss Otto der Faule im Alter von 27 Jahren, fortan das Leben als Frührentner zu genießen. Auf Schloss Wolfstein in Landshut beendete er sein Luxusleben – nur sechs Jahre später. Sein Denkmal stand von 1899 bis 1945 an der ehemaligen Siegesallee im Berliner Tiergarten – vom Volksmund „Puppenallee“ genannt -, seit einigen Jahren lagert es in der Zitadelle Spandau. Berlin sollte diesem Müßiggänger noch heute dankbar sein. Ohne seine sympathische Bocklosigkeit würde jetzt Horst Seehofer mit seiner CSU in Stadt und Land herrschen. Wie wäre es mit einem neuen Denkmal für Otto den Faulen in SO 36?
Ideal - Frau mit Geld. https://www.youtube.com/watch?v=Yy7iZveG3u0
P.S.: „Kritische und satirische Blätter wie Kladderadatsch, Simplicissimus oder Lustige Blätter nahmen das Thema dankbar auf. Insbesondere die Darstellung Ottos des Faulen aus dem bayerischen Haus Wittelsbach beflügelte die Karikaturisten. Adolf Brütt hatte den Markgrafen der Jahre 1365 bis 1373 ‚in ziemlich lascher Haltung und mit herunterhängenden Augenlidern, kurz mit blödem Gesicht‘ dargestellt. Durch diese Darstellung fühlten sich einige Bayern angegangen, die eine Stichelei des preußischen Künstlers argwöhnten.“ (wikipedia: Siegesallee)

Dienstag, 26. Mai 2015

Diaspora 2015

Wir haben nicht den Hauch einer Ahnung, welche Kulturen gerade im Nahen Osten zerstört werden. In den Medien haben wir von den Jesiden gehört, eine Kultur und Religion, deren Auslöschung durch den IS droht. Aber kennen Sie auch die Mandäer?
Möglicherweise haben Sie schon einmal von Johannes dem Täufer gehört, der Jesus von Nazareth getauft hat. Die Mandäer haben damals diesen Jesus für den falschen Erlöser gehalten und Manda d-Haije für den richtigen. Auch er wurde von Johannes getauft. Der Nahe Osten hatte zur Zeit der römischen Besatzung keinen Mangel an Erlösern. Sie sind im Vergleich mit den Christen bis heute eine Minderheit geblieben. Es gibt keine hunderttausend Menschen, die diesem Glauben folgen. Ihre Religion enthält jüdische und christliche Elemente wie die Zehn Gebote oder die Taufe.
Im Irak gibt es nur noch etwa 5.000 Mandäer. 15.000 leben in Europa verstreut, 5.000 in Australien, etwa 3.000 in Nordamerika, viele andere in Syrien, Ägypten, Jordanien, Jemen, Thailand und im Libanon. Die Gemeinschaft ist offenbar zu klein, um jemals dem Adlerauge unserer medialen Aufmerksamkeit aufzufallen. Sorry, ich wollte auch nicht weiter stören, sicherlich haben sie etwas Besseres zu tun, als ausgerechnet jetzt über diese Mandäer nachzudenken. Geht mir ja genauso.

Kommando Petra Kelly

Die fundamentalistische Guerillaarmee IS erobert gerade weite Teile von Syrien und Irak. Worüber berichten die deutschen Medien in diesem Zusammenhang? Das UNESCO-Weltkulturerbe Palmyra, die Ruinen einer antiken Stadt, sei bedroht – und die letzten drei Waldrappe, eine in Syrien seltene Vogelart. Das bisschen Krieg, Massenmord, Sklaverei und Vergewaltigung kann da schon mal unter den Tisch fallen. Mitleid haben wir mit Tieren und Steinen – nicht mit den Opfern oder gar den Kriegsflüchtlingen, die an unsere Tür klopfen.
Wir sollten an diesem Punkt mit typisch deutscher Gründlichkeit und erbarmungsloser Konsequenz weiterdenken. Wir stellen ein Kommando aus erfahrenen Kämpfern für den Umweltschutz zusammen und lassen es vom amerikanischen Militär nach Palmyra bringen. Wir holen die drei gänsegroßen Schreitvögel mit den hässlichen Gesichtern da raus! Vielleicht können wir sogar noch ein paar Eier retten. Wie süß … Wir bringen die Tiere in einen deutschen Zoo. Vielleicht irgendwo in Sachsen, das mit der Erfüllung seiner Flüchtlingsquote einige Probleme hat. Der Bundespräsident erscheint persönlich und übernimmt eine Tierpatenschaft.
Wir tun etwas für Mutter Natur – und beweisen nebenbei, wie gut wir Deutschen doch sind.
P.S.: Für die jüngeren Leser: Petra Kelly war eine prominente Grünen-Politikerin der ersten Stunde. Sie wurde von ihrem Lebensgefährten, dem Panzergeneral Gert Bastian, 1992 erschossen.

Blogstuff 3

„An meine Kritiker: Ihr solltet euch nicht über einen Mann lustig machen, der die Titten einer Vierzehnjährigen und das Einkommen eines Zehnjährigen hat.“ (Johnny Malta, Hausvawalta)
Ein junger Hund ist zum ersten Mal am Strand. Er rennt fröhlich bellend ins unbekannte Meer, dann beißt er in eine Welle und merkt, dass Salzwasser nicht schmeckt. Er wedelt mit dem Schwanz und springt in die nächste Welle. Hund müsste man sein.
Riesige Gebäude, überladen von der barocken Pracht ihrer Verzierungen, schwarz geworden vom Ruß der Zeit. Riesige Zahnräder drehen sich mit majestätischer Langsamkeit an ihren Fassaden und greifen blind ineinander. Im Zeitalter der Mechanik war es die Hauptstadt der Welt, jetzt drängen sich Touristenmassen durch die herrliche alte Kulisse. Jede Straßenkreuzung bietet einen neuen Ausblick. Wenige Schritte weiter ist das Meer, riesige Felsen ragen ins Wasser, die an Land nahtlos in Paläste übergehen, in deren Erdgeschoss überfüllte Speiselokale wie Bienenkörbe summen.
Am Kaffeehaustisch werde ich von einem Spatz angesprochen. Ob ich einige Brotkrümel erübrigen könne. Ich bin so freundlich, sie ihm augenblicklich hinzustreuen. Er bedankt sich artig und beginnt zu essen.
In den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben die Reichen die Stadt verlassen und sind nach Suburbia gezogen. Dort haben sie sich schöne Häuser gebaut und ihre Kinder großgezogen. Der nächsten Generation der Reichen ist Suburbia zu langweilig geworden. Sie haben dort ihre Kindheit und Jugend verbracht, jetzt wollen sie in die Stadt. Also kaufen sich die Reichen ganze Innenstadtviertel und verwandeln sie in ihre Spielwiese, beispielsweise den Prenzlauer Berg oder Friedrichshain in Berlin. Die einstigen Bewohner der Innenstadt können aber nicht nach Suburbia ausweichen, weil sie sich die Häuser gar nicht leisten können. Inzwischen leben sie in der Welt zwischen angesagtem Zentrum und gepflegter Einfamilienhausgegend, in den riesigen Wohnsilos der Nachkriegszeit irgendwo am Stadtrand.
Es ist immer wieder ein erschütternder Anblick, wenn ich sehe, wie Proletarier ihre eigenen Kinder anschreien, misshandeln und erniedrigen. Es ist, als sei die Erniedrigung das einzige Erbe, das sie weitergeben können. Und so bringt die Knechtschaft immer wieder neue Knechte hervor.
Berlin-Erinnerung: Das waren noch Zeiten, als an der Gedächtniskirche langhaarige Weltuntergangspropheten herumstanden und keine Touri-Massen und Souvenirstände. Sie konnten dir sogar genau das Datum sagen, an dem das Ende der Welt kommen würde. Was soll ich sagen? Sie haben alle Recht behalten.
Wenn auf einem Produkt, sagen wir mal: auf einer Plastikflasche „Müllmilch“, steht, die Flüssigkeit habe Erdbeergeschmack, heißt das noch lange nicht, dass auch Erdbeeren bei der Herstellung verwendet wurden. So ähnlich ist das mit dem „christlich“ in CDU, dem „sozial“ in SPD und dem „demokratisch“ in beiden Parteinamen.
Joggen passt als Sport in unsere Zeit: man kann es alleine machen - und man muss dabei nicht nachdenken.
The Police - Does Everyone Stare. https://www.youtube.com/watch?v=23ezwcimGNY
P.S.: Kann sich noch jemand erinnern? In meiner Kindheit trugen Autofahrer Handschuhe aus feinem Leder. Eine alte Tradition aus den Zeiten der Kutscher? Jedenfalls ist sie Ende des vergangenen Jahrhunderts erloschen.

Montag, 25. Mai 2015

Eine Reise ins Berlin des Jahres 1969

„Wie ein Treppenwitz der Weltgeschichte mutet es an, dass gerade unser Volk von nichts so liebevoll schwärmt wie von der Gemütlichkeit, die ihm in Wirklichkeit so fernliegt wie kaum einem anderen Volk. Auf Schritt und Tritt möchte man bei uns gemütlich sein, und ist doch auf Schritt und Tritt so ungemütlich wie kaum ein anderes Land der Erde!“ (Hans Eberhard Friedrich: Deutschland)
Während ich darauf warte, dass der Gruyère im Ofen auf meinem Kartoffelgratin (sprich: Gratäng!) schmilzt, schlendere ich durch das Esszimmer in die angrenzende Bibliothek. Ich stöbere ein wenig in den Regalen. Und was finde ich? Einen Deutschland-Reiseführer aus fernen Tagen. Im allgemeinen Teil wird die Wechselhaftigkeit des deutschen Wetters beklagt und wir erfahren, „dass der schönste deutsche Reisemonat der September zu sein pflegt“. Offensichtlich war die alte Bundesrepublik so reich wie die neue: „Da man in Deutschland alles zu kaufen bekommt, was man sich wünscht (außer dem, ‚was nicht gefragt ist‘, wie zumeist die alberne Antwort lautet, wenn man in einem Geschäft etwas verlangt, was es nicht hat), so braucht man eigentlich nur Geld mitzunehmen.“ Wie erfreulich! Ich blättere weiter: Berlin.
Damals bestand die Stadt nicht nur aus Zugereisten, die Hauptstadt spielen, sondern aus Menschen, die eine bestimmte Mentalität, einen typischen Charakter, eine „Eigenart“ hatten: eine „Mischung aus ruheloser Vitalität mit ‚jemütlichster Jelassenheit‘, aus einer unaufdringlichen, selbstverständlichen Korrektheit und Pflichterfüllung mit lässiger ‚Wurschtigkeit, aus blitzgescheiter, schnellauffassender Nüchternheit mit einer rührend naiven ‚Gefühligkeit‘.“ Das Kapitel „Berliner Menschen“ beginnt mit der Formulierung: „Charakteristisch für Berlins Atmosphäre waren früher in hohem Maße seine Frauen, die flotten, wortgewandten, kessen“.
Es ist 1969, Berlin ist geteilt, und der Autor schreibt, „dass der Lebensatem der großen, verwundeten Stadt doch recht kurz und schwach geworden ist.“ Das Wirtschaftswunderland im Westen hat seine alte Hauptstadt offenbar vergessen. „Herzensträgheit“ wirft er seinen westdeutschen Lesern vor und droht ihnen unverhohlen: „Diejenigen, die dort geblieben sind, werden es den eifrigen Rückkehrern und Geschäftemachern eines Tages nicht leichtmachen, zumindest nicht, was das Herz angeht, wenn Berlin wieder Hauptstadt geworden ist – und wer möchte, trotz Bonn und seiner pompösen Bauten, daran zweifeln?“
Die Berliner Architektur ist von der „Geschmacklosigkeit“ der spätwilhelminischen Epoche geprägt, deren Symbol die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in der West-City ist. „Wüste Neoromantik“. Treffer, versenkt! „Zu ihrer beunruhigenden Leblosigkeit trägt ihr massiver, heute etwas düsterer Wohlhabenheitscharakter von einst bei“. Wer schreibt heute noch solche Reiseführer? Keine Adressen, keine Öffnungszeiten, keine „heißen Tipps“. Dafür seitenlange Schilderungen der Stadt und ihrer Geschichte, die einmal die größte Industriestadt und der größte Binnenhafen Europas war. „ Das wahre Hinterland Berlins war nicht die märkische Umgebung, sondern war ganz Deutschland, das von ihm seine stärksten und anregendsten (…) Impulse erhielt.“
Der einzige Fernbahnhof der einstmals pulsierenden Metropole ist der Bahnhof Zoo, „der früher nur ein Durchgangsbahnhof für die Ost-West-Verbindung (Schlesischer Bahnhof, Bahnhof Friedrichstraße, Bahnhof Zoo, Bahnhof Charlottenburg) war.“ Und „die Reisenden unterliegen der volkspolizeilichen Kontrollen in der Sowjetzone: er atmet kein Fernweh, er ist kaum mehr vom Weltverkehr erfüllt.“ Dafür hat West-Berlin inzwischen mit Tempelhof einen Flughafen, „den freilich nur wenige internationale Luftlinien anfliegen. Irgendwie besitzt der Flugverkehr auch nicht jene unaussprechliche Atmosphäre, die die großen Bahnhöfe erfüllt.“ Wohl gesprochen, guter Mann!
Er zitiert einen noch älteren Reiseführer, in dem es über die Stadt Leipzig unter der Rubrik „Was tut man am Abend?“ so schön heißt: „Man besteigt einen D-Zug und fährt nach Berlin.“ Der echte Berliner, so erfahren wir, bleibt jedoch am Abend zu Hause. „Das Berliner Nachtleben schien im Wesentlichen für die Provinz und für die Ausländer da zu sein.“ Der Berliner hat in seiner Straße genug Unterhaltung – seiner Schlagfertigkeit, seines Mutterwitzes und seiner Kessheit sei Dank. O-Ton 1969: „Wat denn, wat denn, nu ma sachte! Du hast woll schon lange nich mehr aus nem Krankenhausfenster rausjekiekt, wa?“
Was soll man sich in Berlin anschauen? Der Autor rät von Ku’damm und der Siegessäule, „die trotz ihrer Hässlichkeit ein Wahrzeichen Berlins geworden ist“, ab, lobt jedoch das Shell-Haus (mein Berliner Lieblingsgebäude! Habe nebenan ein paar Jahre gearbeitet), die Gedenkstätte Plötzensee und die Ruine des Anhalter Bahnhofs. Man solle sich den Grunewald und seine Seen anschauen, Lübars, die Vielfalt der Berliner Fassaden erbummeln und auch mal den „neuen“ Teilen Berlins wie der Gropiusstadt oder dem Märkischen Viertel einen Besuch abstatten. Den Reichstag und wenigstens ein Schloss sollte man besichtigen und vom Springer-Hochhaus einen Blick auf die Grenzanlagen der Berliner Mauer werfen. Insgesamt sei Berlin „ein unerhörtes Konglomerat von Stilversuchen“. Zu allen Zeiten habe man versucht, der Stadt architektonische Symbole zu verpassen – wovon sich die unerschütterliche Stadt aber nicht unterkriegen lasse.
Hans Eberhard Friedrich, der von 1928 bis 1941 selbst in Berlin gelebt hat, schreibt mit unverhohlenem Pathos: „Wenn eines Tages Berlin wieder die Hauptstadt Deutschlands sein wird, so werden die etwas treulosen Bundesdeutschen mit dem gleichen Eifer dorthin eilen, wie sie es früher getan haben, und werden sich bei den Berlinern beliebt zu machen suchen, indem sie bewundernd erklären, was sie, die Berliner, doch für tüchtige Kerle seien. So aber, wie ich die Berliner kenne, werden sie dann nicht nachtragend sein, sondern mit derbem Humor antworten: ‚Rutsch mir den Buckel lang!‘“
P.S.: Zwei Zitate noch aus der Einleitung des Reiseführers „Deutschland“. Erstens „übertrumpft bei uns Deutschen das Großsprecherische, das Marktschreierische nur zu oft die bescheidene Größe, die zurückhaltende Anonymität aller derjenigen, die eigentlich das geschaffen haben, was dieses, unser so problematisches Deutschland zu einem unbegreiflich wunderbaren Erlebnis macht“. „Und zu zwei Dingen fordert Deutschland geradezu heraus: Zum Wandern und Spazierengehen, also zum stillen Genuss der Natur, und zum Ferienmachen mit Kindern“. Nächsten Monat fahre ich wieder nach Franken – und dann nach Berlin.
P.P.S.: Im Buch wird auch eine Meinungsumfrage aus dem Jahr 1968 zitiert, die in West-Deutschland durchgeführt wurde. 62 Prozent der Befragten hielten die Berliner für humorvoll - aber nur 12 Prozent glaubten, ihre eigenen Landsleute hätten Humor. Die Bundesbürger schätzen die Berliner damals als schlagfertig (62 Prozent, BRD: 7 Prozent), politisch interessiert (59 Prozent, BRD: 30 Prozent) und aufgeschlossen (50 Prozent, BRD: 26 Prozent) ein. Nur ein Prozent der Befragten beurteilten die Berliner als „satt und träge“ – gegenüber 42 Prozent, die sich selbst dieses Etikett gaben.
Fischer-Z – Berlin. https://www.youtube.com/watch?v=jkkYsG8Z9do

Sonntag, 24. Mai 2015

Adolf Heusinger

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs setzten die Nazis den sogenannten „Volkssturm“ ein, in dem alle Männer zwischen 16 und 60 Jahren dienen mussten. Die Idee zu diesem Wahnsinn hatte Adolf Heusinger, der in Hitlers Generalstab als Chef der Operationsabteilung im Oberkommando des Heeres diente. Er stand direkt neben Hitler, als am 20. Juli 1944 die Bombe explodierte, die den Diktator töten sollte. Ab 1948 war er Mitarbeiter des Nachrichtendienstes „Organisation Gehlen“ seines ehemaligen Mitarbeiters Reinhard Gehlen. In der jungen Bundesrepublik wurde Heusinger 1950 Berater von Bundeskanzler Adenauer und 1955 einer der ersten Generäle der frisch formierten Armee Westdeutschlands. 1957 wurde er der erste Generalinspekteur der Bundeswehr. Von 1961 bis 1964 war er Vorsitzender des Militärausschusses der NATO in Washington, D.C. Die Sowjetunion verlangte vergeblich seine Auslieferung aufgrund seiner Kriegsverbrechen.
1982 starb er im Alter von 85 Jahren. Eine blitzsaubere Nazi-Karriere, die ihn bis in die Bundeswehr und die NATO geführt hat. Noch heute gibt es bei der Bundeswehr den Adolf-Heusinger-Preis, mit dem jährlich ein Teilnehmer des Generalstabslehrgangs an der Führungsakademie der Bundeswehr für hervorragende Leistungen geehrt wird, und die Adolf-Heusinger-Kaserne in Hammelburg.

Das Problem des Journalismus

„Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustand der Bändigung und Zähmung.“ (Arthur Schopenhauer)
Der Journalismus und die Kritik am Journalismus spiegeln die aktuelle gesellschaftliche Lage wider. Die Gesellschaft zerfällt, nicht nur materiell in diverse Statusgruppen, nicht nur in verschiedene Religionen, Kulturen und Subkulturen, sondern auch in ihren politischen Einstellungen in ein Nebeneinander von Meinungen und Argumentationsketten. Man nennt das Pluralismus. Individualismus ausdefiniert bedeutet eben: Es gibt Menschen, die an Gott glauben, und Atheisten, es gibt Menschen, die an unterschiedliche Götter glauben, und Atheisten, die aus ihrer Erkenntnis unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen, es gibt Fleischesser und Tierfreunde, es gibt fleischessende Tierfreunde, es gibt Amerikaversteher und Amerikahasser, es gibt Fallschirmspringer und Menschen mit Höhenangst, und ich könnte jetzt ewig so weiter machen. Alle zusammen bilden die sogenannte „pluralistische Gesellschaft“, die ich noch aus dem Soziologiestudium kenne. Das ist auch kein Problem, solange man es akzeptiert, dass andere Leute auch andere Einstellungen haben.
Genau hier fängt das Problem an: Die Gesellschaft ist inzwischen soweit zerfallen, dass die Akzeptanz fremder Meinungen schwindet. Man hört sich die Argumente der Andersdenkenden nicht mehr an, man verhöhnt sie. Über Menschen mit einer anderen Meinung macht man sich einfach hemmungslos lustig oder man reagiert aggressiv. Du kritisierst die israelische Siedlungspolitik der konservativen Regierung in Jerusalem? Dann bist du ein Antisemit. Du gehörst in die Nazi-Schublade. Du kritisierst die Massentierhaltung und die damit verbundene Tierquälerei? Dann bist du ein Öko-Spinner mit Birkenstockzwang und trägst einen Aluminiumborsalino, weil du dich vor den Psychostrahlen der kapitalistischen Raumstationen schützen willst. Im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland unterstützt du nicht vorbehaltlos die Ukraine wie unsere Regierung? Dann bist du die fünfte Kolonne Moskaus. Du sprichst von „Lügenpresse“? Rechter Honk von der Pegida. Gegen die Freihandelsabkommen mit den Amis? Linker Honk ohne Ahnung von Wirtschaft. Muslim? Terrorist! Und so weiter. In Sekundenbruchteilen kläffen wir uns reflexartig unsere Vorurteile ins Gesicht, ob wir nun Journalist sind oder nicht. Wir diskutieren nicht mehr miteinander, wir haben feste Meinungen und billigste Polemik. Oder hat jemals der Teilnehmer einer Fernsehtalkshow seine Meinung geändert? Wir akzeptieren nur noch Informationen, die zu unserem Weltbild passen. Das nennt man in der Fachsprache „Eklektizismus“ oder „selektive Wahrnehmung“.
Auch hier sind die Medien ein Spiegelbild der Gesellschaft. Sie vertreten eine bestimmte Meinung und blenden andere Meinungen aus. Über kritische Leserzuschriften macht man sich entweder lustig oder man verhindert ihre Veröffentlichung. Die sogenannten Mainstream-Medien, die großen Fernsehsender und Zeitungen, bilden in ihrer Berichterstattung nur noch einen Teil der pluralistischen Vielfalt der Gesellschaft ab. Darum verlieren sie auch permanent Zuschauer und Leser. Wer seine Meinung – so absurd sie auch sein mag – in diesen Medien nicht mehr wiederfindet, wandert ab. Er findet im Internet genug Seiten, auf denen er sich mit Gleichgesinnten treffen kann. Viele Medienkonsumenten haben das Gefühl, die Meinungsvielfalt sei zugleich in der Gesellschaft gewachsen und in den Medien gesunken. Früher konnte man sich darauf verlassen, dass die Bild-Zeitung und Der Spiegel in politischen Fragen verschiedene Meinungen vertreten haben. Das ist heute nicht mehr der Fall. Egal, ob man sich die Tagesschau ansieht oder die Süddeutsche Zeitung liest, überall erzählt man uns die gleiche Geschichte: O wie schön ist Amerika und was haben wir doch für eine phantastische Bundesregierung.
Das ist ein bisschen wenig. Dazu kommt noch ein anderer Punkt: Man sollte sich von der Vorstellung verabschieden, dass man Leser und Zuschauer mit Fakten und Argumenten überzeugen kann. Diese Zeiten sind vorbei, in der Öffentlichkeit wie in ihrem Spiegelbild der veröffentlichten Meinung. Der Medienkonsument, der zahlende Kunde, möchte sich mit seiner subjektiven Vorstellung von Wahrheit bei der Lektüre einer Zeitung oder vor dem Bildschirm wiederfinden. Früher hat der linksalternative Leser seine taz gehabt und bekam schon beim Frühstück seine Meinung bestätigt. Der konservative Leser hatte die FAZ und konnte nachlesen, wie die Welt aus seiner Sicht zu beurteilen ist. Beide waren bereits am frühen Morgen zufrieden. Wenn alle Zeitungen und Sender aber das gleiche Narrativ verbreiten, sinkt natürlich die Zahl der Menschen, die sich von diesem Narrativ angesprochen fühlen. Sie gehen dann ins Internet, um wieder das gute Gefühl zu haben, dass man ihre Sicht der Dinge teilt. Dort ist die pluralistische Vielfalt der Meinungen noch intakt und man erhält gratis die Bestätigung, mit seinem Weltbild nicht allein zu sein. Die Mainstream-Medien ähneln inzwischen den Parteien: Sie bilden die Mitte, die Langeweile, den großen Kompromiss, den immer weniger Leute teilen. Und so ist der Journalismus ein Spiegelbild der Gesellschaft: Die Erosion der Verkaufszahlen ist ein Zeichen der Erosion der Gesellschaft. Egal, ob es sich um Gott oder „Wetten, dass …?“ handelt, die Zeit der großen Lagerfeuer ist vorbei. Vielleicht ist Journalist ja ein aussterbender Beruf?
P.S.: In Deutschland kommen noch zwei besondere Aspekte hinzu. Erstens sind die Deutschen, zusammen mit den Japanern, das älteste Volk der Erde (Durchschnittsalter: 46 Jahre). Und alte Leute diskutieren bekanntlich nicht gerne. Sie haben bereits eine Meinung und das schon sehr lange. Zweitens gibt es im Neobiedermeier des Jahres 2015 eine in weiten Teilen entpolitisierte Öffentlichkeit. Die alten Deutschen haben es sich in ihrem Leben bequem gemacht, sie haben ihre liebgewonnenen Gewohnheiten, sie sind unbeweglich geworden. Und politische Debatten sind, wenn man sie ernst nimmt, etwas sehr unbequemes, sie könnten zu Veränderungen führen. Veränderungen möchte man aber nicht. Man hat seinen festen Beruf, seinen festen Wohnort – und eben seine feste Meinung. Die einzige erfolgreiche Neuerscheinung dieses Jahrhunderts war darum „Landlust“ von einem totalen Außenseiter, dem Landwirtschaftsverlag Münster. Verkaufte Auflage im ersten Quartal 2015: 1.065.624 Exemplare pro Ausgabe.
The Doors - Riders On the Storm. https://www.youtube.com/watch?v=DED812HKWyM

News-Update Thai-Story 4

Sie ist da! Er hat sie mit einem bezahlten Flugticket und einer Bürgschaft nach Deutschland geholt. Für zwei Monate. Vielleicht ist sie ja doch die richtige Frau für ihn? Bei Facebook zeigt sie Bilder von einem Stadtbummel in Mainz. Die Überschrift der Bilderserie: „New Life“. Es würde mich freuen. Haben wir sie falsch eingeschätzt? Noch ist die Frage offen. Ich würde gerne den Film vorspulen, aber es ist das echte Leben. Solche Geschichten lassen sich nicht beschleunigen. Hat er sich in den „falschen“ Menschen verliebt? Mein Vokabular wird brüchig, ich kann meine Ahnungslosigkeit noch nicht einmal beschreiben. Wird die Geschichte ein gutes Ende nehmen? Oder wird es hässlich? Und was ist „gut“? Hochzeit, Kinder? Auch dann kann es in ein paar Jahren noch ein böses Ende nehmen. Wir wissen gar nichts über die Zukunft, aber wir schnattern und plappern den ganzen Tag. Schön, dass sich die wichtigen Dinge nie ändern werden. Das nächste News-Update kommt vielleicht erst in einem Jahr …

Samstag, 23. Mai 2015

Waterloo

Heute ist ja wieder dieser unsägliche ESC. Als ich noch jung war – Achtung, Kinder, Grandpa Simpson setzt zu einem seiner gefürchteten Monologe an – hieß die Veranstaltung ja noch „Grand Prix Eurovision de la Chanson“. Auf Französisch klingt eben alles viel besser und damals haben auch noch nicht irgendwelche Heulbojen aus Aserbaidschan mitgemacht. Überhaupt war der ganze Ostblock noch nicht vertreten und die Sendung war noch recht überschaubar. „Douze points“ gab es damals ebenfalls noch nicht, das heutige System der Punktevergabe wurde erst 1975 eingeführt.
Ich erinnere mich noch ganz genau: 1974 habe ich zum ersten Mal zugeschaut. Zusammen mit meiner Oma und meinem Opa im schönen Klingelbach, einem Ortsteil von Katzenelnbogen. Wir saßen auf dem Sofa und ich war stolz, als Achtjähriger so lange aufbleiben zu dürfen. Jedem Lied habe ich eine Note gegeben und auf einem Zettel notiert. Nur die Schweden mit einer damals noch völlig unbekannten Gruppe namens ABBA bekamen von mir eine Eins. Besonders gut gefielen mir, abgesehen von dem Ohrwurm „Waterloo“, die glitzernde sternförmige Gitarre von Björn und die anbetungswürdige Anni-Frid. Also habe ich bei der Punktevergabe ABBA die Daumen gedrückt – und sie haben gewonnen! Ein großer Moment. Trotz meiner jungen Jahre hatte ich offenbar Geschmack bewiesen. Ich hätte Talentscout werden sollen, aber leider ging ich zu diesem Zeitpunkt noch in die Grundschule.
Ich bin dann 1974 allerdings nicht ABBA-Fan geworden, sondern war Anhänger der Gruppe Sweet. 1975 wechselte ich zu den Bay City Rollers und begann, regelmäßig die Bravo von meiner großen Schwester zu lesen. So wurde ich auch nebenbei aufgeklärt, aber das ist eine andere Geschichte. Den letzten Grand Prix Eurovision de la Chanson habe ich 1982 gesehen. Ich sage nur: Nicole. „Ein bißchen Frieden“. Ein bisschen Napalm wäre besser gewesen. Ein Jahr später haben wir sie für die Schülerzeitung interviewt, als sie bei uns in Ingelheim auf dem Rotweinfest aufgetreten ist. Unvergessen die Antwort auf die Frage nach ihrer Lieblingsplatte. Ihre eigene. Sie würde sie immer wieder gerne hören. Damit war ich für den deutschen Schlager und die Friedensbewegung verloren. Ich begann zu trinken, um alles zu vergessen.
Nur 1998 habe ich für den Rheinland-Pfälzer Guildo Horn und seine Band „die orthopädischen Strümpfe“ eine Ausnahme gemacht. Damals war schon die Postmoderne angebrochen, d.h. man hat noch dieselben Sachen gemacht wie früher, aber mit Ironie und augenzwinkernder Selbstbespiegelung. Der Wettbewerb hatte inzwischen einen englischen Namen bekommen: „Eurovision Song Contest“. Im Grunde ging damals der ESC-Hype in Deutschland los, der bis heute anhält. Aber „Guildo hat euch lieb“ schaffte nur den siebten Platz. Das Lied von Conchita Wurst, die im letzten Jahr gewonnen hat, habe ich noch nie gehört. Den heutigen Samstagabend werde ich meinem Alter entsprechend verbringen: mit ein paar Freunden, Bier, Chips – und einem anderen Fernsehprogramm.
ABBA – Waterloo. https://www.youtube.com/watch?v=3FsVeMz1F5c

Freitag, 22. Mai 2015

Blogstuff 2

Frühling. Zeit für die Ozzy-Osbourne-Diät: Fleischlos, Glutenfrei, fettfrei, zuckerfrei, Jack Daniel’s. Und wer Hunger hat, kann sich dazu ein paar Eiswürfel auftauen.
Der römische Imperator Augustus Pontifex Maximus, aufgrund seiner faltigen Hängebacken auch Scrotum humanum genannt, würde einen Auerbachsalto in seinem Grab schlagen, wenn er erführe, wie die Touristen heute durch die Ruinen seines Palastes laufen, ständig auf der Suche nach einem Hintergrund für das nächste Selbstporträt.
Apollonia Hufnagel, die berühmte Salonnière von Bad Nauheim, in deren Wohnzimmer sich der innere Zirkel der ortsansässigen Intellektuellen, quasi der nordhessische Geistesadel, zu gepflegter Konversation zu treffen pflegt, drückte zur Begrüßung seinen Kopf mit beiden Händen, als wolle sie die Reife einer Avocado prüfen.
Mein Literaturagent empfiehlt mir, ein Wörterbuch Vegan-Polnisch / Polnisch-Vegan zu schreiben. Das gäbe es noch nicht. Zum Glück gibt auch diesen nichtsnutzigen Literaturagenten namens Heribert van Loon nicht.
Eine weitere Erfindung sind meine Abenteuer als Sportreporter im Hotel Regency in London. Das Hotel aus dem viktorianischen Zeitalter ist riesig und ich bekomme den Schlüssel für Nummer 1367. Ich laufe endlose Flure entlang, die mit tiefen Teppichen belegt sind. Gelegentlich sieht man livrierte Diener, die Tabletts mit Getränken in ein Zimmer tragen. Schließlich lande ich im Gesindetrakt, wo sich auch die Wäscherei befindet. Ich frage eine ältere Arbeiterin nach dem Weg und gelange schließlich zu meinem Zimmer. Ich sehe auf der Uhr, die auf dem Nachtisch steht, dass es höchste Zeit ist. Die Übertragung der Fußballspiele hat bereits begonnen. Wegen des schlechten englischen Wetters pflegen sich die Sportreporter vor einem Radio im Erdgeschoss des Hotels zu treffen. Ich stelle mich dazu, verstehe jedoch kein Wort, da mein Englisch nicht gut genug ist. Ein Diener steht neben dem Radio und trägt einen Falken auf dem Unterarm, dem britischen Wappentier des Sportjournalismus, der die Anwesenden an die Sorgfaltspflicht ihres Berufsstandes und das Gebot der Wahrhaftigkeit erinnern soll. Nach dem Ende der Übertragung eilen die Reporter auf ihre Zimmer, um ihre Berichte zu schreiben. Ich finde ein Konvolut mit 47 handgeschriebenen Seiten Notizen und nehme es mit auf mein Zimmer. Dort stelle ich fest, dass es Berichte vom vergangenen Wochenende sind. Ich bestelle telefonisch einen großen Scotch mit Eis in Nummer 1367. Was soll ich schreiben?
Er übte den höchst ehrenwerten Beruf eines Schnapsbrenners aus, dem auch ich einmal in jungen Jahren nachgegangen bin. Wo wir uns kennengelernt haben? Das war beim großen Sackläuserodeo in Oklahoma.
Joe Jackson - I'm The Man. https://www.youtube.com/watch?v=WUTB4W5R1Jc
P.S.: Das Video ist ein großartiges Beispiel für die hohe Kunst des Playback. Ein kleines Dankeschön an den Leser, der mir diese Perle zugeschickt hat.

Donnerstag, 21. Mai 2015

Mein Beitrag zur Debatte um die Legalisierung von Cannabis

In diesem Lied werden noch mal alle Argumente für die Legalisierung von THC-haltigen Produkten zusammengefasst:
Hierrrsch – Marihuana. https://www.youtube.com/watch?v=kqxmlXdquk4
Es entbehrt ja nicht einer gewissen Komik, sich die Protagonisten der Legalisierung einmal näher anzuschauen: CDU-Hinterbänkler, FDP-Überlebende - und die Grünen, die von ihrem Gründungsmythos als Pädophilen-Swinger-Club ablenken wollen. Kiffen ist endgültig in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft angekommen. Darum bin ich auch gegen eine Legalisierung. Drogen müssen illegal bleiben! Ich habe jahrzehntelang täglich die Gesetze gebrochen und steuerfrei meine Geschäfte gemacht. Was soll das, wenn jetzt jeder neoliberale Seidenkrawattenträger in eine Apotheke gehen und sich Dope kaufen kann? Wollen wir das? Ich weiß doch schon, wie das endet: Du musst deinen Ausweis vorzeigen, um roten Libanesen zu bekommen, und dann zahlst du irgendwann höhere Krankenkassenbeiträge, dein Chef will mit dir über deinen Lebenswandel reden und die Polizei wartet schon, wenn du in dein Auto oder auf dein Fahrrad steigst.
Verstehen wir uns nicht falsch. Ich bin kein Kiffer. Diese Phase meines Lebens liegt längst hinter mir. Aber wir sollten auch kommenden Generationen die Möglichkeit geben, gemeinsam mit guten Freunden die Gesetze zu brechen und das Finanzamt zu bescheißen. Kriminalität ist ein Teil unserer Gesellschaft. Dealer sind als Freiberufler Teil unserer Unternehmenskultur. Auch der Schwarzmarkt ist Marktwirtschaft. Denken Sie mal darüber nach, bevor Sie Ihren alten „Legalize Himbeereis“-Button (für Leser aus der Schweiz und aus Österreich: „Legalize Edelweiss“) aus dem Keller holen!
Und jetzt noch ein wenig Musik.
Janko Nilovic - Drug Song. https://www.youtube.com/watch?v=ScNgrQ1EXr0

Zebulon Pike

In einem düsteren Waldstück hinter Wichtelbach, verborgen hinter dornigen Büschen und im Schatten uralter Eichen steht ein Grabstein. Einsam und nur dem ortskundigen Einheimischen bekannt ruhen hier die sterblichen Überreste von Zebulon Pike. Unter seinem Namen lesen wir: „Geboren am 5. Januar 1779 in Lamberton, USA, starb er am 27. April 1813 an diesem Ort den Fiebertod im Dienste der Wissenschaft“. Wer war Zebulon Pike?
Es ist einer jener endlosen, unerträglich heißen Sommertage, in denen die Luft schwarz ist vor Stechmücken, die aus den tückischen Sümpfen aufsteigen. Der junge amerikanische Forschungsreisende, der sich vorgenommen hat, eine Expedition in jene Gegend zu wagen, die wir heute Hunsrück nennen, wischt sich zum wiederholten Male den Schweiß aus dem Nacken und von der Stirn. Hinter ihm gehen Reginald Grisby, sein treuer Begleiter, und zwei Träger, die sie in einem Eingeborenendorf am Rhein angeworben haben. Sie durchqueren einen finsteren Wald und folgen dabei einem Bachlauf. An den Bäumen finden sie gelegentlich furchterregende Fratzen, die von den Mitgliedern der hier ansässigen Stämme ins Holz geschnitzt wurden. Hexen und Dämonen, Kobolde und Trolle. Einige Male halten sie an, um kleine Skizzen von den Ungeheuern anzufertigen. Über ihre Bedeutung ist sich Zebulon Pike nicht im Klaren. Sollen sie Fremde oder Feinde abwehren? Sind es Wegmarken?
Bald darauf treten sie auf eine Ebene hinaus und haben einen freien Blick über das Land. In der Ferne sieht man in blauem Dunst einen Berg. Der Forschungsreisende beschließt, diesen unbekannten Berg Pikes Peak zu nennen. Der weiten Ebene, die sich bis zum Pikes Peak zieht, gibt er den Namen Pennyland, nach seiner Verlobten Penny, die im fernen Boston auf seine Rückkehr wartet. Alles trägt er sorgfältig in die Landkarte ein, die er von diesem unerforschten Land zeichnet. Dann holt er, misstrauisch beäugt von den Eingeborenen, die den Proviant und das Zelt tragen, seinen Kompass hervor. Der Berg liegt im Westen. „Frischauf“, ruft er seinen Begleitern zu. Dann gehen sie weiter.
Es ist eine jener endlosen, unerträglich heißen Sommernächte, in denen sie am Lagerfeuer sitzen und an ihrem zähen Pökelfleisch nagen. Egal, wie sie sich setzen – immer haben sie den Rauch in den Augen. Gerade, als sie sich zur Ruhe begeben wollen, hören sie es: Trommeln. Ein unheimlicher monotoner Rhythmus, der immer schneller wird. Ein Crescendo, das in einem fürchterlichen Geschrei und Geheul endet. Das müssen die Ureinwohner dieses Landstrichs sein. Die beiden Träger rollen ängstlich mit den Augen und rücken enger zusammen. Grisby spricht ihnen Mut zu und gibt ihnen noch etwas Pökelfleisch, während Zebulon Pike aufgestanden ist und aufmerksam in die Nacht hinaus lauscht. „Morgen werden wir dorthin gehen, wo die Trommeln geschlagen werden“, sagt er mit fester Stimme. „Nein, nein“, wimmern die beiden Träger. „Sie werden uns töten.“ Pike sieht sie nur verächtlich an. Am nächsten Morgen sind sie verschwunden.
Pike und Grisby beschließen, alleine das Dorf zu suchen, und ihr Gepäck im Lager zu lassen. Tatsächlich treffen sie nach einer Stunde Fußmarsch auf eine Ansammlung von Holzhütten. Kinder entdecken die beiden Forschungsreisenden und laufen schreiend ins Dorf. Auf dem Feuerplatz in der Dorfmitte tritt ihnen ein würdiger alter Krieger entgegen. Er trägt eine Kutte aus Hirschleder und hat sein langes graues Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Die beiden amerikanischen Forschungsreisenden verbeugen sich artig und überreichen dem Krieger eine Kette aus Glasperlen, die prachtvoll in der Sonne glitzern. Der Alte lächelt und lässt die Kette durch seine Finger gleiten. Er bittet Pike und Grisby, sich zu setzen. Eine Frau bringt einen Tonkrug und drei Tonschalen heran. Der Krieger schenkt ihnen ein und sie trinken. Es ist ein berauschendes Getränk, das schon die alten Germanen kannten: Met. Alsbald ist das ganze Dorf zusammengelaufen und die Bewohner umringen staunend die beiden Fremden.
Als es dunkel wird, werden Feuer entzündet und wenig später duftete es nach gebratenem Wild. Zum Klang der Trommeln tanzen die jungen Männer und Frauen um die Lagerfeuer und singen in ihrer unverständlichen Sprache. Aber der Forschungsreise ist kein Glück beschieden. Zwei Tage später verstirbt Zebulon Pike, sein Geist ist umwölkt von den Fieberphantasien des Deliriums. Er spricht davon, die gesamte Gegend liege auf dem Rücken eines riesigen schlafenden Hundes, der eines Tages aufwachen würde. Ihm zu Ehren nennen wir diesen Landstrich auch heute noch: Hunsrück.
Bronski Beat & Marc Almond– I Feel Love. https://www.youtube.com/watch?v=sYFRFyvhGRY

Mittwoch, 20. Mai 2015

Das Zentrum für Karriereverweigerung

„Ich (…) könnte, wenn ich wollte, allerlei Historien zum Besten geben, zur Erheiterung wackerer Männer, zur tränenseligen Rührung empfindsamer Seelen.“ (Herman Melville: Bartleby)
„Bartleby“. Die wunderbare Novelle von Herman Melville kann ich Ihnen nur ans Herz legen. Bartleby ist ein stoischer Verweigerer und einsamer Träumer, den es im 19. Jahrhundert an die Wall Street verschlägt. Er nimmt am modernen Leben einfach nicht teil – und stirbt schließlich im Gefängnis.
http://gutenberg.spiegel.de/buch/bartleby-2754/1
Als ich im Internet ein wenig nach Bartleby recherchierte, weil mich die Interpretationen anderer Menschen zu dieser merkwürdigen Figur, die mich an Kafkas Protagonisten erinnert, interessierten, bin ich auf das „Haus Bartleby“ gestoßen, das „Zentrum für Karriereverweigerung“.
Ich bin nirgends Mitglied, weder in einer Kirche, einer Partei oder einem Verein, aber das Haus Bartleby erscheint mir in ausreichendem Maße exzentrisch, um mich für eine Mitgliedschaft zu bewerben. Im nächsten Jahr werde ich fünfzig Jahre alt - höchste Zeit also, mich an einer soliden Verschwörung gegen den Kapitalismus zu beteiligen. Es versteht sich von selbst, dass ich von dieser skurrilen Organisation auf meine Anfrage unter der Betreff-Zeile „Meine Teilnahme an Ihrer Verschwörung“ keine Antwort erhalten habe.
Schauen Sie doch selbst mal rein: http://hausbartleby.org/
Werbung: Ho´oponopono, das hawaiianische Vergebungsritual für den Weinkeller.

Der Weinkeller ist von zentraler Bedeutung für den menschlichen Körper, er gibt uns Halt und dennoch ist er so flexibel, dass wir uns täglich in ihm bedienen, ihn füllen und leeren können. Er ist aber noch viel mehr, er ist ein Spiegel für unser physisches und psychisches Wohlbefinden. Durch leere Regale zeigt er uns sehr deutlich, dass wir mal wieder zu viel getrunken haben. Manchmal kann es auch der Durst, das leere Portemonnaie oder die Ehefrau sein, die uns im Nacken sitzen. Mit dem Ho´oponopono schaffen wir gemeinsam neue Energie speziell für Ihren Weinkeller. Durch das Auflösen von gestauten Energien bekommt der Weinkeller wieder mehr Halt. Dieser Halt zeigt sich häufig auch in einer neuen, entspannten und freudigen Haltung zum Trinken.

Wissenswertes aus dem Reich der Biologie

Proceratium google, eine Ameisenart auf Madagaskar. Benannt nach der amerikanischen Suchmaschine.
Vanilla, Orchideengattung (zu deutsch: Vanille), spanische Verkleinerungsform von vaina (Vagina), auf die Form der Blüten anspielend.
Euglossa bazinga, eine Bienenart, benannt nach Sheldon Coopers Ausruf „Bazinga!“ aus der Serie The Big Bang Theory.
Tupuxuara deliradamus, ein Flugsaurier. Der Artname bedeutet übersetzt in etwa "Verrückter Diamant" und ist eine Anspielung auf den Pink Floyd-Song "Shine On You Crazy Diamond".
Bidenichthys beeblebroxi, ein Bartmännchen (Fisch) und Erechthias beeblebroxi, eine Motte; beide besitzen einen „falschen“ Kopf und wurden deshalb nach Zaphod Beeblebrox aus dem Roman Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams benannt.
Mesoparapylocheles michaeljacksoni, fossiler Einsiedlerkrebs aus der Kreidezeit. Benannt nach Michael Jackson.
Kootenichela deppi, ein ausgestorbenes Krustentier benannt nach Johnny Depp. Anlass sind die Scheren des Tieres, die den Namensgeber an den Film 'Edward mit den Scherenhänden' erinnerten, in denen Depp die Hauptrolle spielt.
Jaggermeryx naida, ein ausgestorbener schweine- bis flusspferdartiger Paarhufer (Anthracotheriidae) der wegen seiner dicken, sensitiven Lippen nach Mick Jagger benannt wurde.
Eristalis gatesi, eine Schwebfliege, benannt nach Bill Gates.
Litarachna lopezae, eine Milbe, benannt nach Jennifer Lopez.
Anophthalmus hitleri, ein in Höhlen lebender Laufkäfer sowie Roechlingia hitleri (heute ein Synonym für Scepasma gigas), ein ausgestorbenes Insekt (nach Adolf Hitler).
Quelle: Wikipedia: Liste skurriler wissenschaftlicher Namen aus der Biologie.
The Real Thing – You To Me Are Everything. http://www.youtube.com/watch?v=yT1iDKkZNYU

Dienstag, 19. Mai 2015

DDR ohne Ende

"There was of course no way of knowing whether you were being watched at any given moment. How often, or on what system, the Thought Police plugged in on any individual wire was guesswork. It was even conceivable that they watched everybody all the time. But at any rate they could plug in your wire whenever they wanted to. You had to live—did live, from habit that became instinct—in the assumption that every sound you made was overheard, and, except in darkness, every movement scrutinized." (George Orwell: 1984)
Mit der Begründung „Terrorismusbekämpfung“ wird man in Zukunft jeden beliebigen Menschen verhaften können. „Um von den USA als Terrorist eingestuft zu werden, sind weder ‚konkrete Fakten‘ noch ‚unwiderlegbare Beweise‘ notwendig.“
https://netzpolitik.org/tag/watchlist-guidance/
Die "Beweise" lassen sich ohnehin per Knopfdruck auf dem Smartphone oder dem Computer deponieren – von jedem Punkt der Erde aus. Die Gedankenpolizei hat heute Möglichkeiten, von der die Stasi zu DDR-Zeiten nur träumen konnte. Heute wäre eine friedliche Revolution unmöglich. Wer die Verhältnisse ändern will, lebt gefährlich.
“We shall squeeze you empty and then we shall fill you with ourselves." (George Orwell: 1984)
Schon wer sich mit der dunklen Seite des Internets beschäftigt, die man mit dem TOR-Browser erreicht, macht sich verdächtig. Im TOR-Netzwerk gab es den legendären Schwarzmarkt „Silk Road“, der inzwischen vom FBI geschlossen wurde. In der Zwischenzeit sind im Darknet neue Handelsplattformen entstanden.
https://www.torproject.org/index.html.en

Ein leeres Feld

Die Wiese hat zahllose kahle Stellen, das Gras ist farblos und zertrampelt. Sie liegt auf einem Hügel, zu dem eine schmale Straße hinaufführt. Ein riesiger alter Wohnwagen steht an dem Punkt, wo die Straße aufhört und die Wiese beginnt. Neben dem Wohnwagen steht ein zehn Meter hoher Mast, an dem eine Flagge in den Landesfarben weht: Kupfer, Silber und Gold. Vor dem Wohnwagen liegt eine dicke Frau im Bikini auf einer Klappliege, sie trägt eine verspiegelte Sonnenbrille und hat ein Glas Whisky mit Eis in der Hand. Neben ihr sitzt ein kleines Mädchen mit Zöpfen an einem Campingtisch und schaut auf ihr Smartphone.
„Wer ist König Waldemar, Mama?“
„Das war diese dämliche Schwuchtel, die in der Schlacht von Butzenbach die Lofoten besiegt hat.“
„Und was hat der Typ mit unserer Wiese zu tun?“
„Steht das nicht alles in dem Artikel, den du gerade liest? Die kommen in einer Stunde. Bis dahin musst du die verdammte Scheiße draufhaben, kapiert?“
„Ja, Mama.“
„Waldemar hat die Lofoten besiegt und dann die ganzen anderen Wichtigtuer seines Reiches auf dieser Wiese hier versammelt. Hier wurde unser Land gegründet.“
„Im Jahr 1333.“
„So ist es. Bist ein braves Kind. Und wer waren die Bücklinger?“
„Keine Ahnung.“
„Meine Güte! Das ist wichtig. Die Bücklinger waren ein Adelsgeschlecht, die vor zweihundert Jahren das mächtige Heer der Kasematucken geschlagen hat. In der Schlacht von Hasenhausen.“
„Wer waren denn die Kasematucken?“
„Die kamen von weither, hatten eine andere Hautfarbe und irgendeine Religion, die sich mit unserer Religion nicht verträgt. Steht das nicht in dem verfluchten Artikel? Aber über die Kasematucken muss du nichts wissen, danach fragt sowieso niemand.“
„Was ist denn noch wichtig, Mama?“
„Unser jetziger Präsident und seine Partei.“
„Florian Bunkel von der AHA.“
„Sehr gut! Gleich kommt das Fernsehteam, Schätzchen. Zieh dir den rot-weiß-gelben Overall an und setz die Pappkrone auf.“
„Warum müssen wir sowas überhaupt machen?“
„Ich hab’s dir doch schon hundertmal erklärt. Um diese Jahreszeit kommen fast keine Touristen zu uns herauf. Wir können keine Fahnen und Souvenirs verkaufen. Kein Bier, kein Popcorn, kein Eis.“
„Kriegen wir denn vom Fernsehen Geld?“
„Ja, die bezahlen ganz gut. Aber dafür müssen wir Ihnen auch eine gute Show liefern. Und wenn sie dich was fragen, musst du natürlich auch wissen, wer König Waldemar ist, verstehst du? Das nennt man Publicity. Die machen Werbung für unser Geschäft hier oben.“
„Ziehst du dich auch noch um?“
„Selbstverständlich. Ich gehe als Marylin, eine Heilige, die der Legende nach die Pilger mit Brot versorgt hat.“
„Hat es Marylin wirklich gegeben?“
„Das ist völlig egal, Schätzchen. Die Leute glauben daran. Also verkaufen wir hier auch Heiligenbildchen. Postkarten. Kaffeetassen. T-Shirts. Darum geht es. Patriotismus ist ein todsicheres Geschäft.“
In diesem Augenblick hört man das Geräusch einer Toilettenspülung aus dem Inneren des Wohnwagens.
Feine Sahne Fischfilet - Weit hinaus. https://www.youtube.com/watch?v=LqIVvnDZ4aU

Montag, 18. Mai 2015

Zitate des Monats

Platz 1: „Seine Stimmung schwankt gelegentlich. An guten Tagen ist er ironisch, an schlechten Tagen zynisch und in der Zeit dazwischen sarkastisch.“ (Waldemar von Zeckenbeck: Leben und Werk von Andy Bonetti im Spannungsfeld von Melancholie, Bourbon und Größenwahn)
Platz 2: „Wo auch immer sich im Netz ein paar Menschen zum Gespräch niederlassen, gesellt sich alsbald ein nörgelfreudiger Besserwisser hinzu.“ (Internetpapst Cosmo Wallubke)
Platz 3: „Klimawandel? Linke Propaganda! Und wo ist diese angebliche Umweltzerstörung? Der Himmel ist blau, die Bäume sind grün. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich keine Tiere, die aussterben.“ (Mortimer Shortbread, Unterhausabgeordneter der Tories)
Sonderpreis der Jury: „Mobutu sese seko kuku ngbendu wa za banga (etwa: der allmächtige Krieger, der dank seiner Ausdauer und seines unbeugsamen Siegeswillens von Eroberung zu Eroberung zieht, Feuer in seiner Spur hinterlässt und wie die Sonne, welche die Nacht besiegt, aus dem Blut und der Asche seiner Feinde entsteht) lädt die siegreichen Leoparden in sein Haus ein, um gemeinsam die erstaunlichen Erfolge der Nationalmannschaft zu feiern.“ (aus: 11 Freunde)
Zum Abschluss noch ein wenig Lyrik:
Mein schönstes Gedicht?
Ich schrieb es nicht.
Aus tiefsten Tiefen stieg es.
Ich schwieg es.
(Mascha Kaléko)
Danke an Herrn Drago. http://drago501.blogspot.de/
Depeche Mode- Shake the Disease. https://www.youtube.com/watch?v=8ASZqnqtly8
P.S.: Durch die Medien geistert gerade die Geschichte, ausgerechnet der BND soll Osama Bin Ladens Versteck in Pakistan gefunden haben. Die finden doch noch nicht mal ihren eigenen Arsch, wenn eine Glocke dranhängt.

Sonntag, 17. Mai 2015

Das Wort zum Sonntag

„Wenn man so will, haben die Finanzmärkte quasi als ‚fünfte Gewalt‘ neben den Medien eine wichtige Wächterrolle übernommen. Wenn die Politik im 21. Jahrhundert in diesem Sinn im Schlepptau der Finanzmärkte stünde, wäre dies vielleicht so schlecht nicht.“ (Rolf-Ernst Breuer, ehemaliger Vorstandssprecher der Deutschen Bank: Die fünfte Gewalt, in: Die Zeit 18/2000)
„Es gibt keine Verschwörung, keine heimlichen Absprachen in Hinterzimmern. Die Mächtigen verstehen sich blind wie ein gut eingespieltes Fußballteam.“ (Abraham Funkelstein: Wir waren voller guter Absicht)
Es ist das Heilsversprechen des Kapitalismus, alle satt und glücklich zu machen. Streng dich an, bück dich – und es wird dir gut gehen. Aber dieses Paradies, das uns vorgegaukelt wird, dürfen wir selbstverständlich nie erreichen. Natürlich gibt es auf der Welt genug zu essen für alle. Wenn jedoch alle Menschen satt, zufrieden und ohne Sorge wären, wer ginge dann noch zur Arbeit? Wer würde noch gehorchen? Die Ordnung funktioniert nur unter Bedingungen der Knappheit, mit der Drohung der Not, mit der Peitsche der Angst. Gehorsamkeit kann niemals das Produkt des Überflusses sein. Also wird es immer Hunger und Krieg geben, es kann keine Welt ohne Hunger und Krieg geben, weil es das Ende der herrschenden Ordnung wäre. Die Herrschenden hüten darum eifersüchtig ihre Schatzkammern und bewahren so die Welt vor dem Chaos. Gerechtigkeit, Gleichheit, Glück und Frieden sind in ihren Augen die vier Reiter der Apokalypse.

Ein Mann, eine Frau

„Glück und Unglück nehmen den Menschen die Maske ab.“ (indisches Sprichwort)
Da saß er in seiner ganzen speckigen Pracht, mit seinem rotglänzenden Gesicht und den fettigen grauen Haaren, und man fragte sich, wie viele Hektoliter Bier schon durch diese Sickergrube auf zwei Beinen geflossen sein mochten: ein deutscher Gewerkschaftsfunktionär. Ich arbeitete damals als Wissenschaftler in einem Forschungsinstitut und hatte den Auftrag, gemeinsam mit diesem Mann Vorschläge für die Selbstdarstellung des DGB bei der EXPO 2000 in Hannover zu machen. Zur Vorbereitung hatte man ihm und einigen anderen Funktionären eine Dienstreise nach Amerika genehmigt. In Disneyland und Disney World sollten sie sich anschauen, wie man die Besucher mit den Mittel des Entertainments Informationen unterjubeln kann. Im Epcot, das zur Disney World gehört, wurde die Welt der Technik und der Zukunft präsentiert. Da wollte man sich für die EXPO ein paar Anregungen holen. Sie waren zwei Wochen in Florida und Kalifornien, in tollen Hotels mit riesigen Swimmingpools, und haben das Geld der Gewerkschaft versoffen. Seine Erzählungen waren ungefähr so interessant wie die Wahl zur Miss Schweinehälfte in Ostrumänien.
Sie war schon sehr alt. Selbst ihr Kleid musste sehr alt gewesen sein. Es war in Krakau vor zehn Jahren. Ich war gemeinsam mit einer schönen und klugen Kunsthistorikerin übers Wochenende mit Easyjet nach Polen geflogen, um die Kulturhauptstadt des Landes kennenzulernen. Unsere Welt bestand aus Kirchen und Palästen, Restaurants und Boutiquen. Zufällig schlenderten wir über einen Flohmarkt und dort habe ich die alte Frau gesehen. Sie stand hinter einem zusammenklappbaren Tapeziertisch. Der Tisch war fast leer. Nur drei Rollen billiges graues Toilettenpapier lagen vor ihr. Ich habe es gar nicht begriffen. Habe mit meiner Begleiterin über dieses erbärmliche Angebot getuschelt. Damals lebte ich noch in Berlin und war die opulente Pracht deutscher Flohmärkte gewohnt: Antiquitäten, Schallplatten, Öko-Strümpfe und selbstgezogene Kerzen. Die Erkenntnis durchfuhr mich wie ein Blitz. Die alte Frau war arm und verzweifelt. Sie hatte nichts anderes zu verkaufen und brauchte dringend Geld. Also gab ich ihr zwanzig Euro und nahm eine Rolle des schäbigen Toilettenpapiers, von dem ich wusste, dass ich es nie an meinen Luxuskörper lassen würde. Egal, die Geste zählt. Sie schüttelte mir die Hand und wollte sie gar nicht mehr loslassen. In ihren Augen sah ich Tränen der Dankbarkeit.
Aber ich will ehrlich sein. Das Ende dieser Geschichte habe ich mir nur ausgedacht. So war es wirklich: Etwa hundert Meter vom Flohmarkt entfernt fiel endlich der Groschen. Die Frau brauchte Hilfe, ein wenig Geld aus meiner prall gefüllten Brieftasche. Aber ich war zu feige und zu bequem, um noch einmal zurück zu gehen. Noch heute sehe ich diese Frau vor mir. Ich kann sie nicht vergessen. Es hätte eine schöne Geschichte werden können. Aber ich habe versagt. Die Erinnerung an sie ist meine Strafe.
Agnostic Front - Us Against The World. https://www.youtube.com/watch?v=ZAcEBlQi840

Samstag, 16. Mai 2015

Der erste Einkauf

Trigger Warning: Kann Verachtung oder sardonisches Gelächter verursachen.
Der Zug hatte Verspätung. Er stand auf dem Bahnsteig und der Wind verwehte sein dünnes graues Haar, das er sorgfältig über die Glatze gekämmt hatte. Der Zug war nicht zu dem Zeitpunkt am Gleis des Dorfbahnhofs eingerollt, der auf dem Fahrplan stand. Wie lange würde es dauern, bis er eintraf? Früher standen Termine in seinem Kalender. Verspätungen hatten für seine Untergebenen stets unangenehme Folgen. Pünktlichkeit war einer der Eckpfeiler eines erfolgreichen Geschäftslebens. Verspätungen kosteten Geld. An diesem Bahnhof schien sich aber niemand darüber aufzuregen. Ein Mädchen mit riesigen Kopfhörern stand neben ihm und sah ausdruckslos auf die Gleise. Auf der Bank aus Metallgittern saß eine alte Frau, neben ihr stand ein Rollwägelchen.
Auf der Fahrt in die Stadt sah er die Landschaft am Fenster vorbeifliegen. Der Anblick beruhigte ihn. Es war wie früher, wenn er mit der schwarzen Limousine zu einem Geschäftstermin gefahren wurde. Damals hatte er viel zu selten aus dem Fenster und viel zu oft in seinen Laptop geschaut. Er hätte die Zeit als Geschäftsführer genießen sollen. Aber wer hätte gedacht, dass es so schnell vorbei sein würde?
Der Schaffner kam den Gang entlang. Er nestelte in seiner Jackentasche nach der Fahrkarte. Der Schaffner sah ihn an.
„Guten Morgen, die Fahrkarte bitte“, leierte er tonlos seinen Text hinunter.
Er hielt ihm die Fahrkarte hin und der Schaffner nahm sie. Er war nervös. Es war ihm unbegreiflich, warum er in diesem Augenblick nervös sein konnte. Die Fahrkarte war gültig, sie war bezahlt. Der Schaffner würde die Karte stempeln, er hatte nichts zu befürchten. Aber die Situation war ihm unangenehm. Er dachte an den Prozess zurück. An den Skandal. An die Berichte in der Presse. Freunde und Kollegen mieden ihn plötzlich, als habe er eine tödliche Seuche. Bestechung. Bestechlichkeit. Im Nachhinein kamen ihm die Summen lächerlich gering vor. Er hätte mehr verlangen sollen. Das Risiko war ihm nie bewusst gewesen. Schließlich war es üblich, Gefälligkeiten mit Gefälligkeiten zu beantworten. Eine Hand wäscht die andere. Ein altes deutsches Sprichwort.
Am Bahnhof der großen Stadt musste er sich kurz orientieren. Der Lärm, die vielen Menschen. Er überquerte den Bahnhofsvorplatz mit den vielen Bushaltestellen und bog in eine breite Straße ein. Gott sei Dank! Da war schon ein Supermarkt. Er durchschritt die automatische Tür und ging zu den Einkaufswagen. Sie waren aneinander gekettet wie Galeerensklaven. Er wartete, bis eine Frau einen der Wagen mit einer Münze loskettete. Münzen. Verdammt! Er hatte nur Geldscheine in seiner Brieftasche. Also nahm er einen der kleinen roten Plastikkörbe mit schwarzen Griff und passierte das Drehkreuz.
Auf den ersten Metern umgaben ihn Obst und Gemüse. Die farbige Pracht der Früchte sah verlockend aus, aber er mochte kein Obst, und er wusste nicht, wie man Gemüse zubereitet. Seine Frau hatte immer für ihn gekocht. Aber sie hatte in derselben Woche die Scheidung eingereicht, als die Anzeige gegen ihn bekannt wurde und seine fristlose Entlassung folgte. Die Presse kannte plötzlich alle pikanten Details seines Berufslebens. Sauerei! Ein Jahr Arbeitslosengeld und das Trennungsjahr im Parallelflug. Dann Scheidung und Hartz IV. Sie hatte das Haus und die Kinder, außerdem den Rest seines Vermögens bekommen. Nach Abzug der Prozesskosten war es weniger gewesen als gedacht. Aber der DAX hatte zum Zeitpunkt der mehrmonatigen Verhandlungen ungünstig gestanden.
Er ging weiter. Es folgten die monotonen Regale mit den Grundnahrungsmitteln. Er kaufte Nudeln und Reis. Das braucht man immer, dachte er. Ein neuer Gang, neue Regale. Wie lieblos alles nebeneinander aufgestapelt war. Außerdem war kein Personal zu sehen, das man nach bestimmten Waren fragen konnte. Er hätte diesen Supermarkt ganz anders aufgezogen. Er war der geborene Kaufmann, er hätte String-Tangas in Teheran verkaufen können. Wo waren die Plakate, die auf Sonderaktionen hinwiesen? Wo die Musik, die Durchsagen? Kleine Stände, an denen man von freundlichen Damen kostenlose Warenproben präsentiert bekam? Stattdessen Produkte, deren Firmennamen ihm unbekannt waren.
Dann kamen die Spirituosen. Diese Marken kannte er und las nun lächelnd die Etiketten. Pitú aus Brasilien. Die Nacht in Rio, als sie an der Bar des Bordells gesessen und, aufgekratzt von zahllosen Caipirinhas, nach den Weibern geschrien hatten. Und dann waren sie gekommen: Weiße, Schwarze und Mulattinnen mit blitzenden Zähnen und glänzenden Schenkeln. Wodka. Der Puff in Berlin mit den blonden Ukrainerinnen. Zwei, drei Frauen hatte sich jeder mit aufs Zimmer genommen. Es war egal gewesen, schließlich hatte es nichts gekostet. Sie hatten die Rechnungen abwechselnd bei ihren Firmen eingereicht. Bewirtungskosten. Steuerlich absetzbar. Die nächste Runde geht aufs Finanzamt, hatte der dicke Müller nach dem Abendessen in irgendeinem Nobelrestaurant immer gebrüllt.
Aber die Zeit der teuren Single Malts und Cocktails war vorbei. Er bückte sich nach einer Flasche Weinbrand und ging zur Kasse. Als er an der Reihe war, zahlte er und steckte den Kassenbon ein. Für seine private Buchführung. Ordnung muss sein.
Der Zug kam pünktlich.
B.B. King – Blues Boys Tune. https://www.youtube.com/watch?v=7d-O_fS6Xtk

Freitag, 15. Mai 2015

Lagergeschichten

“One grain of luck sometimes worth more than whole rice field of wisdom.” (Charlie Chan at the Circus)
Ich gehöre ja noch zu der Generation, die von ihren Erziehungsberechtigten Geschichten aus dem Krieg und aus der Kriegsgefangenschaft zu hören bekommen hat. Ich weiß nicht, was heutige Eltern ihren Kindern erzählen. Horrorstorys vom großen Stromausfall bei IKEA in Pirmasens 1999? Darüber hat Prince übrigens ein Lied geschrieben, aber das nur nebenbei.
1945. Der Vater eines Freundes gerät als Siebzehnjähriger in russische Kriegsgefangenschaft. „Volkssturm“: alle Männer zwischen 16 und 60 werden am Ende eingezogen und bewaffnet, während sich die Profi-Soldaten absetzen. Der Teenager verdankt sein Leben der Musik. Er kann Ziehharmonika spielen. Jeden Abend, jede Nacht spielt er für die feiernden russischen Wachmannschaften. Sie füllen ihn mit Wodka ab. Er geht regelmäßig kotzen, kommt zurück in die Baracke und spielt weiter. So überlebt er den Krieg, genauer gesagt: die lange Gefangenschaft nach einem Krieg, der für ihn sehr kurz gewesen ist. Dann läuft er tausend Kilometer nach Hause.
1947. Er erzählt den zuständigen Behörden, er habe Abitur, sein Zeugnis sei aber in den Kriegswirren verloren gegangen. Er wird zum Studium der Architektur zugelassen und arbeitet später als freier Architekt für die evangelische Kirche. Er baut jahrzehntelang Kirchen und Gemeindezentren. Er gründet eine Familie und baut ein Haus. Neulich habe ich ihn mal wieder getroffen und wir haben miteinander angestoßen.
1945. Der Freund meiner Mutter gerät ebenfalls in russische Kriegsgefangenschaft. Auch er ist ein Jugendlicher gewesen, der allein unter fremden Männern überleben will. In seinem Kriegsgefangenenlager ist er „der Uhrmacher“. Die Russen haben im Krieg deutsche Armbanduhren erbeutet, auf die sie sehr stolz sind. Aber die Uhren bleiben immer wieder stehen. Keiner von ihnen weiß, dass man sie regelmäßig aufziehen muss. Also bringen sie die Uhren zu dem jungen Mann, der von sich behauptet, bei einem Uhrmacher gearbeitet zu haben. Er nimmt die Uhren mit in seine Baracke. Dort zieht er sie auf und bringt sie dann den Russen zurück. Sie sind glücklich über die „reparierten“ Uhren und er bekommt genügend Nahrungsmittel. Er bekommt sogar so viel, dass er sie mit den anderen Gefangenen in seiner Baracke teilen kann. Eines Tages droht ein älterer „Kamerad“, der neidisch auf ihn ist, sein Geheimnis an die Russen zu verraten. Schließlich könnten sie ja auch alle selbst ihre Uhren aufziehen. Mit dieser Information hofft der „Kamerad“, beim Wachpersonal punkten zu können. Josef, der Freund meiner Mutter, beschwört ihn, das Geheimnis des Uhrmachers zu bewahren. Schließlich bekämen sie ja auch alle Extrarationen wegen seiner bemerkenswerten technischen Fähigkeiten. Auch er überlebt die Lagerhaft. Er läuft wochenlang, bis er endlich wieder in Deutschland ist.
1947. Im Rheingau findet er Arbeit und bleibt dort bis an sein Lebensende. Er wird Vertreter für Farbspritzpistolen, die er an Handwerksbetriebe verkauft, gründet eine Familie, baut ein Haus, wird geschieden und fährt einen nagelneuen Ford Granada, als er meine Mutter nach ihrer Scheidung kennenlernt. Er war fünf Jahre lang mein „Onkel“ und hat niemals über die Unannehmlichkeiten und Unbequemlichkeiten der modernen Welt geklagt. Allerdings hat er auch nicht mehr die Rhabarberschorle und den Selfie Stick erlebt.
P.S.: Etwa 11,5 Millionen Deutsche waren 1945 in Kriegsgefangenschaft. Meinen Opa hat es damals als vierzigjährigen Arbeiter eines „kriegswichtigen“ Bergwerks auch noch erwischt: 14 Tage „Soldat“ kurz vor der Kapitulation, eineinhalb Jahre POW in Cherbourg, Frankreich. Es blieb sein einziger Auslandsaufenthalt. Mein anderer Opa hatte nicht so viel Glück. 1943 wurde er von einem russischen Scharfschützen erschossen.
Woody Guthrie - Tear the fascist down. https://www.youtube.com/watch?v=jKVnur5DkdI
There's a great and a bloody fight 'round this whole world tonight
And the battle, the bombs and shrapnel reign
Hitler told the world around he would tear our union down
But our union's gonna break them slavery chains
Our union's gonna break them slavery chains
I walked up on a mountain in the middle of the sky
Could see every farm and every town
I could see all the people in this whole wide world
That's the union that'll tear the fascists down, down, down
That's the union that'll tear the fascists down
When I think of the men and the ships going down
While the Russians fight on across the dawn
There's London in ruins and Paris in chains
Good people, what are we waiting on?
Good people, what are we waiting on?
So, I thank the Soviets and the mighty Chinese vets
The Allies the whole wide world around
To the battling British, thanks, you can have ten million Yanks
If it takes 'em to tear the fascists down, down, down
If it takes 'em to tear the fascists down
But when I think of the ships and the men going down
And the Russians fight on across the dawn
There's London in ruins and Paris in chains
Good people, what are we waiting on?
Good people, what are we waiting on?
So I thank the Soviets and the mighty Chinese vets
The Allies the whole wide world around
To the battling British, thanks, you can have ten million Yanks
If it takes 'em to tear the fascists down, down, down
If it takes 'em to tear the fascists down
Woody Guthrie - House of the rising sun. https://www.youtube.com/watch?v=UlbLs_bvimU

Donnerstag, 14. Mai 2015

Eine Frage von Leben und Tod

„Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“ (Thomas Bernhard)
Autofahren ist kein Spaß. Und damit meine ich nicht die Themen Parkplatzsuche oder Stau.
Abschweifung 1: Wir standen am Samstagmorgen mit dem Grünschnitt aus unserem Garten und zwei großen Säcken Altpapier (verworfene Textvarianten meiner Blogtexte und leere Keksschachteln) eine halbe Stunde im Stau – auf den hundert Metern vor dem Wertstoffhof Waldlaubersheim, wo jeden Samstag die ganzen Handwerker der Umgebung den Bauschutt der vergangenen Woche entsorgen. Als sich ein Kleinwagen in eine kurz entstandene Lücke direkt hinter uns zwängte, stiegen etliche andere Fahrer aus, um dem älteren Herren am Steuer klarzumachen, dass er sich hinten anzustellen habe. Er weigerte sich geschlagene zehn Minuten, es wurde herumgebrüllt, mit der Polizei gedroht und ich hatte für einen kurzen Augenblick das Gefühl, jetzt kommt es zu einem der seltenen Fälle von Lynchjustiz in unserem Landkreis. Dann gab der alte Mann schließlich nach. Und ich bin ja nur der Beifahrer. Fahren würde meinem Blutdruck nicht gut tun, obwohl ich seit dreißig Jahren stolzer Besitzer eines Führerscheins bin. Ende der Abschweifung.
Das eigentliche Problem sind die Unfälle. Jedes Jahr sterben etwa eine Million Menschen weltweit im Straßenverkehr. In Deutschland ist die Zahl der Toten seit dem Höhepunkt in den siebziger Jahren stark rückläufig. 1970 gab es noch 19193 Tote, 2014 waren 3368. Das haben die Automobilisten zum einen dem technischen Fortschritt – Sicherheitsgurte, Airbags, verbesserte Bremsen usw. – zu verdanken, zum anderen aber der gesenkten Promillegrenze und den verstärkten Kontrollen durch die Polizei. Aufmerksamen Lesern meiner Beiträge ist es vermutlich nicht entgangen, dass ich gelegentlich zur Kritik am Gesetzgeber und seinen Vollzugsbehörden neige. Hier möchte ich aber einmal ausdrücklich ein Wort des Lobes aussprechen. Anhand konkreter Beispiele aus meiner Heimat werde ich es mit Ihrer freundlichen Erlaubnis kurz erläutern.
Früher war es in Wichtelbach üblich, in jedem Zustand mit dem Auto oder dem Motorrad zu fahren. Und durchaus nicht nur von der Wichtelbacher Dorfkneipe nach Hause oder von Unterdingsheim nach Oberdingsheim – sondern gerne auch mal einfach so die ganze Nacht bei dröhnender Musik durch die Prärie. Es gab Plätze auf irgendwelchen Hügeln oder in den Wäldern, wo sich die trunkenen Jungmannen trafen und riesige Joints rauchten oder fingerdicke Lines von einer CD-Hülle in ihre Rüssel sogen. Ein achtzehnblättriger Riesenjoint für den achtzehnten Geburtstag eines hoffnungsvollen Nachwuchsschriftstellers, um nur ein Beispiel zu nennen. Da wurden mir Dinge berichtet … - ich selbst habe natürlich jeden Samstagabend mit der Jungs und Mädels von der KJG (Katholische junge Gemeinde) für den Weltfrieden und die hungernden Menschen in Afrika getöpfert.
Abschweifung 2: Ich war tatsächlich mal bei so einem KJG-Abend, um (als Protestant) einen Freund zu begleiten, der auf eines der Mädels scharf war, die dort jeden Samstagabend verbrachten und sich standhaft weigerten, in unserer Stammkneipe am Bahnhof vorbeizukommen. Ich kann berichten: Dort wurde weder Alkohol getrunken noch geraucht, und ich habe aus lauter Verzweiflung einen Aschenbecher mit Totenkopfmotiv getöpfert. Was für ein Horror! Du bist mir noch was schuldig, Jens, falls du das hier lesen solltest!!! Ende der Abschweifung.
Natürlich blieb der Alkoholkonsum nebst Drogenmissbrauch des mobilen Nachwuchses nicht ohne Folgen. Mehrere Freunde von mir lagen für mehrere Wochen im Krankenhaus und haben nur mit Glück überlebt. So manches Mal mussten wir Leute mitnehmen, die ihren Wagen in den Straßengraben oder in eine Böschung manövriert hatten. Polizeikontrollen gab es auf dem Land nicht. Wir konnten machen, was wir wollten. Am nächsten Tag wusste man oft noch nicht mal, wo der Wagen stand, wenn er nicht zufällig vor dem Haus geparkt war. Fahren bis zum Filmriss, bis zum Pupillenstillstand.
Vorbei. Heute wird am Kreisel zwischen Autobahnabfahrt und Wichtelbach regelmäßig auf Alkohol und Drogen kontrolliert. Die Polizei stand, als es noch eine Dorfkneipe gab, oft zwanzig Meter vor der Eingangstür, um wie ein Alligator mit abgeschaltetem Licht den arglosen Zechern aufzulauern, die tatsächlich noch in ihren Wagen steigen wollten. Heute sind alle ganz brav geworden. Bei einer Grenze von 0,5 Promille lohnt sich das Herantrinken an diese Grenze gar nicht (die lag, als es noch 0,8 Promille waren, z.B. bei meinem Leibesumfang bei vier großen Bier – damit bin ich zweimal durchgekommen, als ich dem Sheriff einen blasen musste) und die Kontrollen sind inzwischen so häufig, dass die seit meinen Jugendtagen stark gestiegene Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, viele Fahrer vernünftig werden ließ.
Der nicht-anonyme Dorfalkoholiker hat den Führerschein verloren. Er hat im MPU-Verfahren keine Chance mehr, weil er die Finger nicht von der Flasche lassen kann. Der ortsbekannte Junkie, den Frau und Kind verlassen haben, wurde erst durch den Führerscheinverlust (er war auf dem Rückweg von Franky, wie man Frankfurt hier zu nennen pflegt, wo er seinen Stoff kauft, am helllichten Tag in eine Verkehrskontrolle geraten) einsichtig. Er schaffte für den Führerschein, was er für seine Familie nicht geschafft hat: ein Jahr ohne Drogen und Alkohol. Jetzt hat er ihn endlich wieder und fährt nicht mehr betrunken. Andere im Dorf sind gerade in einem MPU-Verfahren. Es hat ihr Verhalten drastisch geändert. Ein weiterer Dorfalkoholiker, der seinen ersten Wagen, den liebevoll gepflegten VW Käfer seines Vaters, im Vollsuff in den Graben gesetzt hatte und vom Lenkrad fast aufgespießt worden wäre, der bei einem zweiten Unfall mit einem Betrunkenen am Steuer vom Rücksitz durch die Windschutzscheibe geschleudert wurde, weil er nicht angeschnallt war (man sieht heute noch die Narben in seinem Gesicht), hat den Wagen abgestellt, weil der TÜV abgelaufen ist, die Mühle nicht mehr fährt und er als spielsüchtiger Trinker vermutlich nie wieder genug Geld für einen neuen Wagen zusammenbekommen wird.
All das hat Menschenleben gerettet. Das Leben der Fahrer und das Leben der Passanten. Ein Freund von mir hat seine Schwester verloren, die als Kind überfahren worden ist. Ein anderer Freund hat eine Schwester, die seit ihrem Unfall im Kindesalter schwerbehindert ist. Beide Mädchen wurden auf ihren Fahrrädern von Autos überrollt. Ich finde, die Promillegrenze sollte weiter gesenkt und die Kontrollen sollten verschärft werden. Just my two cents zum heutigen Vatertag.
Abschweifung 3: Ich habe selbst schon mal 1987 nach der Disco auf allen Vieren vor meinem Alfa Romeo gekniet, um den verdammten Schlüssel ins Türschloss zu bekommen. Aber als ich es dann geschafft hatte, ins Cockpit zu kriechen: Fast like hell – cold as ice. Mein Rekord in meiner Heimatstadt: 140 km/h in einer Tempo-Fünfzig-Zone. Nachts um drei. Es wurde von der Rennleitung keine Promillemessung vorgenommen. In der Jugend hat man Schutzengel. Aber man sollte sich nicht sein ganzes Leben auf sie verlassen. Denken Sie nur mal an James Dean. Ende der Abschweifung.
Komm, einen noch. Abschweifung 4: Es war in der goldenen Zeit des Drink & Drive. Die Jungs kommen mit dem VW-Bus ihrer Handwerkerfirma von einem Richtfest. Besoffen wie die Schweine. Am Steuer der Polier, mit nacktem Oberkörper, selbstverständlich nicht angeschnallt. Sie kommen an eine Straßenkreuzung der Kleinstadt, deren Namen ich nicht nennen möchte, weil er nichts zur Sache tut. Dort treffen sie auf eine Streifenwagenbesatzung, die eine Verkehrskontrolle durchführt. Der Polizist geht zum offenen Fenster an der Fahrertür des Kleinbusses. Wie es der Zufall will, treffen sich die Polizisten der örtlichen Polizeistation und die Handwerker der Firma jeden Montag auf der örtlichen Kegelbahn. Man kennt sich, man trinkt auch zusammen. Was passiert? Der Polizist sagt zu seinem Kegelfreund: „Macht bloß, dass ihr nach Hause kommt“. Ein halbes Dutzend Familienväter behalten den Führerschein. So war das früher. Mein Herz sagt: gute Geschichte. Mein Verstand sagt: böse alte Zeit.
The Who - My Generation. https://www.youtube.com/watch?v=5MnDbWqe_kQ