Montag, 23. März 2009

Der Auftrag


Wieder einer dieser grauen Großstadtvormittage. Trotz des bevorstehenden Schneefalls, der in diesen Tagen regelmäßig um diese Uhrzeit mit ungeahnter Wucht einzusetzen pflegte, hatte mich der Bürovorsteher zur Erledigung einiger Botengänge fortgeschickt. Mißmutig – ohne dies gegenüber dem Vorgesetzten auch nur entfernt anzudeuten – machte ich mich auf den Weg. Auf den Straßen war wenig Verkehr, im Nachhinein erscheint es mir fast, als wäre ich allein gewesen. Man bereitete sich also offensichtlich auf den Wetterumschwung vor, der dann natürlich allen Verkehr lahmlegen mußte.

Bald kam ich an die großen Eisengitter, die den Schulhof umzäunten. Es war gerade Pause und die Kinder standen in weit verstreuten Gruppen herum, unruhig von einem Bein auf das andere tretend, als erwarteten sie eine Veränderung der Verhältnisse. Ich hatte gerade das Schultor erreicht, da läutete die Glocke das Ende der Pause ein. Als ich schon fast vorüber war, hörte ich eine mächtige Stimme hinter mir. "He du! Komm wieder rein! Der Unterricht beginnt gleich." Obwohl ich natürlich nicht gemeint sein konnte, drehte ich mich mit einem unbehaglichen Gefühl um. Ein schwerer Mann in einem grauen Kittel – anscheinend der Hausmeister – ging nun sehr schnell über den leeren Hof auf mich zu. Er kam bedrohlich nahe vor mir zum Stillstand, trotz meiner nicht unbeträchtlichen Größe überragte er mich um Haupteslänge. Ein massiger, rot geschwollener Schädel mit kleinen, tief im Fleisch sitzenden Augen und ärgerlich verzerrtem Mund schwebte wie ein böser Mond über mir. Ich war über den schnellen Wandel der Verhältnisse so erschrocken, daß ich kein Wort hervor brachte. Er packte meinen Unterarm mit seiner behaarten Pranke und zog mich ein Stück in den Schulhof hinein. "In welcher Klasse bist du?" fragte er barsch, und ich wußte, jede weitere Sekunde meines Schweigens würde ihm mehr Recht geben. Ich ordnete also alles für diese Angelegenheit wichtige in meinem Geist, nahm auch weiterführende Erklärungen in meine geplante Gegenrede mit auf, da kamen einige Jungen über den Hof gelaufen. "Aber Jonas, wo bleibst du denn?" rief einer schon von weitem. "Herr Baumann muß jeden Moment kommen!" Schon hatten sie uns erreicht und umringten mich. Der Hausmeister ließ mich augenblicklich los, ich rieb verärgert meinen schmerzenden Arm. Ein schmaler blonder Junge, offenbar ihr Anführer, erklärte nun: "Der Jonas ist schon ein Träumer." Eine Bemerkung, die von den Umstehenden wohl bis in letzte Einzelheiten hinein verstanden wurde, denn alle lachten und klopften mir dabei abwechselnd auf die Schulter. Mit diesem Klopfen trieben sie mich unaufhaltsam ins Klassenzimmer. Keine Sekunde zu früh, denn schon bog Studienrat Baumann, der Geographielehrer, mit langen gleichmäßigen Schritten um die Ecke.

Ein Tierleben


Es ist eine Beobachtung, die ich nicht widerlegen kann: Meine Wohnung wird immer größer. Als ich in diese Wohnung einzog, hatte ich das Gefühl, sie genüge nur knapp meinen persönlichen Ansprüchen. Ein Zimmer, Küche, Bad, dazwischen ein quadratischer Flur als Verteiler. Es sollte nur ein Anfang sein, ich träumte von großen Wohnungen, langen Zimmerschluchten, in denen riesige hohe helle Räume aufeinander folgen würden. Wohnungen wie in Kinofilmen, unübersichtlich, mit mehreren Bädern und Gästezimmern, mit riesigen Küchen, in denen man Parties feiern konnte. Jetzt krieche ich müde vom Schreibtisch zum Bett, die Wege sind weit und überdies nutzlos. In die Küche und ins Bad komme ich nur noch, wenn ich wirklich muss. Die Größe der Wohnung kostet mich Kraft, eine Kraft freilich, die täglich schwindet.

Als ich noch ein Arbeitstier war, habe ich natürlich auch nur das Notwendigste erledigt. Das waren damals allerdings weite Wege gewesen! Aus dem Haus, durch Straßen und über Plätze, bei jedem Wetter, bis ich das Bürohaus erreicht hatte. Auf dem Rückweg alle möglichen Erledigungen, Bank, Post, Einkäufe und Versammlungen. Heute kann ich das wenige, das mir geblieben ist, kaum bewältigen. Den wöchentlichen Gang zum Supermarkt und zu den Mülltonnen, die üblichen Schluck-, Verdauungs- und Ausscheidungsbewegungen eines kleinen Haushalts. Aus der gegenwärtigen Perspektive ist es mir unerklärlich, wie ich damals sämtlichen Anforderungen genügen konnte. Aber offensichtlich konnte ich es ja nicht, denn heute sitze ich in dieser täglich wachsenden Wohnung und bin kaum in der Lage, die Gewaltmärsche ins Küchengebiet zu bewältigen, das meinem Bett am fernsten liegt. Schon auf dem Weg dorthin träume ich davon, meinen schweren Leib auf den Dielen des Flurs zu lagern, um ein wenig auszuruhen. Ich mache mir ernsthaft Gedanken darüber, die Wege zu verkürzen, indem ich den Kühlschrank und eine mobile Chemietoilette direkt neben dem Bett postiere.

Ohne dass sie es wüssten, haben mich meine Nachbarn auf einen Gedanken gebracht: Die Wohnung wächst gar nicht – wie könnte denn eine aus aufgetürmten Backsteinen bestehende Wohnung auch wachsen? -, sondern ich bin es, der unaufhörlich schrumpft. Ich werde immer kleiner, bis zur Unsichtbarkeit klein werde ich. Und genau darum grüßt man mich auch nicht mehr. Nicht aus Bosheit, nicht aus Standesdünkel, nicht aus Verachtung dem Nichtarbeitstier gegenüber, nicht aus großstädtischer Achtlosigkeit hat das Grüßen aufgehört, nein, man übersieht mich einfach. Ich lebe doch nicht unter bösen Menschen, ganz im Gegenteil. Ich kenne die Nachbarschaft als ausgesprochen wohlmeinend und warmherzig, hier gibt es gegenseitiges Verständnis und einen würdevollen Umgang mit jedem Gast aus der Fremde.

Ich habe einen Beschluss gefasst: Ich werde in den kleinen Keller ziehen, der zu meiner Wohnung gehört. Die Wohnung ist einfach zu groß für mich geworden. Ich verdiene diese große Wohnung eigentlich auch nicht. Ich werde die Haustür offen lassen, wenn ich gehe. Sollen andere hier einziehen, sie können die Wohnung sicher besser brauchen als ich. Es ist mühselig geworden; um die Türklinke zu erreichen, muss ich einen Stuhl heran schleppen. Im Keller werde ich mich wohlfühlen, er hat sechs Quadratmeter, das ist völlig ausreichend für mich. Ich muss lachen, wenn ich daran denke, dass auch dieser Keller eines Tages zu groß für mich sein wird. Aber vielleicht hat dieser Keller ja ein Mauseloch. Dann werde ich dort einziehen. Ich brauche nur wenig, sicher werde ich niemandem zur Last fallen.

Sonntag, 15. März 2009

Aus dem prallen Künstlerleben


Neulich saß ich mit meinen berühmten und weniger berühmten Schriftstellerkollegen am Schriftstellerstammtisch in unserer Schriftstellerkneipe. Schriftstellerkneipen sind heutzutage ja gar nicht mehr leicht zu finden, vor dem Krieg – wir älteren Leute unterscheiden ja immer ‚vor dem Krieg‘ und ‚nach dem Krieg‘ – traf man sich im Café des Westens, das lag da, wo heute Kentucky Fried Chicken im Europacenter gegenüber der Gedächtniskirche sein frittiertes Gelumpe unters Volk wirft. Aber das ist eine andere Geschichte und über Fast Food schreibe ich sowieso nicht. Denn ich wollte die Geschichte erzählen, wie mich Atze, mein Schriftstellerkollege, neulich gefragt hat, ob denn der Wedding und insbesondere das Brunnenviertel überhaupt literaturwürdig sei.
"Na unbedingt", sage ich, "Atze, ick sahre dir, dit is janz jewiß een literaturwürja Ort. Und janz besonders der Brunnenkiez."
"Warum’n ditte?" mischt sich nun auch noch Hotte ins Gespräch.
"Na wejn da Schentrifizierung."
"Watt für’n Ding?" fragt jetzt wieder Atze. Atze hat es nicht so mit der Allgemeinbildung, der hält auch Pilates für griechische Nudeln.
"Also", fange ich an und wechsle ins Hochdeutsche, damit auch die Kollegen mit Migrationshintergrund, also die Bayern, Sachsen und Schwaben, etwas lernen können, denn ich sehe schon ihre gespitzten Ohren näher kommen. "Gentrifizierung funktioniert so: Erst gibt es eine Gegend mit vielen günstigen Mietwohnungen. Die Wohnungen sind günstig, weil die feinen Pinkel da nicht hin wollen. Und so kommen eine Menge junger Leute, Künstler und Studenten in dieses Viertel. Nach einer Weile ist es da ganz toll, das kriegen die anderen Berliner und die Berlinbesucher mit, und schon ist dort die Hölle los. Kneipen und Galerien machen auf, Feste werden gefeiert und plötzlich will jeder dabei sein. So ging es mit dem Prenzlauer Berg, mit Friedrichshain oder dem Bergmannstraßenkiez in Kreuzberg. Alles inzwischen in der Hand gutverdienender Bürger, die Mieten sind gestiegen und die jungen Leute sind gegangen."
"Und wohin sind se jejangen?" will Hotte wissen, nachdem er lange und nachdenklich an seinem Weizenbier gesogen hat.
"Na, eben in den Wedding. Diese Leute, die Künstler und Träumer, die Studenten und Existenzgründer kommen jetzt hierher. Das ist der Vorteil vom Wedding und vom Brunnenkiez. Du musst dich gar nicht weg bewegen, die Szene kommt hierher und verändert alles. Ihr kennt doch alle Heuschrecken, oder?" wechsle ich scheinbar abrupt das Thema.
"Kenn ick. Die treten in jroßen Schwärmen uff und machen allet kaputt. Jibt’s ooch in Unternehmensform."
"Eben", nicke ich Atze zu, "und die jungen Leute sind das genaue Gegenteil. Vielleicht so etwas wie ein Kolibrischwarm. Wo sie sich niederlassen, wächst was, und erst, wenn es groß geworden ist, ziehen sie weiter."
Während der Migrantenteil des Schriftstellerstammtischs in lebhafte Diskussionen verfällt, beuge ich mich zu Atze rüber und sage: "Mensch Atze, dit is jenau der Ort für Literatur. Hier musste als kleener Tintenkleckser hin, vastehste?! Dit hier iss Fontane, dit iss Zille, dit iss Döblin."
Und das hatte Atze verstanden, die Kollegen aus der Vorkriegszeit waren ihm bekannt, wenn auch nur dunkel, aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Mittwoch, 11. März 2009

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Soeben erschienen:

Matthias Eberling
Ich träume deinen Tod
Berlin Krimi 3
Emons Verlag, Köln
ISBN 978-3-89705-622-0
208 Seiten
9,90 €

Montag, 9. März 2009

Zahltag


"Bitte! Nehmen Sie mein Geld!"
"Ich will Dein Geld nicht."
"Was wollen Sie denn von mir?"
"Ich will wissen, wie hoch Dein Vermögen ist."
"Warum?" Seine Stimme klang panisch.
Ein Schuß, dann wälzte er sich auf dem Boden und hielt sich den blutenden Oberschenkel.
"Ich wiederhole die Frage ein letztes Mal: Wie hoch ist Dein Vermögen?"
"Keine Ahnung. Vielleicht zehn, zwölf Millionen Euro."
"Ich werde Dich töten."
"Sie können alles haben, was Sie wollen. Ich gebe Ihnen alles, was ich habe, nur lassen Sie mich leben." Er zitterte und weinte.
Ein zweiter Schuß in den Kopf beendete das Gespräch.

Er wohnte in einer Zweizimmerwohnung über einer Bäckerei, die an der Hauptstraße des Dorfes lag. Hinter dem Gebäude lag eine üppige blumenübersähte Wiese, die von einem Bach begrenzt wurde. In der Mitte des Baches war eine kleine Insel, auf der sich die Kinder des Bäckers eine kleine Hütte im Gestrüpp gebaut hatten. Lucia, seine vierjährige Tochter, durfte nie dort spielen. Sie war nun schon zwei Wochen tot. Er saß am Fenster und sah hinunter, gedämpft drangen die hellen Stimmen der Kinder durch die geschlossenen Scheiben.

Es hatte ihn eine Stange Geld gekostet, in dieses Restaurant zu kommen. Aber Geld war ihm egal. Er hatte dem toten Börsenmakler die Brieftasche abgenommen und konnte sich einen Anzug und hundert Euro Trinkgeld locker leisten. An der Bar saßen ein paar Männer mittleren Alters, die offensichtlich auf ihre Frauen oder eine andere Verabredung warteten.
"Mit diesen Händen hätte ich Chirurg, Pianist oder wenigstens Uhrmacher werden können. Aber ich führe Senatoren und Bankpräsidenten durch leere Villen."
"Die hatten noch vor drei Jahren eine Marktkapitalisierung von sechzig Millionen, jetzt sind sie bei fast einer Milliarde."
"Ich weiß nicht. Meine Frau will eine Yacht, weil ihre Freundinnen alle eine Yacht haben. Aber was soll ich damit? Ich kann ja noch nicht mal schwimmen. Mir reicht es, wenn ich das Meer mit einer Frozen Margarita in der Hand betrachten kann."
Das übliche selbstverliebte Geschwätz eitler Geldsäcke. Als einer dieser geföhnten Prachtschweine, die uns allen so gerne das Evangelium des Leistungsprinzips predigen, ihre Zeit aber in Privatflugzeugen und Bordellen verbringen, auf die Toilette ging, folgte er ihm. Er hörte in Ruhe zu, wie sich der blonde Lackaffe in einer der Kabinen eine Line Koks reinzog. Als sein Opfer ans Waschbecken trat, tauchte er hinter ihm auf. Er sah noch das überraschte Gesicht, als sein Totschläger auf den Hinterkopf traf. Ein dumpfer Aufprall, eine Weile zuckt und zittert der Leib noch. Wieder einer weniger.

"Sie müssen verstehen, daß ihre Krankenkasse nicht die ganzen Behandlungskosten abdecken kann. Das ist eine sehr spezielle Therapie. Und es ist die einzige, die ihrer Tochter noch helfen kann."
"Aber wo soll ich das Geld her kriegen?"
"Da kann ich Ihnen auch nicht helfen, ich bin nur Arzt. Versuchen Sie es bei Ihrer Bank oder bei Verwandten."
Er hatte das Geld nicht und er bekam es auch nicht. Und so war Lucia an Leukämie gestorben. Dieses zerbrechliche kleine Wesen hatte keine Chance. Und sie war immer so tapfer gewesen. Sie wußte nicht, daß sie sterben mußte. Sie war sich immer sicher gewesen, eines Tages wieder mit ihrem Vater spielen zu können. Er hatte sie neben seiner Frau beerdigt, die von einem Porsche-Geländewagen überfahren worden war.

Den nächsten Millionär überwältigte er im Schlaf und betäubte ihn mit Chloroform. Dann schleppte er ihn auf die Terrasse seiner Villa, steckte einen Schlauch in seinen Schlund und pumpte ihn mit Helium voll. Als er kugelrund davon schwebte, wartete er, bis der bewußtlose Rinderbaron über der Innenstadt war. Mit einem gezielten Schuß aus seinem Jagdgewehr holte er ihn herunter, er wirbelte davon wie ein geplatzter Luftballon.

Als er am nächsten Tag seinen Computer anschaltete, konnte er nicht nur von diesem Ereignis lesen, sondern auch von einem erschlagenen Bonzenschwein in Baden-Baden und einem vergifteten Vermögensverwalter in Zürich. Er lächelte, als er ans Fenster trat und auf die Menschen schaute.

Freitag, 6. März 2009

Vorstudie zu einer Phänomenologie des Umzugs


Der studentische, post-studentische oder pseudo-studentische Umzug bietet einen schönen Überblick zum Thema selbstorganisiertes Arbeiten bzw. Praxis der Arbeitsorganisation im Allgemeinen und zu einer Typologie des Arbeitnehmers, womit er natürlich weit über den eigentlichen Gegenstand der Betrachtung hinaus weist.

Da gibt es zunächst den Umziehenden, der für den Arbeitsanlaß sorgt, der naturgemäß das größte Interesse an einem erfolgreichen Abschluß der Arbeit hegt und der die Rahmenbedingungen des Umzugs wie Leistungsumfang, Zeitpunkt, Transportmöglichkeiten, Grundversorgung der Beschäftigten usw. setzt. Gerade die letztgenannte Grundversorgung wird im übrigen gleich zu Beginn von den Umzugsgehilfen lautstark eingefordert. Werden nur in unzureichendem Maße kaltes Bier und belegte Brötchen zur Verfügung gestellt, gerät die Arbeit schnell ins Stocken.

Wenn sie denn erst einmal begonnen hat. Ist als Arbeitsbeginn beispielsweise 14 Uhr angegeben, finden sich zu dieser Uhrzeit nur Novizen und tumbe Gesellen tatsächlich am Arbeitsort ein. Erfahrene Helfer verfahren bei der Planung ihres Erscheinungszeitpunktes wie bei einer Party: Man taxiert anhand eigener Erfahrungen und der Einschätzung der aktuellen Situation, wann der Höhepunkt des Ereignisses – also die maximale Anzahl Anwesender und die beste Stimmung – erreicht sein wird und erscheint genau zu dieser Zeit. Dies ist im Regelfall ein oder zwei Stunden vor Ende des Umzugs/der Party. In unserem Beispiel kann man für den Umzug vier Stunden bei voller Besetzung rechnen. Hierbei ist schon berücksichtigt, daß zu Beginn und am Ende des Arbeitsvorgangs niemals die volle Anzahl der erwarteten Helfer anwesend sind. Dazu aber später mehr. Dauert der Umzug also von 14 bis 18 Uhr, so empfiehlt sich ein Erscheinen zwischen 16 und 17 Uhr. Alles andere, also jeder frühere Zeitpunkt, wird mit einem überproportionalen Arbeitsanteil, Langeweile und der Teilhabe an den organisatorischen Problemen bestraft, die jeden Projektbeginn kennzeichnen. Wer dann kommt, wenn die maximale Anzahl von Beschäftigten anwesend ist, wird mit einem vergleichsweise geringen Arbeitsanteil und der Teilnahme an einer funktionierenden, bereits teilroutinisierten Arbeitsorganisation belohnt.

Es ist im übrigen nicht so, daß bei der maximalen Teilnehmerzahl die meiste Arbeit verrichtet wird. Erfahrungsgemäß werden zu diesem Zeitpunkt das meiste Bier getrunken und die letzten Brötchen verzehrt. Die große Anzahl der Helfer führt zu einer Auflösung jeglichen Verantwortungsgefühls und aller Solidarität, mancher vergißt im angeregten Gespräch mit Kollegen sogar den eigentlichen Anlaß seiner Anwesenheit. Dieses Phänomen läßt sich immer bei großen Menschenansammlungen beobachten, ob es sich um Hilfe bei einem Straßenraub, um einen Autounfall oder eben um die Arbeit handelt: Je mehr Personen beteiligt sind, um so weniger fühlt sich die einzelne Person beteiligt – bis zum Zustand völligen Teilnahmslosigkeit. In Wirklichkeit belauern sich alle Anwesenden natürlich ständig. Wer sich zu früh bewegt, hat verloren und büßt Sozialprestige ein. Es gilt den geheimnisvollen Augenblick zu erwischen, an dem die Arbeitsgruppenmitglieder plötzlich, wie ein auffliegender Vogelschwarm, die Flaschen abstellen und für wenige Minuten in scheinbare Aktivität verfallen. Wer dann nicht mitmacht, gilt schnell als Sozialschwein und muß strategische Nachteile bei der anschließenden Bierverteilung befürchten. In diesen Zustand taucht der Umzugsprofi ein, der kurz vor fünf erscheint und gleich zielstrebig den Kühlschrank ansteuert.

All dies muß der erfahrene Umzieher wissen, bei der Planung des Arbeitsbeginns, bei der Vergabe seiner Biervorräte und bei der Rekrutierung von Personal. Ähnlich wie in einem Hochschulseminar gibt es nämlich im Vergleich zu den Anmeldungen bzw. zu den mündlichen oder zumindest fernmündlichen Zusagen einer Teilnahme beträchtliche Abweichungen: Einige kommen später und bleiben bis zum Ende, einige kommen früher und gehen bald wieder, einige kommen einfach gar nicht. Ihnen allen ist gemein, daß sie eine Ausrede haben. Blühende Prosa bekommt man von den vollständig Ferngebliebenen geboten, hier werden dem Hörer – analog zum bekannten Jägerlatein oder Seemannsgarn – phantastische Erzählungen aus vollen Fässern gezapft. Kleine und große Katastrophen werden bemüht, Krankheit oder Tod von nahestehenden Menschen oder doch zumindest Haustieren vorgetäuscht, alte Sport- oder Kriegsverletzungen wortreich umschrieben. Genug. Davon wollen wir schweigen. Interessanter sind ohnehin die kleinen Ausreden der teilweise Beteiligten.

Wer einen Umzug organisiert, kann ihnen jedoch ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen und einige dieser Ausreden in seiner Planung antizipieren: Am Wochenende gilt es die Zeitpunkte von Sportübertragungen, Weinfesten, Parties usw. zu berücksichtigen, insbesondere den Arbeitsbeginn sollte man nicht zu früh ansetzen. Der wahre Profi wird jedoch durch die terminlichen Rücksichtnahmen nicht zu beeindrucken sein, er steht im Stau, verschläft gerne, hat einen alten Freund getroffen oder muß noch dringend das Auto der Freundin reparieren. Nur der Novize oder der Trottel sind während des ganzen Umzugs anwesend. Tröstlich ist zumindest für den aufmerksamen Novizen, daß er mit jedem Umzug lernt und seinen Arbeitsanteil im Laufe der Jahre verringert. Wie überall im Berufsleben arbeiten die Anfänger eben mehr als die älteren, erfahrenen Kollegen. Ein Sonderfall des Umzugs-Profis ist, nebenbei bemerkt, der Standby-Helfer. Dieses Phänomen läßt sich allerdings nur in Kombination mit dem Organisations-Novizen beobachten, erfahrene Umziehende ziehen diese Variante erst gar nicht in Betracht. Der Standby-Helfer verspricht auszuhelfen, wenn die Anzahl der tatsächlich zum Umzug Erschienenen nicht ausreichend sein sollte und geht am betreffenden Tag einfach nicht ans Telefon.

Wie man es aber auch dreht und wendet: Die Arbeitsorganisation ist immer suboptimal. Normalerweise ist der Umziehende von der Organisation der Gruppe schnell überfordert und setzt die vorhandenen Kräfte falsch ein. Dann erweist sich das Personal als grundsätzlich widerständig. Sie erhalten ihren kargen Lohn in Form von Bier und Brötchen, die naturgemäß nur knapp vorhanden und daher unverzüglich verbraucht werden müssen. Wer wartet, bekommt einen zu geringen Lohn. Gerade das Bier ist schnell alle. Wer ißt und trinkt, kann aber nicht gleichzeitig arbeiten. Wer arbeitet, kann nicht essen und trinken. Ein Teufelskreis. Die richtige Menge Bier bereitzustellen, um zwischen Panik erzeugender Knappheit und Arbeitsmoral zersetzender Trunkenheit odysseusgleich hindurch zu steuern, ist eine fast unmögliche Kalkulation. Auf diese Weise organisiert sich die Arbeit gleichsam naturwüchsig, also chaotisch. Niemand – vielleicht bis auf ein paar Anfänger und Idioten – ruft sein Leistungsvermögen auch nur annähernd ab, weswegen der ganze Umzug immer länger dauert als geplant. Jedenfalls ist vor seinem Ende das Bier alle.

Zusammenfassend ist also die Beauftragung einer Umzugsfirma oder ganz grundsätzlich die Anmietung möblierter Zimmer zu empfehlen. Denn die Möbelpacker bringen wenigstens ihr eigenes Bier mit – und viel billiger ist letztlich der selbständig organisierte Umzug auch nicht, stellt man den angemieteten Lkw, Bier/Brötchen und die Verluste an Geschirr, Schallplatten usw. in Rechnung, die von unwilligen Helfern absichtlich zerstört werden und die überhaupt nur da sind, weil sie wissen, daß sie eines fernen Tages auch mal wieder umziehen müssen.

Die Sorge des Stadtvaters


Gegen sechs Uhr morgens wurde die Stadt Wolfsleben angetrieben. Langsam drückten sich ihre ersten Häuser gegen die hölzernen Bootsstege am Ufer, die schließlich, nachdem sie wie gequält geklungen hatten, krachend zerbarsten. Wenig später saß sie endgültig und ein wenig schief auf dem Strand fest. Wir rieben uns verwundert die Augen, in den angeschwemmten Häusern wurden die ersten Fenster geöffnet. Nach einer Weile öffnete sich auch eine Tür, ein Mensch trat heraus und fragte, wo er denn sei. Die Stadt mußte sich nachts losgerissen haben und wurde offenbar von der Strömung hierher getrieben. Wir waren alle ein wenig ratlos.