Er brauchte ein ganzes Jahr. Dann hatte er endlich eine gute Idee. Der Job bei einem Schlüsseldienst war schlecht bezahlt, aber plötzlich wusste er, wie er sich sein Wissen und die Maschine, die er bediente, zunutze machen konnte.
Nach Feierabend ging er zum Hauptbahnhof und belegte drei Schließfächer, die nebeneinander lagen. Die Schlüssel nahm er mit, um sie am nächsten Tag zu kopieren. Das perfekte Geschäftsmodell war geboren.
Jeden Abend kurz nach Mitternacht betrat er den Bahnhof und schaute nach, ob ihm Beute ins Netz gegangen war. Er wartete, bis er allein war, und öffnete die Fächer. Meist waren es nur Reisetaschen mit Klamotten, die er kurz durchsah und wieder zurückstellte. Manchmal fand er ein paar Scheinchen oder ein Handy in den Taschen. Schnelles Geld. Keine große Sache. Ein Geschäft, das er mühelos klein halten konnte.
Bis er den schwarzen Aktenkoffer fand. Die Pistole. Das Säckchen mit den Diamanten.
Er steckte die Diamanten ein und verließ den Bahnhof. Sein Herz schlug im ganzen Brustkorb und im Hals, es musste riesig sein. Er keuchte vor Aufregung. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. War er auf den Überwachungskameras zu erkennen? Gab es Bilder von ihm im Internet? Er musste untertauchen. Seine sieben Sachen packen und die Wohnung verlassen. Nicht mehr zur Arbeit gehen. Die Klamotten wegschmeißen, sich die Haare schneiden und färben lassen. Außerdem musste er die Schlüssel loswerden. Was war mit Fingerabdrücken?
Er war noch nicht einmal am Ausgang und schon völlig erschöpft.
***
Antwerpen. In diese Bar gingen die Stripperinnen, wenn sie Feierabend hatten. Er hatte das gesamte Bargeld von seinem Konto abgehoben und dann die Kreditkarte zerschnitten. Bloß keine Spuren hinterlassen. Die Fahrkarte hatte er im Zug gekauft. Nach dem dritten Stella Artois fragte er den Mann neben sich am Tresen auf Englisch, wo man in dieser Stadt Diamanten kaufen konnte. „Diamantkwartier“ war die Antwort, dort gäbe es viele Geschäfte.
Trotz der Wegbeschreibung hatte er sich verlaufen. Sein Handy hatte er in der Wohnung gelassen, um zu vermeiden, von seinen Verfolgern geortet zu werden. Schließlich gelangte er in die Hoveniersstraat und betrat das erstbeste Geschäft, in dem mit Diamanten gehandelt wurde. Er wartete, bis er allein im Laden war, und fragte den Verkäufer, ob man auch Diamanten ankaufe.
„Selbstverständlich“, sagte der Verkäufer. „Antwerpen ist der beste Ort auf der Welt, um Diamanten zu verkaufen. Sie haben sicher ein Zertifikat für Ihre Ware. Wenn sie die Herkunft der Diamanten nicht nachweisen können, wird es schwierig. Blutdiamanten werden von uns nicht angekauft.“
„Das ist ganz klar“, antwortete er. „Ich komme mit den Zertifikaten und der Ware zurück.“ Dann war er gegangen. Es war schwieriger als gedacht. Also musste er die Diamanten, die ironischerweise wieder in einem Schließfach im Hauptbahnhof lagen, schwarz verkaufen. Er nahm sich ein Hotelzimmer. Hundertzwanzig Euro pro Nacht. Sein Bargeld würde nicht lange halten. Er saß auf dem Bett und dachte nach.
***
Er sah den Wellen zu, die von flüchtigen Schaumkronen geschmückt waren. Sie kamen und vergingen, es hörte nie auf. Er hatte sich am Vormittag in ein Internet-Café gesetzt und versucht, etwas über den Verkauf von Diamanten zu lernen. Es war kompliziert. Er gehörte nicht in diese Welt. Würde er es überhaupt überleben, wenn er sich auf Geschäfte mit Kriminellen einließ? Er war allein und unbewaffnet. Sollte er es mit einem einzelnen Diamanten in einem Pfandhaus probieren?
Der Hafen von Antwerpen war riesig, unüberschaubar. Endlose Containerfelder, Tanks und Lagerhäuser. Ozeanriesen, die von hier bis weit ins Hinterland fahren konnten. Eine Fläche, so groß wie seine Heimatstadt. Er lief ziellos durch das Gelände und dachte nach. War es der Anfang eines neuen unbeschwerten Lebens im Luxus oder endete seine Geschichte hier? Als Antwort bekam er nur das höhnische Kreischen der Möwen.
Er war am Ende erleichtert, als der Mann ihn ansprach. Er war um die fünfzig und hatte freundliche, hellbraune Augen. Seine Stimme war ruhig. Alles an diesem Mann strahlte Ruhe aus. Der lange, anthrazitfarbene Mantel, die gepflegten Lederschuhe, der gestärkte Hemdkragen, der dunkelblaue Schlips. Es hatte fast den Anschein, als lächele er.
„Geben Sie mir einfach den Schlüssel“, sagte er. „Machen Sie keine Schwierigkeiten.“
Juliana Chahayed – Valerie.
https://www.youtube.com/watch?v=Aa_uc9_lWMA