Sonntag, 24. Mai 2015

Das Problem des Journalismus

„Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustand der Bändigung und Zähmung.“ (Arthur Schopenhauer)
Der Journalismus und die Kritik am Journalismus spiegeln die aktuelle gesellschaftliche Lage wider. Die Gesellschaft zerfällt, nicht nur materiell in diverse Statusgruppen, nicht nur in verschiedene Religionen, Kulturen und Subkulturen, sondern auch in ihren politischen Einstellungen in ein Nebeneinander von Meinungen und Argumentationsketten. Man nennt das Pluralismus. Individualismus ausdefiniert bedeutet eben: Es gibt Menschen, die an Gott glauben, und Atheisten, es gibt Menschen, die an unterschiedliche Götter glauben, und Atheisten, die aus ihrer Erkenntnis unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen, es gibt Fleischesser und Tierfreunde, es gibt fleischessende Tierfreunde, es gibt Amerikaversteher und Amerikahasser, es gibt Fallschirmspringer und Menschen mit Höhenangst, und ich könnte jetzt ewig so weiter machen. Alle zusammen bilden die sogenannte „pluralistische Gesellschaft“, die ich noch aus dem Soziologiestudium kenne. Das ist auch kein Problem, solange man es akzeptiert, dass andere Leute auch andere Einstellungen haben.
Genau hier fängt das Problem an: Die Gesellschaft ist inzwischen soweit zerfallen, dass die Akzeptanz fremder Meinungen schwindet. Man hört sich die Argumente der Andersdenkenden nicht mehr an, man verhöhnt sie. Über Menschen mit einer anderen Meinung macht man sich einfach hemmungslos lustig oder man reagiert aggressiv. Du kritisierst die israelische Siedlungspolitik der konservativen Regierung in Jerusalem? Dann bist du ein Antisemit. Du gehörst in die Nazi-Schublade. Du kritisierst die Massentierhaltung und die damit verbundene Tierquälerei? Dann bist du ein Öko-Spinner mit Birkenstockzwang und trägst einen Aluminiumborsalino, weil du dich vor den Psychostrahlen der kapitalistischen Raumstationen schützen willst. Im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland unterstützt du nicht vorbehaltlos die Ukraine wie unsere Regierung? Dann bist du die fünfte Kolonne Moskaus. Du sprichst von „Lügenpresse“? Rechter Honk von der Pegida. Gegen die Freihandelsabkommen mit den Amis? Linker Honk ohne Ahnung von Wirtschaft. Muslim? Terrorist! Und so weiter. In Sekundenbruchteilen kläffen wir uns reflexartig unsere Vorurteile ins Gesicht, ob wir nun Journalist sind oder nicht. Wir diskutieren nicht mehr miteinander, wir haben feste Meinungen und billigste Polemik. Oder hat jemals der Teilnehmer einer Fernsehtalkshow seine Meinung geändert? Wir akzeptieren nur noch Informationen, die zu unserem Weltbild passen. Das nennt man in der Fachsprache „Eklektizismus“ oder „selektive Wahrnehmung“.
Auch hier sind die Medien ein Spiegelbild der Gesellschaft. Sie vertreten eine bestimmte Meinung und blenden andere Meinungen aus. Über kritische Leserzuschriften macht man sich entweder lustig oder man verhindert ihre Veröffentlichung. Die sogenannten Mainstream-Medien, die großen Fernsehsender und Zeitungen, bilden in ihrer Berichterstattung nur noch einen Teil der pluralistischen Vielfalt der Gesellschaft ab. Darum verlieren sie auch permanent Zuschauer und Leser. Wer seine Meinung – so absurd sie auch sein mag – in diesen Medien nicht mehr wiederfindet, wandert ab. Er findet im Internet genug Seiten, auf denen er sich mit Gleichgesinnten treffen kann. Viele Medienkonsumenten haben das Gefühl, die Meinungsvielfalt sei zugleich in der Gesellschaft gewachsen und in den Medien gesunken. Früher konnte man sich darauf verlassen, dass die Bild-Zeitung und Der Spiegel in politischen Fragen verschiedene Meinungen vertreten haben. Das ist heute nicht mehr der Fall. Egal, ob man sich die Tagesschau ansieht oder die Süddeutsche Zeitung liest, überall erzählt man uns die gleiche Geschichte: O wie schön ist Amerika und was haben wir doch für eine phantastische Bundesregierung.
Das ist ein bisschen wenig. Dazu kommt noch ein anderer Punkt: Man sollte sich von der Vorstellung verabschieden, dass man Leser und Zuschauer mit Fakten und Argumenten überzeugen kann. Diese Zeiten sind vorbei, in der Öffentlichkeit wie in ihrem Spiegelbild der veröffentlichten Meinung. Der Medienkonsument, der zahlende Kunde, möchte sich mit seiner subjektiven Vorstellung von Wahrheit bei der Lektüre einer Zeitung oder vor dem Bildschirm wiederfinden. Früher hat der linksalternative Leser seine taz gehabt und bekam schon beim Frühstück seine Meinung bestätigt. Der konservative Leser hatte die FAZ und konnte nachlesen, wie die Welt aus seiner Sicht zu beurteilen ist. Beide waren bereits am frühen Morgen zufrieden. Wenn alle Zeitungen und Sender aber das gleiche Narrativ verbreiten, sinkt natürlich die Zahl der Menschen, die sich von diesem Narrativ angesprochen fühlen. Sie gehen dann ins Internet, um wieder das gute Gefühl zu haben, dass man ihre Sicht der Dinge teilt. Dort ist die pluralistische Vielfalt der Meinungen noch intakt und man erhält gratis die Bestätigung, mit seinem Weltbild nicht allein zu sein. Die Mainstream-Medien ähneln inzwischen den Parteien: Sie bilden die Mitte, die Langeweile, den großen Kompromiss, den immer weniger Leute teilen. Und so ist der Journalismus ein Spiegelbild der Gesellschaft: Die Erosion der Verkaufszahlen ist ein Zeichen der Erosion der Gesellschaft. Egal, ob es sich um Gott oder „Wetten, dass …?“ handelt, die Zeit der großen Lagerfeuer ist vorbei. Vielleicht ist Journalist ja ein aussterbender Beruf?
P.S.: In Deutschland kommen noch zwei besondere Aspekte hinzu. Erstens sind die Deutschen, zusammen mit den Japanern, das älteste Volk der Erde (Durchschnittsalter: 46 Jahre). Und alte Leute diskutieren bekanntlich nicht gerne. Sie haben bereits eine Meinung und das schon sehr lange. Zweitens gibt es im Neobiedermeier des Jahres 2015 eine in weiten Teilen entpolitisierte Öffentlichkeit. Die alten Deutschen haben es sich in ihrem Leben bequem gemacht, sie haben ihre liebgewonnenen Gewohnheiten, sie sind unbeweglich geworden. Und politische Debatten sind, wenn man sie ernst nimmt, etwas sehr unbequemes, sie könnten zu Veränderungen führen. Veränderungen möchte man aber nicht. Man hat seinen festen Beruf, seinen festen Wohnort – und eben seine feste Meinung. Die einzige erfolgreiche Neuerscheinung dieses Jahrhunderts war darum „Landlust“ von einem totalen Außenseiter, dem Landwirtschaftsverlag Münster. Verkaufte Auflage im ersten Quartal 2015: 1.065.624 Exemplare pro Ausgabe.
The Doors - Riders On the Storm. https://www.youtube.com/watch?v=DED812HKWyM

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