Mittwoch, 30. April 2014

Hexennacht

Heute Nacht ist Hexennacht. Früher ist die Dorfjugend in den Wald gefahren und hat einen Maibaum gefällt. Dieser Baum wurde dann an der Kreuzung vor der Dorfkneipe mitten in Schweppenhausen aufgestellt. In jedem Dorf stand ein Maibaum und es war Teil des Spaßes, die Maibäume in anderen Dörfern wieder umzuwerfen. Also musste der Maibaum die ganze Nacht – unter Zuhilfenahme geistiger Getränke – bewacht werden. Damit es nicht zu langweilig wurde, waren die jungen Leute auch die ganze Nacht unterwegs, um zu „hexen“. Gartentüren, Blumenkübel, Briefkästen und andere bewegliche Güter wurden von den Grundstücken der Dorfbewohner geholt und auf den Dorfplatz an den Maibaum getragen. Am nächsten Tag traf man sich dort, um seine Sachen wieder abzuholen und dabei Anekdoten über seine eigenen Jugendstreiche auszutauschen. Vor der Hexennacht mussten also alle beweglichen Güter gesichert werden. Mein Vater hatte damals unseren Briefkasten, der an einem Pfosten befestigt war, hinter unser Haus getragen. Am nächsten Tag kamen um die Mittagszeit etliche Autos in unsere Straße, die wir dort noch nie zuvor gesehen hatten. Es wurden immer mehr. Leute stiegen aus und starrten unser Haus an. Irgendwann stand die ganze Straße voll und vor unserem Haus stand eine riesige Meute, die wild diskutierte. Wir betrachteten das ganze Schauspiel durch das Küchenfenster und waren ratlos. Was wollten die vielen Leute denn von uns? Irgendwann traute sich mein Vater vor die Tür und sprach die Menge an. Es stellte sich heraus, das eine Fuchsjagd veranstaltet wurde und eine Frage an die Teilnehmer lautete: Welches Symbol ist auf dem Briefkasten vor dem Haus mit der Nummer 15? Mein Vater sagte: Ein Posthorn. Und schon rannten alle zu ihren Fahrzeugen und eine Minute später war der Spuk vorbei. Dieses Brauchtum ist leider erloschen.

Leidenschaft, Teil 7

Bleibt als letzte Leidenschaft noch Film und Fernsehen. Es ist eine wahre Kunst, aus der Flut von Jauche einige Perlen herauszufischen. Fangen wir mit dem Film an. „The Big Lebowski“ ist die naturgetreue Verfilmung meines Lebens. David Lynch und Stanley Kubrick möchte ich als Regisseure hervorheben. Auch das Werk von Akira Kurosawa hat mir manche schöne Stunde bereitet, vor allem “Yojimbo, der Leibwächter“ und die Macbeth-Adaption „Das Schloss im Spinnwebwald“. Lachen kann ich beispielsweise über „Die nackte Kanone“, den einzigen Film, in den wir zweimal hintereinander gehen mussten. Beim zweiten Mal lachten wir immer schon vor den Pointen, weil wir ja wussten, was nun kommen würde. Wir waren natürlich die einzigen im Saal, die zeitversetzt lachten. Irgendwann lachte das ganze Kino mit uns, weil die Zuschauer ahnten, dass gleich ein Kracher kommen würde. Im Fernsehen fand ich immer Loriot, Polt und Monty Python witzig. Weinen kann ich beispielsweise über „Die letzten Glühwürmchen“, einen pazifistischen Zeichentrickfilm, über den ich in diesem Blog ausführlich am 27. Juli 2013 geschrieben habe. Bester Film mit politischer Aussage: „Fight Club“. Beste Zukunftsvisionen: „Blade Runner“ und „Zardoz“. Bester Dokumentarfilm: „Senna“. Größte schauspielerische Leistung: Robert de Niro in „Taxi Driver“.
Fernsehserien, denen ich gewogen bin, sind „Family Guy“, „Sons of Anarchy“ und „Here Comes Honey Boo Boo“. Letztere läuft leider nicht im deutschen Fernsehen. Es geht um das unfassbare Grauen, das eine amerikanische White Trash-Familie aus den Südstaaten durch ihre bloße Existenz darstellt. Man kann einfach nicht wegschauen, es ist wie bei einem schweren Verkehrsunfall. Die übergewichtige Frau, der hirntote Mann und die zur Hoffnungslosigkeit verdammten vier Kinder. Beispiel: Bei den „Redneck Games“ müssen Frauen in möglichst kurzer Zeit mit ihrem Mund möglichst viele abgehackte, rohe Schweinsfüße aus einem Wasserbecken hinaus befördern. So würdelos und komplett kulturfrei ist noch nicht mal das Leben in Weißrussland oder Somalia. Zu deutschen Filmen und Fernsehproduktionen möchte ich mich gar nicht äußern. Loriot und Gerhard Polt, na gut. Warum gibt es eigentlich den Grimme-Preis? Verdient hat ihn keiner.
Die Musik kommt heute von Tom Waits: „Downtown Train“. http://www.youtube.com/watch?v=hZhW76LAnTY

Dienstag, 29. April 2014

Leidenschaft, Teil 6

Ich bin gerne unterwegs. Ob auf Reisen in fernen Ländern oder auf Wanderschaft in der näheren Umgebung. Manchmal packt dich das Fernweh und nach einer Weile hast du dann Heimweh. Ich genieße dieses Wechselspiel der Gefühle. Ein Tag im Wald mit guten Freunden ist ein gelungener Tag. Besonders schön ist es im Oberengadin, am Silser See und im Fextal. Oder im winzigen Bilderbuchdorf Soglio kurz vor der italienischen Grenze. Die Luft ist unglaublich gut und der Himmel strahlend blau. Hier kann man in einer einzigen Herbstwoche sämtliche Jahreszeiten erleben, es schneit ein paar Stunden und schon bist du in einer völlig neuen Landschaft. In abgelegenen Gasthöfen und Berghütten kehren wir zu Brotzeit oder Rösti ein. Aber nicht nur in der Schweiz lässt es sich aushalten. Das Morgenbachtal im Binger Wald kann genauso bezaubernd sein wie die White Mountains in Neuengland. Am 1. Mai fahre ich in die Fränkische Schweiz zwischen Bamberg und Bayreuth. Reden und Wandern, Essen und Trinken. Auf Reisen braucht man weder Fernsehen, Internet oder Handy.
Diese Welt ist voller schöner Orte. Die endlosen einsamen Strände von Bahia, wo du nur gelegentlich mal einen Fischer triffst. Die mächtigen Sequoias in Kalifornien, deren Rinde so weich ist wie das Fell eines Tieres. Der nächtliche Blick aus dem Panoramafenster eines Appartements im 35. Stock auf die Wolkenkratzerkulisse Tokios. Die Prager Altstadt. Die freundliche Neugier der Kinder in afrikanischen Dörfern, wo wir einen Entwicklungshelfer besucht haben, oder im Supermarkt einer chinesischen Provinzstadt, wo die Kleinen stolz ihr Schulenglisch an mir erprobt haben. Überhaupt ist die Gastfreundschaft manchmal verblüffend. In einem sympathischen Küstenkaff namens Cambria hat uns mal ein Kellner nach einem späten Frühstück kurz vor Zwölf – er hatte Schichtende – mit zu sich nach Hause genommen, wo er uns sein kleines Tonstudio und seine eigenen Kreationen vorführte. Am Abend zuvor hatte ich den Autoschlüssel unseres Mietwagens abgebrochen, als ich versucht habe, mit ihm eine Flasche Wein zu öffnen. Zunächst mussten wir also an diesem Morgen einen Schlüsselmacher auftreiben. Ein anderes Mal stand eine ältere Dame im Restaurant vom Nachbartisch auf, begrüßte uns ganz herzlich in ihrem Land und fragte, ob sie etwas für uns tun könne.
Ich erinnere mich an die Tauchergruppe, die wir an der Steilküste der walisischen Insel Anglesey getroffen haben. Wir standen mit einer kühlen Dose Guinness auf der Wiese und schauten auf die Irische See, als der erste Mann im Taucheranzug über die Felskante kletterte. Langsam machte ich ein paar Schritte nach vorne und schaute auf das Meer hinunter. Zwei Dutzend Menschen schwammen dort unten, einige kletterten gerade die Felsen hinauf und sammelten sich alsbald in unserer Nähe. Es war wie im Film. James Bond nix dagegen. Und dann kam auch noch eine wunderschöne Frau, die Tauchermaske in der Hand (Flossen und Sauerstofftank lagen bereits auf dem Gras), zu uns herüber und gab mit der ausgesuchten Höflichkeit vornehmer Briten ihrer Hoffnung Ausdruck, uns auch um Gottes Willen nicht gestört zu haben. Ich schüttelte nur mit einem verlegenen Lächeln den Kopf. Mich stört nichts. Höchstens, dass mir kein intelligenter Satz einfällt, wenn ich auf die Schnelle mal einen brauche. Ich bin auf einer Reise und staune.
Es ist vor allem dort schön, wo die Ikonen der westlichen Konsumwelt fern sind. Aber die grauen Herren von der Zeit-Spar-Kasse fressen sich durch jedes Land. Flughäfen und Innenstädte sind die Brückenköpfe der Kommerzialisierung. Selbst in einem lamaistischen Kloster im Wutai Shan-Gebirge trugen die jungen Mönche Turnschuhe und amerikanische Schirmmützen, sie benutzten Handys und anderes Kleingerät. Ein Mönch sprach mich mit den Worten „Hello, money!“ an und streckte seine Hand aus. Eine solche Begegnung ist für beide Seiten kein Kompliment. Von all diesen Reisen habe ich weder Bilder noch Souvenirs mitgebracht, aber viele Erinnerungen und Notizbücher voller kleiner Geschichten.
P.S.: Das passende Musikstück ist eine Hommage an eine der wunderbarsten Städte der Welt: Barcelona. Queen und Montserrat Caballé. http://www.youtube.com/watch?v=ZDGubnE3Fus

Montag, 28. April 2014

Leidenschaft, Teil 5

„Nur nicht überschätzen, was ich geschrieben habe, damit mache ich mir das zu Schreibende unerreichbar.“ (Kafka: Tagebücher)
Bücher sind vielleicht meine größte Leidenschaft. Das liegt vermutlich daran, dass ich selbst schreibe. Ich lese fast jeden Tag mehrere Stunden. Es fing in meiner Kindheit mit Enid Blyton und Jules Verne an - und in meiner Jugend traf ich auf ihn: Franz Kafka. Die Klarheit der Sprache, die Würde des Romanpersonals, die Subtilität des Humors und die Vielschichtigkeit der Geschichten faszinieren und beschäftigen mich bis heute. Seine Romane und Erzählungen lese ich immer wieder, aber auch die Briefe und Tagebücher sind wunderbar. Legendär ist sein Tagebucheintrag vom 2. August 1914: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. Nachmittag Schwimmschule.“ Dieser Mensch hat eine Million Liebesbriefe geschrieben, aber kaum eine Zeile über die Jahrhundertkatastrophe des Weltkriegs, in der er sich befand. Reiner Stach ist Kafkas Biograph, bisher liegen zwei absolut lesenswerte Bände vor, der dritte und abschließende erscheint im Herbst diesen Jahres. Ein Freund von mir hat seinen Hund darauf dressiert, immer dann zu bellen, wenn Kafka zitiert wird. Wie der Hund das macht, weiß ich auch nicht.
Okay, das war nur erdichtet. Über Bücher könnte ich endlos schreiben, daher fasse ich mich kurz. Deutschsprachige Autoren, die mich ebenfalls seit Jahrzehnten begeistern: Robert Musil aus Deutschland, Thomas Bernhard aus Österreich und Robert Walser aus der Schweiz. Das einzige lesenswerte Buch in deutscher Sprache, das im 21. Jahrhundert geschrieben wurde, ist „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. Unter den lebenden Autoren dieser Welt möchte ich Haruki Murakami hervorheben. Seine Sprache ist auch nach der Übersetzung ins Deutsche noch sehr klar und schön. Zitat: "Sie verwendete in etwa so viel Zeit und Sorgfalt auf das Bestreichen der Toastscheibe, wie wahrscheinlich seinerzeit Rembrandt auf das Malen einer Gewandfalte." Die Romane laden zu vielfältigen Interpretationen ein, und es lohnt sich, sie nach einigen Jahren noch einmal zu lesen. Sein Opus Magnum ist „1Q84“, eine Liebesgeschichte. 1600 Seiten in drei Bänden und erst etwa auf Seite 1500 begegnen sich die beiden Hauptdarsteller, eine männermordende Rächerin (Auftraggeber: Frauenhaus) und ein Schriftsteller, in einem Paralleluniversum. Aber für das Lesen muss man ohnehin Langmut, Ruhe und natürlich viel Zeit besitzen. Ein gutes Buch schickt dich auf eine Reise durch Zeit und Raum. Das beste Kino ist der eigene Kopf.
“Regelmäßig schreiben! Sich nicht aufgeben! Wenn auch keine Erlösung kommt, so will ich doch jeden Augenblick ihrer würdig sein.“ (Kafka: Tagebücher)
Musik: Frankie Valli and the Four Seasons: Can’t take my eyes off you. http://www.youtube.com/watch?v=LcJm1pOswfM

Sonntag, 27. April 2014

Leidenschaft, Teil 4

Zu den großen Menschheitsfragen gehört: Was wollen wir trinken? Und nachdem wir diese Frage wahrheitsgemäß mit „Bier“ beantwortet haben, stellt sich uns die nächste große Menschheitsfrage: Was ist das beste Bier der Welt? Darüber kann man nächtelang diskutieren, im Streit auseinander gehen, sich wieder über den Gläsern versöhnen und weiterdiskutieren. Oder man weiß es ganz einfach. Das beste Bier der Welt kommt aus Franken. Sorry, Rest der Welt! Ihr hattet eure Chance. Obwohl tschechische Biere wirklich nah dran sind.
Aber natürlich ist nicht jedes fränkische Bier zu empfehlen. Das wäre ja auch viel zu einfach. Es fallen natürlich sämtliche großen Brauereien weg – Industriebier von der Stange. Es fällt natürlich auch ganz grundsätzlich Flaschenbier unter den Tisch. Tut mir leid, einsame Trinker von Regalware aus dem örtlichen Supermarkt. Bier aus der Flasche ist nur ein Notbehelf. Außerdem mach alleine trinken dumm, wie der rheinhessische Volksmund weiß. Selbstverständlich muss das Bier frisch gezapft und alsdann zügig getrunken werden. Am besten schmeckt es in den winzigen Dorfbrauereien der fränkischen Schweiz. Es ist in Franken mit dem Bier wie in Rheinhessen mit dem Wein. Es wird von hunderten kleinen Erzeugern direkt vor Ort hergestellt. Dieses Bier erreicht die Großstädte außerhalb Frankens gar nicht, selbst in den fränkischen Städten ist es schwer zu finden. Es muss vor Ort getrunken werden, denn im Gegensatz zum Wein ist ein frisch gezapftes Bier nur bedingt transportabel. Es findet seinen Weg gerade noch hinaus in den Biergarten, aber weiter kommt es nicht. Dann verschwindet es im Schlund eines durstigen Menschen. Das Charmante am fränkischen Bier ist es gerade, dass es nicht zu dir kommt. Du musst zu ihm kommen. In einer globalisierten Welt, in der wir neuseeländische Äpfel, chilenischen Wein, griechische Oliven und schwedische Möbel kaufen, hat das etwas geradezu Anarchistisches. Du kannst ein arabischer Scheich sein oder ein texanischer Milliardär – aber wenn du ein frisch gezapftes fränkisches Bier genießen möchtest, musst du deinen verdammten Arsch in das Dorf bewegen, wo dieses Bier gebraut wird. Oft gibt es auch nur ein einziges Gasthaus, das dieses Bier anbietet. Du musst dich also auch benehmen, wenn du wiederkommen möchtest. Und du musst erst einmal einen Platz bekommen.
Ich will aus der Vielzahl schöner Orte, an denen der Biergenuss noch gepflegt wird, exemplarisch drei herausgreifen, die mir spontan einfallen. Erstens die Brauerei Kathi-Bräu in Heckenhof bei Aufseß. Die Gegend hat die größte Brauereidichte des bekannten Universums. Es handelt sich um einen Bauernhof, auf dem – neben der Braukunst – auch noch Landwirtschaft betrieben wird. Hier wird an einfachen Tischen und Bänken ein dunkles Lager-Bier gereicht. Zweitens die Brauerei Kürzdörfer, ein uriges Holzhaus am Rand eines malerischen Dörfchens namens Lindenhardt, das auch „Fremdenzimmer“ (wie das scheue Frankenvolk es nennt) anbietet. Ich empfehle ein großes Helles für 1,90 Euro. Überhaupt sind Essen und Trinken auf dem Dorf unverschämt günstig. Gesunder Appetit und gesegneter Durst gleichen es aber finanziell wieder aus, damit im Gasthaus auch die Kasse klingelt. Drittens den Brauerei-Gasthof Herold in Büchenbach, wo das Beck’n Bier aus vollen Fässern gezapft wird. Dazu gibt es selbstgebackenes Brot und diverse Produkte aus der hauseigenen Schweinezucht. Bier, Brot und Wurst in ehrlicher Handarbeit – seit über vierhundert Jahren. Dafür lohnt sich die Reise.
Und nach ein paar Gläsern erwacht der Dschungel in dir und du willst Musik hören. Laute Musik. Und du willst tanzen. Du willst die Fehlfarben: „Tanz mit dem Herzen“. http://www.youtube.com/watch?v=dVcfy83W3lU

Samstag, 26. April 2014

Leidenschaft, Teil 3

Spaghetti Bolognese ist mein Leibgericht. Meine Mutter hat es immer für mich gekocht. Sie ist schon lange tot. Hier ist mein Rezept:
Im siedenden Öl der Pfanne wird zunächst Zucker angeröstet. Dann kommen Curry, Paprika, Zwiebeln, Knoblauch (mindestens eine ganze Zehe pro Person), Kümmel (viel Kümmel …), Fenchelsamen, Muskat und Wasabi (doch, doch!) dazu. Brutzeln lassen. Etwas später gehackte Tomaten und Petersilie hinzufügen. Zum Schluss wird das Rinderhackfleisch ins Spiel gebracht. Kein Tartar (in Berlin gibt es dafür das hässliche Wort „Schabefleisch“), denn das wohlschmeckende Fett des Hackfleischs ist wichtig für die gesamte Komposition. Es muss stark angebraten werden, um die Röstaromen zu entfalten. Ruhig einen ordentlichen Schluck von dem Wein in die Pfanne gießen, den man gerade trinkt, während man mit Freunden in der Küche hockt, schwatzt, lacht und kocht. Schadet nix. Dazu empfehle ich die Spaghettoni n. 7 von Barilla und frisch geriebenen Grana Padano in rauen Mengen. Mehr ist mehr, wie mein Bewährungshelfer zu sagen pflegt. Aber auch nicht übertreiben, gibt meine Psychotherapeutin regelmäßig zu bedenken.
Ich war mal, zusammen mit einer ZEIT-Redakteurin und einem Suhrkamp-Lektor, in der Jury bei einem Spaghetti Bolognese-Wettbewerb. Die Frage, welche Soße am besten schmeckt, kann sehr unterschiedlich beantwortet werden. Wir haben an diesem Abend lange debattiert und sind zu einer ganz grundsätzlichen Schlussfolgerung gekommen: Es gibt eine weibliche und eine männliche Variante von Spaghetti Bolognese. Die weibliche Variante ist fruchtiger, tomatiger, die männliche Variante ist fleischlastiger und häufig gemüsefrei. Jeder der Gäste hat seine persönliche Rezeptur zur Diskussion gestellt und am Ende war uns allen klar, dass es eine Million Möglichkeiten gibt, dieses Gericht zu kochen. Gewonnen hat übrigens Annette, die Männer hatten das Nachsehen.
Musik: „Was ist das Ziel?“ von Alexandra. Auch sie hat uns zu früh verlassen. http://www.youtube.com/watch?v=1DME7nvHq2g

Freitag, 25. April 2014

Leidenschaft, Teil 2

Information is not knowledge,
Knowledge is not wisdom,
Wisdom is not truth,
Truth is not love,
Love is not music,
Music is the best.
Frank Zappa. Damit ist alles gesagt. Ein Prachtkerl. Wir hören „Watermelon in Easter Hay“. http://www.youtube.com/watch?v=OcDHUeCPs0c

Donnerstag, 24. April 2014

Leidenschaft, Teil 1

Ich bin schon oft gefragt worden, warum ich mir denn um Himmels Willen Formel 1-Rennen anschaue. Das ist nicht einfach zu erklären. Zum einen mache ich es seit meiner Kindheit. Die Fußballweltmeisterschaft 1974 war die Initialzündung für meine Fußballbegeisterung und im gleichen Jahr habe ich angefangen, mich für Autorennen zu interessieren. Die Wurzeln der Leidenschaft verlieren sich in der frühen Kindheit, als ich mit Matchbox-Autos gespielt habe und ganz einfach einen Lamborghini Miura schöner fand als den Mainzer Dom. Zum anderen führt die Frage „Warum?“ in eine völlig falsche Richtung. Denn rationale Gründe und logische Ursache-Wirkung-Ketten lassen sich für das Interesse an diesem Sport nicht finden. Die Formel 1 ist nutzlos und schädlich, ganz klar. Die Leidenschaft speist sich also aus anderen Quellen, die der Vernunft und dem Verstand nicht zugänglich sind.
Im Fernsehen geht viel von der Atmosphäre eines Rennens verloren. Formel 1 heißt süßer, ohren- und hirnbetäubender Lärm, heißt ungeheure Geschwindigkeit, heißt Nervenbeben und Pulsrasen und hieß zumindest früher noch Angst. Angst um das Leben deines Fahrers und vielleicht sogar um das eigene Leben, denn in der Vergangenheit starben auch regelmäßig Zuschauer bei den Veranstaltungen. Der Geruch von verbranntem Gummi und Benzin. Hunderttausend Menschen sitzen mit dir im Motodrom und du fieberst gemeinsam mit ihnen um den Sieg. Die Nackenhaare stellen sich auf, kalte Schauer laufen über deinen Rücken und du schwitzt die ganze Zeit. Die Rationalität eines abendländischen Menschen wird für die Stunden eines Rennens durch die tierhafte Anspannung als Fan relativiert. Man vergisst alles andere und ist hinterher wirklich geschafft. Es ist etwas Irrationales, Bauchmäßiges und Geistfernes, das einem Außenstehenden schwer zu erklären ist, weil es sich nicht einfach in Worte fassen lässt.
Mit der Formel 1 verbinde ich aber auch eine Menge guter Erinnerungen. Ich blicke von meinem Schreibtisch auf ein sehr schönes, ganz in Schwarz gehaltenes Veranstaltungsplakat vom „John Player Special British Grand Prix“, den ich am 22. Juli 1984 gesehen habe. Damals haben wir uns schon in der Nacht mit unseren Campingstühlen und einem Kasten Bier in die Schlange der Fans gesellt, um am nächsten Morgen beim Kampf um die besten Stehplätze ganz vorne mit dabei zu sein. Es war ein herrlicher Tag. Das Rahmenprogramm begann schon Stunden vor dem Rennen. Formel 1-Fans sind wie Heavy Metal-Fans süchtig nach Lärm. Und lauter als ein Formel 1-Rennen ist keine Band der Welt. Als Höhepunkt des Vorprogramms donnerte eine Concorde im Tiefflug über das Motodrom. Gott, war das schön! Die Kinder schrien vor Schmerz, Hunde drehten völlig durch, aber die Fans blickten andächtig lächelnd in den Himmel. Nach dem Rennen gelangten wir durch ein Loch im Zaun gegenüber der Boxengasse auf die Strecke. Überhaupt konnte man, wenn kein Training war, ziemlich leicht in die Boxengasse kommen. Man konnte sogar durch die Boxen selbst spazieren und sich die Rennwagen aus der Nähe anschauen, nur bei McLaren und Ferrari ging das nicht. Wir haben mit Sir Frank Williams gesprochen und ich habe dem späteren Sieger Niki Lauda die Hand geschüttelt. Man hat damals für den Eintrittspreis von zehn britischen Pfund eine Menge geboten bekommen.
Ich habe auch deswegen so gute Erinnerungen an die Formel 1, weil wir natürlich nicht nur die Rennen gesehen haben. Beim Grand Prix von Monaco waren wir insgesamt eine Woche an der Cote d’Azur und haben uns auch Nizza, Cannes und Antibes angeschaut. Nach dem Grand Prix in Monza waren wir eine Woche in der Toskana. Wir haben uns Kultur gegönnt wie die Uffizien in Florenz oder die Tate Gallery in London, erfüllten aber zugleich auch so manches Fan-Klischee: Wir schliefen auf dem Campingplatz oder in einem Wohnmobil, wir hatten Dosenbier und Snickers zum Frühstück und ich besitze noch heute eine brasilianische Flagge. Inzwischen sehe ich mir die Rennen nur noch im Fernsehen an. Seit 2009 bin ich Vettel-Fan und blicke mit der Gelassenheit von vier Weltmeistertiteln auf das aktuelle Geschehen.
„Warum?“ Echte Freunde fragen nicht. Sie akzeptieren es.
Musik: „Ricky Masorati“ von Udo Lindenberg. http://www.youtube.com/watch?v=6TPEzMABZHE
Oder wie wäre es mit einem Stück von Sebastian Vettels Lieblingsband, den Beatles? „Helter Skelter“ ist mein Favorit. http://www.youtube.com/watch?v=5fvJEpdq8a8
P.S.: Gelegentlich erreicht mich aus der Damenwelt die Frage, warum es keine Frau in der Formel 1 gäbe. Meine Antwort: Motorsport ist Leistungssport und momentan hat keine Frau die Qualität, um ein Formel 1-Cockpit zu besetzen. Das beste Ergebnis einer Frau war der sechste Platz beim Großen Preis von Spanien 1975. Fünf Zuschauer verloren an diesem Tag ihr Leben, ein Fahrer wurde schwer verletzt: der in Führung liegende Rolf Stommelen. Er starb 1983 in einem Porsche bei einem Rennen in Kalifornien, am Ende noch dreihundert Stundenkilometer schnell. Die letzte Frau, die versucht hat, in die Formel 1 zu kommen, war Maria de Villota 2012. Bei Testfahrten verletzte sie sich schwer, in mehreren Operationen konnte ihr Gesicht wieder hergestellt werden, aber sie verlor ein Auge. Damit war ihre Rennsportkarriere beendet und sie musste ihre große Leidenschaft aufgeben. 2013 wurde sie in einem Hotelzimmer in Sevilla tot aufgefunden.
P.P.S.: Heute beginnt in München der Prozess gegen Bernard Ecclestone, den Impresario der Formel 1. Hoffentlich kommt er mit Uli Hoeneß in eine Zelle.
P.P.P.S.: Ich hoffe, Ihnen sind die sublimen Werbebotschaften im Text nicht entgangen, denn damit verdiene ich mein Geld. Lust auf was Süßes bekommen? Wie wäre es mit einem Snickers? Karamell und Erdnüsse, umhüllt von leckerer Schokolade … Denken Sie über den Kauf eines Neuwagens nach? Die Firma Porsche ist der richtige Ansprechpartner. Darauf trinken wir einen Jack Daniel’s Kentucky Straight Bourbon! Es gibt nichts Besseres.

Mittwoch, 23. April 2014

Brasilien, Teil 2

Ich bin damals nach Brasilien gereist, weil ich auf eine Beerdigung musste. Früher war ich ein glühender Formel 1-Fan und bin mit meinen Freunden regelmäßig zu den Rennen gefahren. Ich war in Monte Carlo, Monza, Silverstone und natürlich auf dem Nürburgring und dem Hockenheimring. Mein Lieblingsfahrer war und ist Ayrton Senna da Silva. Ich habe ihn viermal hintereinander in Spa-Franchorchamps siegen sehen (1988-1991) und nicht nur dort, das nimmt mir niemand mehr. Als er am 1.Mai 1994 in Imola beim Grand Prix von Italien in der Tamburello-Kurve sein Leben verlor, habe ich hemmungslos geweint wie ein kleines Kind.
Am nächsten Tag saß ich mit N., einem guten Freund und Senna-Fan aus SO 36, in der Taqueria am Heinrichplatz, weil es uns in unserem Schmerz und unserer Hilflosigkeit nach einer Caipirinha verlangte. Was sollten wir tun? Die Sonne war vom Himmel gefallen. Senna ist tot. Und wenn es mit dem Denken nicht mehr weitergeht, muss man etwas machen. Also beschlossen wir, am nächsten Tag nach Sao Paulo zu fliegen, Sennas Geburts- und Heimatstadt, in der er auch beerdigt werden sollte. Wir kamen am Mittwochmorgen um sechs Uhr Ortszeit auf dem Flughafen Guarhulhos an. Als wir gerade ausgestiegen waren und uns zur Passkontrolle begeben wollten, sahen wir, wie sich Soldaten um einen Jet der brasilianischen Fluggesellschaft Varig versammelten. Durch die großen Scheiben sahen wir, wie nur zwanzig Meter von uns entfernt der schlichte Holzsarg mit den sterblichen Überresten des schnellsten Menschen unseres Zeitalters zunächst auf eine Hebebühne und dann behutsam hinab auf brasilianischen Boden gebracht wurde. Eine Militärformation legte eine Fahne über den Sarg und trug ihn zu einem offenen Fahrzeug, auf dessen Ladefläche er aufgebahrt wurde. Inzwischen berichteten Kamerateams neben uns live von dem Ereignis. Die Frauen weinten, während die Flughafenbeamten ihre nassen Augen hinter verspiegelten Sonnenbrillen verbargen.
Als wir in einem Taxi in die Innenstadt fuhren, säumten unzählige Menschen den Weg Sennas vom Flughafen in die Stadt. Sao Paulo ist eine der größten Städte der Erde. Im Ballungsraum leben über zwanzig Millionen Menschen. In der Innenstadt fühlt man sich an Istanbul, Tokio oder New York erinnert – dagegen ist Berlin wirklich ein Kaff und der Ku’damm eine Dorfstraße. Wir nahmen uns ein Hotelzimmer in der Nähe der Praca da Republica im Zentrum und verfolgten die weiteren Vorgänge im Fernsehen. Senna wurde zum Parlamentsgebäude (Assembleia Legislativa) gebracht, also fuhren wir mit dem Bus zum Ort des Geschehens. Im Park, der das Gebäude umgibt, waren mindestens hunderttausend Menschen. Fahnenschwenkende Fans, weinende Mädchen (überhaupt waren drei Viertel der Trauernden Frauen – und selbst grauhaarige Großmütter hatten sich mit Farbe SENNA auf das Gesicht gemalt), Würstchenverkäufer, Reporter, ein in eine weiße Mönchskutte gehüllter Megaphon-Prediger (wir sahen ihn noch in den nächsten beiden Tagen durch die Fußgängerzone in der City ziehen) und natürlich: die Schlange.
Ich dachte, die Schlange vor Lenins Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau, in der ich 1984 gestanden habe, würde die längste meines Lebens bleiben. Weit gefehlt! Über eine Stunde liefen wir an ihr entlang, nur um das Ende zu finden. Kilometerlang zog sich die Menschenreihe über Brücken und Straßenkreuzungen. Wir beschlossen, erst einmal ein paar Bier zu trinken und die größte Hitze abzuwarten. Am Abend stellten wir uns dann ganz hinten an. Inzwischen hielten sich die Leute an den Händen. Nach zweieinhalb Stunden, N. sank tatsächlich eines der vielen ohnmächtigen Mädchen in die Arme, waren wir am Sarg. Der berühmte gelbe Helm und eine Rose lagen auf dem Deckel, im Hintergrund Angehörige und Prominenz. Vor der Halle zahllose Kränze und Andenken, die von den Fans hinterlassen wurden. Bis um acht Uhr am nächsten Morgen standen die Menschen an. Ich denke, einen solchen Abschied hat es, abgesehen von Inszenierungen in totalitären Staaten, wohl das letzte Mal beim Tod von Elvis Presley 1977 gegeben.
Am nächsten Morgen, es war inzwischen Donnerstag, war die Beerdigung auf dem Cemiterio de Morumbi, mitten in einem gepflegten Vorort im Südwesten Sao Paulos. Überall in der Stadt hingen Fahnen (die offiziellen auf Halbmast wegen der dreitägigen Staatstrauer) und Transparente mit der Aufschrift „Valeu Senna“. Eine Deutsch-Brasilianerin, die wir dort kennenlernten, übersetzte es mit: Vielen Dank, Mach es gut, Auf Wiedersehen, Es war schön. Der Begriff hat also eine ganze Vielfalt von Bedeutungen. Mit dem Taxi fuhren wir bis auf etwa zwei Kilometer an den Friedhof heran, zum Gutteil die Strecke, die der Leichenzug nehmen sollte. Überall Menschen, viele mit Transparenten und Fahnen – es sollen etwa drei Millionen gewesen sein. Wir standen in der Nähe des Friedhofeingangs, als der Zug vorbeikam: erst Motorräder und Polizeifahrzeuge, dann eine Reiterformation und danach der Wagen, auf dem der Sarg aufgebahrt war. Als der Leichenzug vorbei war, rannten einige Menschen in einen Feldweg hinein. Wir folgten ihnen wie in Trance, liefen durch Wald und sumpfige Wiesen zum Friedhofszaun. Überall Polizei und Militär. Dennoch gelang es uns, an den ersten Reihen vorbeizukommen und aus etwa hundert Meter Entfernung die Beerdigungszeremonie zu sehen.
Ayrton Senna ist ein Mensch, auf den die Brasilianer bis heute stolz sind. Kurze Zeit nach seinem Tod gewann die brasilianische Fußballnationalmannschaft die Weltmeisterschaft und widmete ihm ihren Titel. Am 1. Mai ist sein zwanzigster Todestag, und ich werde mit dem Freund, mit dem ich damals zur Beerdigung geflogen bin, in einem Bamberger Gasthaus auf ihn anstoßen. Valeu Senna!
P.S.: Für die musikalische Begleitung sorgt die unvergessene Maria Callas mit „O mio babbino caro“ aus der Puccini-Oper „Gianni Schicchi“. Sie hatte das unergründliche Lächeln einer antiken Statue. Dieses Lächeln strahlte Würde und zugleich Gelassenheit aus, es war meilenweit von dem seelenlosen Grinsen der heutigen Reklameschönheiten entfernt. Danke, Maria! Ein Leben ohne Musik ist möglich, aber sinnlos. http://www.youtube.com/watch?v=rnkhtjpZAqQ

Dienstag, 22. April 2014

Berlin zwischen Leben und Tod

Berlin lässt sich in drei Arten von Flächen und Gebäuden unterteilen: Orte des Lebens, Orte der Leblosigkeit und Orte des Todes. Fangen wir mit den Orten des Lebens an, denn noch ist die Stadt voll davon: Der Mauerpark, das Tempelhofer Feld oder die Spielplätze der Kinder vibrieren an schönen Tagen vor Virilität. Hier treffen sich die Menschen, die den Mut haben, ihre Wohnschachteln zu verlassen und den Blick von Monitoren und Displays zu erheben. Auf der anderen Seite gibt es Orte des Todes. Der Mauerstreifen ist ein Paradebeispiel. Er erinnert uns an die blutige Vergangenheit dieser Stadt. Wir erinnern uns offensichtlich nicht gerne an den dunklen Teil unserer Geschichte, deswegen ist der Berliner Senat auch unaufhörlich darum bemüht, den Mauerstreifen zu überbauen und die Mauerreste wie die East Side Gallery zu perforieren.
Viele Orte des Todes sind gar nicht mehr als solche bekannt oder zu erkennen. Nehmen wir als Beispiel das Otto-Suhr-Institut für Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin in der Ihnestraße. In diesem Gebäude – und im gegenüberliegenden Neubau – habe ich studiert. Das Gebäude war bis 1945 Sitz eines staatlichen Forschungsinstituts für „Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“. Der Massenmörder Dr. Josef Mengele lieferte aus den deutschen Konzentrationslagern menschliche Präparate für die „wissenschaftliche Arbeit“ in diesem Gebäude. Wir haben es nie gerne betreten. Es war, als sei dieses Haus durch das menschliche Leid spirituell verseucht. Nach meiner Promotion habe ich sechs Jahre lang am Deutschen Institut für Urbanistik gearbeitet. Das Institut befand sich damals noch im Ernst-Reuter-Haus (Straße des 17. Juni 110-114). In diesem Gebäude war bis 1945 im Ostflügel die „Organisation Todt“, das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition, und im Westflügel Hitlers Chefarchitekt Albert Speer mit seinen Mitarbeitern untergebracht. Von hier aus wurden Zwangsarbeiterheere dirigiert und das industrielle Töten organisiert. Auf dem Dach des Gebäudes war noch die Plattform der Flakstellung zu sehen. Es ist ein bedrückendes Gefühl, in diesen Räumen zu arbeiten. Wo ich mit meinen dunkelblauen Chucks und in meiner abgewetzten Jeansjacke durchgeschlurft bin, haben früher Nazis gearbeitet. In ihren grauen Uniformen haben sie ihre Vorgesetzten morgens mit einem zackigen „Heil Hitler“ begrüßt. Auf ihren Schreibtischen haben sie den Stempel auf Todesurteile gedrückt. In diesem Haus lebte einmal der Hass.
Kommen wir zurück ins Jahr 2014: Die Stadtplanung und die Bauherren produzieren gegenwärtig permanent neue Orte der Leblosigkeit. Lebendige Orte wie der Mauerpark und das Tempelhofer Feld sollen bebaut werden. Die Flächen werden bis zur Bürgersteiggrenze und bis auf den letzten Nanometer für gruselige Betonmonster ausgereizt und falls der Bebauungsplan eine taschentuchgroße Fläche für andere Zwecke vorsieht, bastelt man etwas Alibi-Grün in eine Ecke, das mit Natur nichts mehr zu tun hat. Orte der Leblosigkeit sind etwa die Treptow Towers und die zahllosen anderen neuen Bürowürfel, aber auch das neue Wohnviertel in Stralau oder die seelenlose Hässlichkeit namens „Bundesschlange“ am Moabiter Spreeufer. Es sind Totgeburten der Effizienz. Gebäude vom Fließband. Endlose Fensterreihen im Gleichschritt. Kalte Farben. Industriegebüsch, an dem noch das Preisschild baumelt. Pjöngjang an der Spree. Und was für die Architektur gilt, kann auch für die Planung des Berliner Senats konstatiert werden. Die Debatte um das Tempelhofer Feld beleuchtet schlaglichtartig das Kernproblem der aktuellen Stadtentwicklung: Die Kurzfristigkeit der Profitmaximierung führt zu einer Kurzsichtigkeit der Planung. Es wird systematisch ausgeblendet, dass Flächen, wenn sie erst einmal bebaut sind, für die Allgemeinheit für immer verloren sein werden.
Auf lange Sicht muss Berlin sich entscheiden: Leben oder Tod? In welche Richtung wird sich die große Stadt entwickeln? Im Augenblick manifestiert sich in Berlin die kommunal geplante und von den unterschiedlichsten Bauherren umgesetzte Leblosigkeit. Die Bedeutungslosigkeit der aktuellen Architektur ist eine direkte Folge der Mut- und Einfallslosigkeit der Bauherren, sei es die öffentliche Hand oder private Investoren. Innovative Planer und Architekten bekommen in der Hauptstadt keine Chance. In Berlin wird die geistige Verelendung dieser Republik in Beton gegossen.
P.S.: Tiger, die Kralle von Kreuzberg, klärt uns über das Leben auf der Baustelle Berlin auf. http://www.youtube.com/watch?v=d0T9dHn0MSU. Aber auch seine anderen Kommentare sind sehenswert. Pars pro toto: http://www.youtube.com/watch?v=bX48mq88IdM. Tamam!

Montag, 21. April 2014

Brasilien, Teil 1

Wir sind alle Stadtmenschen, ob wir in Berlin oder in Schweppenhausen leben. Das ist mir vor zwanzig Jahren im brasilianischen Dschungel klar geworden. Ich war mit einem Freund und einem einheimischen Führer im Urwald unterwegs. Und wenn du am Amazonas im Wald bist, dann ist das etwas anderes, als wenn du durch den Grunewald gehst. Kein Weg, keine Schilder und die Bäume stehen so dicht, dass du höchstens zehn Meter weit sehen kannst. Selbst den Himmel siehst du nicht, du siehst einfach nur Wald, sonst nichts. An einer Stelle machten wir Rast und der Brasilianer sagte zu uns, wir sollten kurz auf ihn warten. Er wolle nur eine Flasche Zuckerrohrschnaps holen, die er an einem Bach versteckt habe, und sei gleich wieder zurück. Einen Augenblick später war der Mann verschwunden. Wir standen da und warteten. Wir plauderten, die Minuten vergingen. Wir hatten bald nur noch ein Thema: Was wäre eigentlich, wenn der Typ nicht mehr zurück käme? Wir kannten uns im Urwald nicht aus, wir hätten niemals den Rückweg gefunden. Wir wussten noch nicht mal, welche Pflanzen man essen kann und welche nicht. Wir waren vollkommen hilflos. Wir hätten nicht lange überlebt. So einsam habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Wir waren Stadtmenschen, die plötzlich allein in der Natur sind. Und wir waren sehr erleichtert, als unser Führer zurück kam und wir einen kräftigen Schluck aus der Flasche nehmen konnten.
Es war eine tolle Reise. Eine Woche auf einem kleinen Kutter im Labyrinth der Nebenarme des Amazonas. Apocalypse Now nix dagegen. Das Beste von den insgesamt drei Monaten, die ich während meiner vier Reisen in Brasilien verbracht habe. Abends saßen wir in der Dschungelkneipe, einem Floß mit einer Holzhütte. Statt Coca-Cola-Reklame hing ein Malaria-Warnschild an der Wand. Kein anderes Gebäude im Umkreis von vielen Kilometern. Wir saßen bei Sonnenuntergang vor dem Eingang und sahen den Caboclos zu, den ortsansässigen Halbblutindianern, wie sie in ihren Kanus zur Kneipe ruderten und anlegten. Alle tranken Bier. Eiskaltes Bier aus großen Flaschen, die man miteinander teilt. Ich habe noch nie gesehen, wie ein Brasilianer eine Caipirinha trinkt. Ein liebenswertes und gastfreundliches Volk von Biertrinkern. Als wir eines Abends die letzten Gäste waren, schaltete der Wirt den Dieselgenerator aus. Das Zeichen, dass man demnächst sein Bier ausgetrunken haben sollte, weil er Feierabend machen wollte. Kein Licht und keine Musik mehr. Bossa Nova, Lambada und Trallala waren plötzlich weg und du hast den Wald gehört. In der Dunkelheit hört man ohnehin viel besser. Du sitzt da und lauscht auf die vielen unterschiedlichen Stimmen der zahllosen Tiere. Weiter weg von deinem deutschen Alltag kannst du nicht sein.
P.S.: Ich habe „Der lachende Vagabund“ von Fred Bertelmann als Musikstück ausgewählt. http://www.youtube.com/watch?v=6ZNxndt6qvk

Sonntag, 20. April 2014

Es ist Spargelzeit

This one is dedicated to my man Mike, dem Kiezneurotiker aus Berlin, der über die, nach Familie und Freunden, wichtigste Sache der Welt schreibt: Essen und Trinken.
Heute waren wir mit der gesamten Familie (inklusive der juvenilen Vegetarismussimulation) beim Balkanesen im Nachbarort essen. Mein erster Spargel dieses Jahr. Geduldig habe ich gewartet und sämtliche Supermarktware aus Griechenland oder anderen Anbaugebieten gemieden. Aber jetzt ist er da. Spargel. Rheinhessen ist wie Brandenburg Spargelland. Zu irgendwas muss der Sand ja gut sein. Ich komme gleich zum Fazit: Leute, esst mehr Spargel! Mein Tipp: Geht zum Spargelbauern und holt euch „Bruch“ statt Stangenspargel. Das ist erstens billiger und zweitens könnt ihr euch die Spitzen raussuchen, das ist das Beste am Spargel. Zum edlen Gemüse empfehle ich eine gepflegte Salzkartoffel der Sorte „Linda“ (an dieser Stelle möchte ich die kleine Linda in Hamburg grüßen. Ist mein Osterpäckchen mit dem Buch und der Schokolade angekommen?), etwas zerlassene Butter und geröstete Pinienkerne. Dazu ein Glas wohltemperierter Riesling. Ein Genuss. Und nach dem Familienessen gab es zu Hause noch selbstgemachten Erdbeerkuchen. Danach musste ich meinen Wanstbändiger gleich zwei Löcher weiter machen.
P.S.: Wissen Sie, warum der Spargel in kniehohen Erdwällen angebaut wird? Damit man sich bei der Ernte nicht so tief bücken muss. Die Bauern sind ganz schön schlau.

Ein deutsches Phänomen: Besserwisser und Klugscheißer

Wir kennen sie alle. Sie sind unsere ständigen Begleiter, vor allem im Internet: Besserwisser und Klugscheißer. Am liebsten äußern sie sich anonym, denn es fehlt ihnen der Mut, ihr Gesicht zu zeigen und ihren wahren Namen zu nennen. Angeblich „wegen NSA und so“, aber es war schon so, als ich 1994 zum ersten Mal ins „World Wide Web“ gegangen bin (ich glaube, der Begriff „Internet“ kam erst später auf). Es gibt verschiedene Gruppen von selbstverliebten Schlaumeiern. Da gibt es zum Beispiel die Leute, die gegen Autos sind und für die Autofahrer das letzte sind, aber selbst mit dem Hochgeschwindigkeitszug und dem Flugzeug unterwegs sind. Nur mal so unter uns, Schweinchen Schlau: Auch Fahrräder sind Industrieprodukte, für die Stahl geschmolzen und Kunststoff erzeugt wird (Doch, Kevin, auch das Hollandrad, das du gebraucht gekauft hast). Konsequent wäre, wenn man nur zu Fuß unterwegs wäre. Und zwar barfuß! Ich kenne niemanden persönlich, der das macht, aber vor einem solchen Menschen hätte ich maximalen Respekt. Alle anderen dürfen gerne das ungewaschene Maul halten. Das an die Adresse aller Klugscheißer mit mobilitätsbezogenem Sendungsbewusstsein. Ich selbst besitze übrigens weder Auto noch Fahrrad und bin seit Jahren nicht mehr geflogen. Aber ich bin ein dankbarer und schweigsamer Beifahrer, wenn es zum wöchentlichen Einkauf in die Stadt geht (in meinem Dorf gibt es weder Bäcker noch Supermarkt – und die Bauern machen nur Wein, es gibt also auch kein Gemüse oder Obst hier).
Genauso wie die Autohasser sind die Vegetarier, die aber Fisch essen. Der Fisch auf eurem Teller ist ein totes Tier. Basta. Alles andere ist eine katholische Lebenslüge, die von Pfaffen erfunden wurde, die auch freitags etwas Proteinhaltiges auf ihrem Teller sehen wollten. Mir hat mal eine Vegetarierin bei einem Essen erklärt, Fische würden beim Getötet-Werden halt nicht so leiden wie ein Säugetier. Es war anlässlich einer Familienfeier, bei der es einen wunderbaren Hirschbraten gegeben hat. Aber nur für diese junge Dame musste extra ein Fisch zubereitet werden. Fisch: Die Lebenslüge der Vegetarier. Ungekrönte Könige der Bessermenschen sind ja Vegetarier mit Lederjacke. Leder … verstanden?! Und noch eine Botschaft an alle echten Vegetarier und Veganer: Auch Pflanzen leben. Und für euren Salat müssen viele Tiere sterben: Schnecken, Insekten usw. Doch Kevin, das sind ebenfalls Lebewesen wie du und dein Goldhamster. Ich halte auch nichts von diesem Bio-Rassismus, der Säugetiere über Insekten stellt. Auch ein Insekt hat das Recht zu leben! Verachtet nicht die Schnecken, nur weil sie hässlich sind! Konsequent wäre, sich nur von Obst wie Äpfeln oder Beeren und Nüssen zu ernähren, die man im Wald findet. Auch hier gilt für alle Weltverbesserer und Hobby-Pädagogen: Schnauze! Mind your own business. Aber genau das fällt dem typischen Deutschen schwer.
P.S.: Und während ich auf den ersten Mega-Klugscheißer mit Rechtfertigungszwang, der sich argumentationsmäßig permanent auf der linken Spur wähnt und sich in den Kommentarbereich meines Blogs traut, ruhig durch die Nase atmend warte, höre ich „Get Lucky“ von Daft Punk. http://www.youtube.com/watch?v=Z3W05t79ZWY

Samstag, 19. April 2014

Wenn der Tod kommt

Als Zivildienstleistender in der Altenpflege hatte ich es mit vielen Patienten zu tun. Wie in einem Krankenhaus kommen und gehen die Menschen. In einem Altenheim gibt es allerdings einen gravierenden Unterschied: Niemand verlässt uns lebend. Der Tod ist nie gleich, weder für die Patienten noch für das Personal. Der Tod kommt schnell, der Tod kommt langsam. Manchmal ersehnst du ihn dir, manchmal überrascht er dich. Da gab es zum Beispiel eine Frau, die mit einem Dekubitus eingeliefert wurde. Ihr ganzer Rücken war eine einzige, offene und übelriechende Wunde. Vier Wochen hat dieser Mensch Tag und Nacht die Station zusammen geschrien, bis sie endlich von ihren Qualen erlöst war. Wir alle waren erleichtert, als es vorbei war, aber wir mussten lange warten. Jeder von uns hätte ihr gerne das Kissen aufs Gesicht gedrückt, aber wir sind nicht der Tod. Der Tod muss kommen.
Ein anderes Mal habe ich einen alten Herrn vom Speisesaal, wo es das Abendessen gegeben hatte, zu seinem Zimmer begleitet. Ich sagte ihm, er solle sich schon mal hinlegen, ich käme später zu ihm zurück, um ihm beim Ausziehen zu helfen und ihn ins Bett zu bringen. Dann ging ich in die Küche, um beim Einräumen der Spülmaschine zu helfen und die Tische im Speisesaal abzuwischen. Als ich in sein Zimmer zurückkam, lag er tatsächlich auf seinem Bett. Ich dachte, er sei eingeschlafen, denn seine Augen waren geschlossen und sein Kopf war zur Seite gedreht. Ich schüttelte ihn, um ihn zu wecken. Erst sanft, und als er nicht reagierte, immer heftiger. Ich rief mehrmals seinen Namen. Schließlich bemerkte ich, dass ich eine Leiche schüttelte. Der Tod war auf leisen Sohlen ins Zimmer geschlichen, niemand hatte ihn bemerkt. Sein Zimmergenosse saß noch am Fenster, und ich musste ihm erklären, dass der Mann, mit dem er sich in den letzten Monaten angefreundet hatte, gerade gestorben war. Dieser gestandene Handwerkermeister hat in meinen Armen geweint.
Am nächsten Morgen gab die Oberschwester im Speisesaal den Tod des Patienten bekannt. Es herrschte wie immer in dieser Situation eine Stimmung, die mir Begriffe wie „Todesroulette“ oder „Todestrakt“ in den Kopf schießen ließ. Jeder Satz, den die Oberschwester sprach, wurde von den Patienten andächtig murmelnd wiederholt. Sie wurden sich plötzlich ganz klar ihrer Situation bewusst: Jeder von ihnen konnte der Nächste sein, auch der Gesündeste. Niemand konnte sich selbst von diesem tödlichen Spiel ausschließen. An welchem Tisch des Speisesaals, in welchem Zimmer der Station würde der Tod beim nächsten Mal zuschlagen? Noch waren sie lebende Menschen voller Geschichten, doch eines Tages würden wir mit ihnen verfahren müssen wie mit dem alten Mann am Abend zuvor: Augen zudrücken, waschen und gegebenenfalls rasieren, den Unterkiefer mit Leukoplast hochbinden, den Körper gerade hinlegen (damit er nach Eintreten der Leichenstarre in den Sarg passt), Hände ineinander legen, den diensthabenden Arzt wegen des Totenscheins holen und das Bestattungsinstitut informieren.
Herr Schmidtke war 85 Jahre alt, stammte aus Berlin und hatte als Hausmeister gearbeitet. Wenn seine Frau zu Besuch war, zeigte er mit seinem krummen Zeigefinger auf mich und krächzte: „Mein Pfleger“. So wie er es sagte, hatten diese Wörter nichts mit Besitz oder Herrschaft zu tun, sondern waren eine Auszeichnung, ein Privileg. Es hob mich aus der Belegschaft heraus. Niemand konnte den übellaunigen Alten leiden, der fast nur noch im Bett lag und über alles schimpfte. Mit diesem Kasernenhoftonfall eines Berliner Hausmeisters, der sein Leben lang das Gemecker der Mieter zu ertragen hatte und das Geschmiere unbekannter Lausbuben (das Wort „Graffiti“ kannte er nicht) entfernen musste. Er war nicht laut, aber ausdauernd. Wenn er aus dem Speisesaal mit dem Rollstuhl zurück ins Bett gebracht werden wollte, rief er so lange meinen Namen, bis ich endlich kam. Aber irgendwie haben wir uns großartig verstanden. Wenn wir alleine waren, redete er ganz offen mit mir über seine Vergangenheit, selbst über Sex. Das hätte ich einem alten Opa wie ihm nie zugetraut.
Morgens habe ich ihn gewaschen und angezogen. Wenn ich ihn in den Rollstuhl setzte, bekam er regelmäßig Erstickungsanfälle, bei denen er sich in seltsamen Zuckungen wand und die Augen verdrehte. Ich hielt ihn dann fest, klopfte auf seinem Brustkorb herum, schrie ihn an und gab ihm auch Ohrfeigen, um ihn aus seiner Ohnmacht zu wecken. Sein Blick ging durch mich hindurch, es war, als blickte er in unsichtbare Ferne. Hatte man ihn endlich soweit, dass er mit einem schwachen, langgezogenen „Ja“ antwortete und somit kundtat, dass er in meine Realität zurückgekehrt war, hörte es sich an, als käme der Laut aus einer großen Tiefe. Es war richtig unheimlich und ich dachte jedes Mal, nun sei das Ende gekommen. Aber dann lebte er doch wieder einen ganzen Tag. Eines Morgens jedoch weigerte er sich, in den Rollstuhl gesetzt zu werden. Er konnte kaum noch sprechen und ich gab ihm aus einer Schnabeltasse zu trinken. Als er fertiggetrunken hatte, drückte er meinen Oberarm und flüsterte: „Du bist mein Freund“. Das waren seine letzten Worte.
Gegen zwölf Uhr ging ich mit der Oberschwester in sein Zimmer, um seinen Kopfkissenbezug zu wechseln, da er stark schwitzte. Seine Frau saß an seiner Seite. Wir wechselten den Bezug und legten ihn von der Seitenlage in die Rückenlage. Die Oberschwester hielt seine Hand und sprach beruhigend auf ihn ein, aber er reagierte nicht. Das bläulich-weiße Gesicht wirkte eingefallen, wächsern. Er hatte zwar die Augen geöffnet, doch er schien nichts zu sehen. Wir wussten, dass es mit ihm nun zu Ende gehen würde. Die Oberschwester trat zur Seite und stellte sich links neben das Bett, Frau Schmidtke stand zur Rechten und hielt die Hand des Sterbenden, ich stand am Kopfende des Bettes. Er atmete stoßweise und rasselnd, die ganze Zeit blickte er auf einen imaginären Punkt schräg über mir. Die Oberschwester wiederholte immer wieder die Worte „und atmen“. „Und atmen“ – „und atmen“ – dann atmete er wieder. „Und atmen“ – „und atmen“ – jedes Mal ein geröchelter Atemstoß. Auf einmal hörte er auf zu atmen. Der Glanz seiner Augen wurde schwächer, sie flackerten und mit einem langsamen Senken der Lider verloren sie alles Menschliche. Es dauerte nur eine Sekunde, aber es war ein beeindruckender Moment.
Die Oberschwester wartete noch eine Minute, man hörte währenddessen nur das leise Schluchzen der Ehefrau, dann drückte sie ihm die Augen endgültig zu. Wir standen einfach da, alles um uns herum war vergessen. Es war, als sei in diesem Augenblick die Welt stehen geblieben. Und dann geschah etwas sehr Seltsames: Er begann wieder zu atmen, ein paar flache Atemzüge, kaum wahrnehmbar. Als ob er sich gegen den Tod oder besser: gegen das vorzeitige Zudrücken der Augen, dieses Symbol des Endes, wehren wollte. Sein Körper bäumte sich noch einmal auf und es war, als wollten seine ausgestreckten Arme nach mir greifen. Dann fiel er zur Seite und verzog das Gesicht, als wollte er weinen. Er war endgültig tot. Die Oberschwester betete mit Frau Schmidtke und ich wurde losgeschickt, um die Totenbahre aus der Leichenkammer zu holen. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn man aus dieser Stille, aus diesem mit Ehrfurcht erfüllten Raum, in den gerade der Tod gekommen ist, wieder hinaus in den Stationsalltag tritt.
Einige Tage später in diesem Sommer des Jahres 1986 hatte ich einen Traum: Ich stand an Herrn Schmidtkes Bett, als plötzlich der Tod herein kam. Ich sah ihn nicht, denn er stand in einer Ecke des Zimmers, der ich den Rücken zugekehrt hatte, und ich hatte Angst mich umzudrehen. Herr Schmidtke fuhr in seinem Bett auf und umklammerte mich. Dabei war sein Gesicht vor Entsetzen verzerrt, Mund und Augen standen weit offen. Der Tod kam näher und ich hatte plötzlich das beängstigende Gefühl, er wolle nicht nur Herrn Schmidtke, wie ich bisher angenommen hatte, sondern auch mich mitnehmen. Ich hatte große Furcht, denn der alte Mann umschlang mich mit ungeahnten Kräften und schien mich nicht mehr loslassen zu wollen. Dann erwachte ich aus dem Alptraum.
P.S.: Zur Exegese empfehle ich das Allegretto der siebten Symphonie von Ludwig van Beethoven. http://www.youtube.com/watch?v=upGp843o0iA

Freitag, 18. April 2014

Wir im Westen, die im Osten

Zum fünfundzwanzigsten Jubiläum des Mauerfalls wird es wieder jede Menge Ost-West-Vergleiche geben, die nach dem schlichten Schwarz-Weiß-Muster laufen: Der Westen war gut, der Osten war schlecht – schön, dass der Westen „gewonnen“ hat. Aber meine Erfahrung ist eine andere und sie ist geprägt von vielen Grautönen. Ich fand in den achtziger Jahren den Westen und den Osten gleichermaßen beschissen, aber der Westen war eben die bunt lackierte Scheiße und der Osten einfach nur unglaublich deprimierend.
Fangen wir mit dem Westen an. Ich habe 1985 den Kriegsdienst verweigert und hatte das Glück, nur ein schriftliches Verfahren durchlaufen zu müssen. Bis Ende 1984 gab es noch mündliche Verhandlungen. Ich habe es mir von Leuten erzählen lassen, die vor dieser staatlichen Kommission zur „Gewissensprüfung“ (so hieß das wirklich) stehen mussten. Das zuständige Kreiswehrersatzamt stellte eine Art rhetorisches Erschießungskommando aus Bundeswehroffizieren zusammen, das die pazifistische Gesinnung der Kriegsdienstverweigerer überprüfen sollte. Da wurde man zum Beispiel gefragt, ob man denn tatenlos zusehen wolle, wenn ein russischer Soldat die eigene Freundin, die eigene Schwester oder die eigene Mutter vergewaltigt. Wer diese Frage mit „Nein“ beantwortet hat, war durchgefallen und musste in die Kaserne. Damals gab es Betriebe, die Kriegsdienstverweigern keine Lehrstelle gegeben haben. Man wurde bestenfalls als „Drückeberger“ und schlimmstenfalls als „Fünfte Kolonne Moskaus“ beschimpft, wenn man im Krankenhaus oder für die Kirche gearbeitet hat. In dieser Zeit gab es in der DDR „Wehrkundeunterricht“, um die Kinder auf den nächsten Krieg vorzubereiten. Die Hardliner in der CDU forderten ein solches Unterrichtsfach auch bei uns im Westen. Die kapitalistische Propaganda, mit der wir täglich zugemüllt wurden, war unerträglich. Money talks – people listen. „Trink Coca-Cola!“
Auf der Suche nach einer Alternative habe ich die Welt jenseits des „eisernen Vorhang“ bereist: 1984 die Sowjetunion, 1986/87 dreimal die Tschechoslowakei und noch vor dem Mauerfall war ich auch in Ungarn, Polen und der DDR. Eine graue, tote Welt. Wer jemals einen sowjetischen Supermarkt betreten hat, weiß was ich meine. Leere Regale, alle paar Meter mal einige Gläser mit Rote Beete oder Gemüsekonserven. Trostloses Brot, fettige Wurst. An der Kasse wurde noch mit einem Abakus gerechnet, da wurden bunte Kugeln auf Schnüren hin und her geschoben, um auf die Endsumme zu kommen. Eine endlose Menschenschlange vor dem einzigen Burger-Laden der Stadt – und die Hamburger waren so gnadenlos beschissen, dass du Ronald McDonald auf Knien für einen BigMäc gedankt hättest. Aber die Menschen waren wie ich auf der Suche nach einer Alternative. Moskauer Jugendliche baten mich um eine Malboro und als ich ihnen die Packung hingehalten habe, nahmen sie gleich mehrere und steckten sie vorsichtig ein. Wahrscheinlich haben sie dieses kostbare Rauchwerk aus dem güldenen Westen für einen besonderen Augenblick aufheben wollen. In Leningrad (heute Petersburg) habe ich an einer Straßenecke auf meine Freunde gewartet, da hat sich eine Menschentraube um mich gebildet. Alle wollten mir meine schicke Jacke abkaufen, weil es so etwas im Osten nicht gab. Der Höchstpreis war ein durchschnittlicher Monatslohn plus Ersatzjacke. Die Situation, die mich am meisten deprimiert hat, war das Warten in einer Schlange vor einem Kiosk in Prag. Einige Meter vor mir brach eine alte Frau mit Kopftuch und langem Mantel plötzlich zusammen und blieb regungslos liegen. Niemand half ihr. Nach einer Weile war mir klar, dass sie tot sein musste. Ich habe im Zivildienst genug Tote gesehen. Schließlich hat jemand ihr Gesicht mit einer alten Zeitung bedeckt. Als ich mit meinem Suff und meinen Kippen zurück zum Wagen ging, lag sie immer noch da. Da wurde mir klar, dass der Osten genauso beschissen wie der Westen ist. Und die sozialistische Propaganda war tatsächlich noch unerträglicher, noch primitiver und noch hässlicher als unsere. „Der Sozialismus wird siegen!“
P.S.: Den Analogismus zur aktuellen Situation überlasse ich der hochgeschätzten Leserschaft.
Musik: “Twin Peaks Theme” von Angelo Badalamenti. http://www.youtube.com/watch?v=pXrjMaVoTy0

Donnerstag, 17. April 2014

Schweppenhäuser Sehenswürdigkeit: „Das Fels’chen“

Nach einem opulenten Mahl am Sportplatz – Spaghetti Calabrese an einem Dialog von Hopfen und Malz – beschloss ich, ein wenig durch den Wald zu spazieren. Nach einer kurzen Strecke des Weges sah ich einen Pfad, der nach links führte. Ich beschloss kurzerhand, ihm zu folgen. Der kaum handtuchbreite Pfad wand sich den Hügel hinauf. Bald sah ich zwischen alten Buchen und Eichen, umgeben von einem Meer von blühenden Anemonen, einen Felsen vor mir liegen. Er ragte flach ins Tal und bot eine prachtvolle Aussicht über die Felder, die andere Talseite und den Rand des Dorfes. Bei seinem Anblick erinnerte ich mich wieder an diesen Ort. Seit meiner Kindheit war ich nicht mehr hier gewesen.
Auf dem Felsen saß ein Mann.
Ich kam näher und schaute ihn an. „Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Keineswegs.“
Ich hatte ihn noch nie im Dorf gesehen, außerdem trug er merkwürdige Klamotten. Alles in grün, aber alles andere als neu. Also fragte ich neugierig: „Sind Sie zum ersten Mal hier?“
Er drehte sich zu mir um und sagte: „Das ist doch wohl nicht ernst gemeint. Ich lebe hier. Ich bin der Geist des Waldes!“
Ich schwieg eine Weile. War der Typ verrückt? Ein Geist? Eigentlich sah er ziemlich echt aus. Aber er hatte sich schon wieder umgedreht und blickte schweigend über das Tal.
„Herr Waldgeist?“ fragte ich.
„Was?“
„Darf ich fragen, ob Sie ein echter Geist sind?“
Er drehte sich wieder zu mir um. „Natürlich bin ich echt. Ich trage einen Geisterhut, Geisterhosen und eine Geisterjacke. Nach was sieht es denn aus? Sind Sie aus der Stadt oder was?“
Ich kratzte mich verlegen am Kopf und überlegte angestrengt, was ich darauf antworten sollte, aber mir fiel nichts ein. Also stellte ich ihm eine weitere Frage: „Herr Waldgeist?“
„Was ist?“
„Darf ich fragen, was Sie hier machen?“
„Ich bewache den Eingang.“
„Den Eingang?“
„Natürlich den Eingang. Was denn sonst? Was dachten Sie denn?“
Gut, ein Eingang. „Unter dem Felsen ist ein Eingang?“ fragte ich schüchtern.
Er nickte stumm und sah wieder ins Tal hinunter. Ein frischer Wind kam auf und ließ die Blätter in den Bäumen rauschen.
Nach einigen Minuten fasste ich mir ein Herz und stellte noch eine Frage: „Herr Waldgeist?“
„Was denn?“
„Wohin führt dieser Eingang?“
„In eine Höhle,“ brummte er.
„Ach so.“ Wieder schwieg ich. Die Vögel zwitscherten. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und stellte meine letzte Frage.
„Herr Waldgeist?“
„Was denn noch?!“
„Was ist eigentlich in dieser Höhle?“
„Der Schatz. Vollidiot! Würde ich sonst hier sitzen, wenn es in der Höhle keinen Schatz gäbe? Unter dem Felsen ist die Höhle und in der Höhle ist der Schatz. Ist das so schwer zu verstehen?“
Ich bedankte mich für die Auskunft und ging weiter.
P.S.: Am 1. Mai ist Fels'chenfest in Schweppenhausen. Die passende Musik ist von Adriano Celentano: “Una Festa Sui Prati.” http://www.youtube.com/watch?v=2rHCa6-nq3I

Mittwoch, 16. April 2014

Grandpa Simspon erzählt

Die letzte Fußballmannschaft, für die ich gespielt habe und die noch einen Namen trug, war Partisan Dahlem. Ein bunter Haufen, auch Frauen darunter. Reine Männermannschaften waren in dieser Alternativliga (DFB-freie Zone) nicht erlaubt. Unsere Abwehr bestand aus Kreuzberger Punks, die ganz modern mit Viererkette gespielt haben (weil die Punks den damals noch vorhandenen Unterschied zwischen Libero und Vorstopper ohnehin weder begriffen noch akzeptiert hätten) und mit ihren Springerstiefeln alles blind nach vorne gedroschen haben, was ihnen an Bällen vor die Füße kam. Teure Sportsachen gab’s nicht. Die Punks hatten sowieso nur dieses eine Paar Schuhe. Wenn einer von diesen Jungs mal die Stiefel ausgezogen hat … - alter Finne, das glaubst du nicht. Die Frauen haben teilweise mit Rock gespielt, schließlich wollte man hinterher noch ins Café oder in die Vorlesung. Kabine und Dusche gab’s natürlich auch keine. Klo? Ist überall, wenn man dringend muss. Selbstverständlich kam auch niemand mit einer „Sporttasche“, ein Kumpel (Typ: langhaariger Bombenleger) kam immer mit seiner Gitarre, weil er hinterher noch in der U-Bahn Geld verdienen musste. Trikots? Wer hätte die bezahlen sollen? Da musste man sich eben die Gesichter seiner Mannschaft merken. Wen man noch nie gesehen hatte, war offenbar ein Gegenspieler.
Partisan Dahlem bestand aus Studierenden der Soziologie, Ethnologie und der Politischen Wissenschaft an der FU. Gegen diese Truppe wirkte eine Sahra Wagenknecht erzkonservativ – von den grünen Volksverdummern ganz zu schweigen (Ich sage nur: Mülltrennung ist Opium für das Volk). Unser Motto: „Kein Gott, kein Staat, kein Mietvertrag“. Damals gab’s im Prenzlauer Berg noch besetzte Häuserblocks wie das legendäre „Dunckerland“, wo ein alter Freund aus Schweppenhausen mit seiner indischen Freundin gehaust hat. Wir waren beim Gegner beliebt, denn wir haben immer einen Kasten Bier zum Spiel mitgebracht und geteilt. Abseits und Schiri gab's nicht, das vereinfachte den Spaß ungemein. Die einzige Mannschaft, die den Ligabetrieb ernst genommen hat, war die Mannschaft der Sportstudenten. Die haben sich vorher „aufgewärmt“ (hallo?!) und hatten auch diese ganzen teuren Markenklamotten von Adidas und Nike, von Hastenichgesehen und Willstenichwissen. Die haben garantiert auch die Meisterschaft gewonnen, die Tabelle hing immer an der Uni an irgendeinem schwarzen Brett (das Internet war 1991 noch nicht erfunden).
Nach dem Studium habe ich nur noch in Parks und auf Bolzplätzen gespielt. Das war noch wesentlich entspannter, weil der Platz kleiner ist. Im Mauerpark, im Tiergarten und bei Besuchen in der alten Heimat auch in Ingelheim. Man musste halt immer mal wieder den Ball aus dem Gebüsch oder einem Bach fischen. Du wusstest nie, wer am Sonntagnachmittag vorbei kommt und gegen wen du spielst. Wir alten Säcke haben manchmal gegen Kindermannschaften gespielt oder einen Haufen Halbstarker mit Migrationshintergrund, die es einfach mal wissen wollten. Ich erinnere mich noch sehr genau an die amüsante Szene: Ihr Anführer, ein etwa vierzehnjähriger Bulgare, baute sich vor mir auf, weil er mich aufgrund meiner Körpergröße und meines Leibesumfangs offenbar für den Mannschaftskapitän hielt, und erklärte mir in einem minutenlangen Monolog, dass sie uns fertig machen würden, dass wir keine Chance gegen sie hätten, ey Alter, verstehst du usw. inklusive der Vorzüge der bulgarischen Fußballkunst im Allgemeinen und seinem persönlichen Talent im Besonderen. Ich will nicht prahlen, aber beim Stand von 10:1 haben sie den Platz verlassen. Verletzungen und Streitigkeiten gab es aber nie, schließlich musste jeder am Montag wieder zum Job oder in die Schule. Mit Ende Dreißig habe ich die Fußballschuhe endgültig an den Nagel gehängt, wie man das früher nannte. In Wirklichkeit stehen sie genauso ungeputzt wie damals unter meinem Drucker neben dem Schreibtisch.
P.S.: Musikalisch passt „White Punks on Dope“ von den Tubes ganz gut. Bitte voll aufdrehen. http://www.youtube.com/watch?v=FFltXDMQsQQ

Dienstag, 15. April 2014

Rätselhafte Sammlungen

In den neunziger Jahren habe ich zwei Sammlungen angelegt, deren tieferer Sinn sich mir heute nicht mehr so recht erschließen will: Tiefkühlpizzaverpackungen und Kassenbons von Supermärkten. Es handelt sich bei der erstgenannten Sammlung um etwa fünfzig gut erhaltene Kartons, von denen ich jeweils die Oberseite behalten habe. Es fällt, im Vergleich zu heutigen Pizzaverpackungen, zunächst auf, dass die „Cover“ wesentlich schlichter und optisch nicht so überladen wirken. Das Auge wird nicht durch Firlefanz wie „neu“, „Special Edition“, „Reise nach Australien zu gewinnen“ oder „Nur für kurze Zeit“ abgelenkt, sondern ruht auf der geradezu landschaftsartig dargebotenen Vielfalt an Formen und Farben auf der Oberfläche des eigentlichen Produkts. Beim Blättern durch das Album sehe ich, wie die Firma Wagner sich marketingtechnisch weiterentwickelt hat, ich treffe auf untergegangene Marken und erinnere mich beim Betrachten der abgebildeten Teigfladen sogar an meine Lieblinge zurück: Die Tiefkühlpizzas („Pizze“ für Leute, die auf der Toilette nicht scheißen, sondern defäkieren) von Feinkost Käfer, die es damals nur im KaDeWe zu kaufen gab. Das war geschmacklich immerhin untere Restaurantqualität, die Preise waren aber auch dementsprechend.
Ebenso aufschlussreich für meine Ernährung als Student sind die gesammelten Kassenbons, die ich in ein großes rotes Notizbuch geklebt habe. Die lila Tinte ist verblasst und offenbar wurde damals noch mit Nadeldruckern gearbeitet. Anscheinend habe ich mich fast ausschließlich von Aldi und Penny verköstigen lassen. Neben dem unvermeidlichen Wein, ohne den der Rheinhesse und der Pfälzer auch in der Diaspora langfristig nicht lebensfähig sind, ist die Liste der ausgewählten Nahrungsmittel überschaubar. Wurst, Schinken, Käse, Joghurt, Bananen, Mineralwasser. Gelegentlich Hähnchenbrustfilet, Nudeln und Putzmittel. Der Wein war damals sehr günstig: Moselwein für 1,99 DM, Saulheimer Domherr (ein Liter) aus Rheinhessen für 3,29 DM, Riesling aus dem Rheingau für 4,99 DM und französischer Rotwein für 2,99 DM. Das zahlt man heute, also zwanzig Jahre später, in Euro. Sahnepudding gab es für 59 Pfennig, ein ganzes Brot für 1,59 DM. „Hohes C“: damals 1,69 DM, heute 1,79 Euro! Ein Weizenbier hat bei Penny in der Berliner Trautenaustraße am 23.1.1995 nur 79 Pfennig gekostet. Vorbei, vorbei … ich blättere die Seiten durch.
Hier ein typisches Dokument aus dieser Epoche: „Riesling 1L 4,99, Riesling 1L 4,99, Edamer 40% 2,89, Gemuesemais 0,79, Apollinaris 1,25, Champign. I. Wahl 1,49, Pizza Speciale 3,99. Summe: DM 20,39“. Den 12.10.1994 habe ich so gestaltet: „Pfaelz. Landwein 2,25, Bing. St. Rochusk. 1,79, Arg. Rindersteaks 8,98, Selters-Wasser 1,19, Erdnusslocken 2,79, Kind. Ueberraschung 0,79.” Ja, die gute alte Binger St. Rochuskapelle, beliebtes Ausflugsziel und ein Wein mit einem exzellenten Preis-Leistungsverhältnis, besonders die Auslese. Goldene Erinnerungen … Was ich an diesem Tag gemacht habe? Keine Ahnung. Dazu steht nichts im Notizbuch. Aber es gibt doch den schönen Party-Spruch: Wer sich erinnern kann, war nicht dabei. Unter dem Datum 15.10.1994 findet sich der Eintrag: „Ich weiß nicht, was ich will, aber ich weiß, was ich kriegen kann: High-Sein, Vollrausch, Samenerguss.“ Und etwas später dann der Satz: „Ich sehe mich schon mit Achtzig in einem Altersheim, wie ich – frisch gewickelt – in meinen alten Notizbüchern blättere.“ Wahre Worte … ich blättere jetzt schon und bin keine Fünfzig. Der letzte Satz des Tages muss spät in der Nacht geschrieben worden sein, denn er ist völlig kryptisch: „Die Gitterstäbe sind aus Papierschlangen, aber deine Arme sind aus Luft.“ Ich weiß selbst nicht, was es bedeuten soll. Ernstgemeinte Interpretationen bitte an „ebi41@gmx.net.“
Dazu könnte man "Waterloo Sunset" von den Kinks hören. https://www.youtube.com/watch?v=5J3gX47rHGg

Montag, 14. April 2014

Gott sieht alle Spiele

Sonntagnachmittag. Wembley. Maracana nix dagegen. Auf dem Feld stehen elf Männer mit Bierbauch und Vokuhila-Frisur. Unsere Elf. Wir Alten stehen am Spielfeldrand. Bierflasche, Bratwurst und Zigarette. So wie Gott es gewollt hat, als er diesen herrlichen Planeten schuf. Wir sind unter uns. Hier kann man sich mitten im Gespräch genüsslich am Hintern kratzen, ohne sich zu schämen. Wer kein Interesse an Fußball, Fleisch, Alkohol und Nikotin hat, möge in der Hölle verrotten. Es gibt keine Zeitlupe, aber dafür hörst du alle Dialoge auf dem Platz und kannst den Schiedsrichter im Zweifelsfall darauf hinweisen, dass du weißt, wo sein Wagen geparkt ist. Ich erinnere mich daran, selbst einmal auf diesem Platz gestanden und für diesen Verein gespielt zu haben. Bis zum Ende der A-Jugend, dann haben Schicht- und Wochenenddienst meine Sportkarriere beendet. Damals waren wir Tabellenletzter in der untersten Liga. Das heißt: Wir konnten nicht mehr absteigen, wir waren schon ganz unten. Ein großartiges Gefühl. Wir hatten den Stolz von Zigeunern. Wenn dich alle verachten, bist du in Wirklichkeit ganz groß. Wir haben schon vor Spielbeginn beim Schoppen auf die Höhe unserer Niederlage gewettet. 0:8, 0:10 – und so ging es dann auch aus. In der Halbzeitpause kreiste an kalten Tagen die Wodkaflasche in der Kabine. Du weißt gar nicht, warum du das überhaupt machst, wenn du an einem regnerischen Novembertag aus nächster Nähe die schwere nasse Lederkugel voll in die Fresse kriegst und mit taubem Gesicht über den Platz taumelst. Warum lebe ich eigentlich und was mache ich hier um Himmels Willen? Jeder Sonntag wie ein Philosophieseminar. Auf dem Lehrplan steht Stoizismus. In Wahrheit geht es gar nicht um Sieg oder Niederlage, sondern darum es auszuhalten, ohne umzukippen oder durchzudrehen.
Aber an einem Tag war alles anders. Es war der letzte Spieltag und wir haben gegen den designierten Meister gespielt. Sie mussten nur noch gegen uns in Schweppenhausen gewinnen, um sich die Meisterschale abzuholen. Wir - natürlich – abgeschlagen Tabellenletzter. Aber wir konnten nicht absteigen, denn es gab keine Liga unter uns. Der letzte Verein in der untersten Spielklasse. Und wenn du nichts zu verlieren hast, spuckst du an einem guten Tag dem Schicksal ins Gesicht. Ich weiß gar nicht mehr, wie der Gegner hieß, aber an diesem Sonntag haben wir sie fertig gemacht. Ich sage nur: Blutgrätsche. Zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben hat euer sanftmütiger Kiezschreiber die rote Karte gesehen. Wir haben die Wiese gerockt und 4:3 gewonnen. Die arroganten Arschlöcher wurden nicht Meister und die Mannschaft, die den Titel geholt hat, schickte uns einige Tage später einen Kasten Bier als kleines Dankeschön. Du kriegst dein Leben lang auf die Schnauze, aber es kommt der Tag, an dem du für alles belohnt wirst. Für mich war es dieses Spiel und heute stehe ich gelassen am Spielfeldrand, um die nächste Generation von Amateurfußballern anzufeuern. Euer Tag wird kommen. Keiner kennt den Sinn dieses Spiels, aber es lohnt sich dabei zu sein.
P.S.: Zum Abschluss noch ein wenig Heimatkunde.
„Des konnsde abhake unnä U wie Uffschnitt.“ = Der Spielverlauf
„Nix druff außä Zahnbelach.“ = Der Gegner
„Die schwarze Sau.“ = Der Schiedsrichter (nicht rassistisch gemeint)
„Es is em Fritz sei Weddä.“ = Regen (Anspielung auf den Fußballgott Fritz Walter)
„Isch hunns genau gesiehn!“ = Hauptargument des Zuschauers (in Wirklichkeit hat man natürlich gerade ins Schoppenglas oder einer Spielerfrau auf den Hintern geblickt)
"De Dolle leeft de Rotz ins Maul." = glücklicher Sieg durch ein abseitsverdächtiges Tor in der letzten Minute
„Besser wie in die Bach gekackt.“ = Unentschieden
„Sauber die Hoor geschnitt.“ = Niederlage
„Jaska“ = heftiges Besäufnis nach dem Spiel
P.P.S.: Wenn es tatsächlich einen Gott geben würde, dann wäre doch Mainz 05 deutscher Meister und nicht diese Drecksbayern, oder? Außerdem wäre der FCK niemals abgestiegen und Uli Hoeneß müsste sich die nächsten zehn Jahre nach der Seife bücken. Das soll mir der Papst mal widerlegen!
P.P.P.S.: Eine Geschichte muss ich noch erzählen. Es war mein schönstes Erlebnis als Zuschauer beim TuS 09 Schweppenhausen. Ich stand auf der Tribüne, das Spiel lief schon eine Weile, und ich hatte in der linken Hand ein Bratwurstbrötchen (mit Senf!) und in der rechten Hand eine Flasche Bier. Da kam in hohem Bogen der Ball direkt auf mich zugeflogen. Was sollte ich machen? Ich hatte keine Hand frei und keine Zeit, meinen Nachbarn Wurst und Bier in die Hand zu drücken. Aber der Ball kam so gut, dass ich ihn volley nehmen konnte. Ich drosch das Leder dreißig Meter zurück auf den Platz. Dafür bekam ich spontanen Applaus vom Publikum, einer forderte sogar meine Einwechslung – und das Beste: Ich habe weder einen Schluck Bier verschüttet noch die Wurst fallen lassen.
Musikalisch passt hier natürlich die Hommage an alle Linienrichter dieser Welt: "I walk the line" von Johnny Cash. http://www.youtube.com/watch?v=eKJN9ZfGX3s

Sonntag, 13. April 2014

Saturday Night auf dem Dorf

Es beginnt am Spätnachmittag. Ich gehe zum Winzer meines Vertrauens, um mich für das Wochenende zu proviantieren. Grauburgunder und Riesling. Herr Seckler ist nicht nur ein ausgezeichneter Weinbauer, sondern auch Mitarbeiter der Hochschule Geisenheim, der einzigen Ausbildungsstätte für Weinbauern in diesem Land. Wie immer, wenn ich dort einkaufe, wird mindestens eine halbe Stunde geplaudert. Wir haben Zeit auf dem Land. Erst ist noch ein älterer Kunde da, der einige Anekdoten auf Lager hat, dann stehen die Batschkapp und das Zip-Hoodie von Raw Blue (100% Street Credibility, Alter) auf dem Hof und erörtern das Dorfgeschehen (Weltpolitik interessiert uns hier generell nicht, selbst Ukraine und NSA sind nur Stoff für dreißig Sekunden in der Dorfkneipe, dann geht es wieder um die wesentlichen Dinge wie Sport, Frauen und Wein). Herr Seckler hat ein Fünf-Liter-Weinglas im Regal stehen, das ihm sein Hausarzt mit dem Spitznamen „Gummi“ (keine Ahnung warum er so heißt, aber mich spricht man hier auch seit vierzig Jahren mit „Django“ an und ich weiß nicht warum) mal zum Geburtstag geschenkt hat. Im Glas war ein Rezept, auf dem stand: „Nur ein Glas Wein am Tag“. Gummi ist leider vor einigen Jahren den Sekundentod gestorben, mein Vater war dabei und hat vergeblich versucht, ihn wiederzubeleben. Gummi hat jeden krankgeschrieben, ob wegen Kater oder Liebeskummer. Er hat immer gefragt: „Wie lange willsten haben?“ Dann hat er dich ein oder zwei Wochen krankgeschrieben. Wären alle Ärzte so, gäbe es keinen Burn Out und vermutlich auch keinen Kapitalismus.
Zu Hause mache ich mir erst mal einen Schoppen. Schweppenhausen hieß ja früher mal Schoppenhausen, aber dann wurden die Namensrechte an einen ausländischen Konzern verkauft. So wie bei der Allianz Arena in München. Dort bin ich nämlich ein paar Minuten später, weil ich bei einem Freund und einer Flasche Bourbon das Bundesligaspiel Dortmund gegen Bayern (3:0, Hallelulja!) sehe. In der Halbzeitpause gehen wir mit dem Hund spazieren und ich pinkele genüsslich in die Idylle des Wildbaches, der durch unser Dorf fließt. Anschließend gehen wir zu Giovanni, unserem Dorfpizzabäcker am Sportplatz. Ein anderer Freund ist vorbei gekommen und hat erzählt, dort säße eine high-end-geile Frau. Sie pflegt den Dorfbehinderten, niemand kennt ihren Namen, aber wir träumen alle von ihr. Wir gehen also zu Giovanni. Der Laden ist brechend voll, auch draußen sind fast alle Tische besetzt. Ein Grillfeuer glüht und es gibt Steaks und Würstchen. Wir trinken Weizenbier und blicken verstohlen zu der Frau hinüber. Giovanni (Begrüßung: Faust gegen Faust – wir können hier auch Ghetto!) schenkt uns das Essen und wir versprechen im Gegenzug, morgen wieder zu ihm zu kommen, wenn unsere Dorfmannschaft auf dem Sportplatz ein Heimspiel hat. Auf dem Nachhauseweg habe ich einen Vierjährigen auf den Schultern, den Sohn des hiesigen Zimmermanns, der sich an meinem Kopf festhält, während ich mich an seinen Beinen festhalte. So fallen wir beide nicht um. Typisch Kind: Den ganzen Abend zwischen den Tischen herumrennen, aber dann zu müde für den Heimweg. Kennt man ja aus der eigenen Vergangenheit. Und zum Abschluss hole ich den Grauburgunder und den Riesling aus dem Kühlschrank. Mit ein paar Leuten sind wir in der Wohnung eines Freundes und tanzen betrunken vor der Stereoanlage. So geht ein typischer Samstagabend auf dem Land zu Ende.
Musik: "Sukiyaki" von Kyu Sakamoto.http://www.youtube.com/watch?v=C35DrtPlUbc

Samstag, 12. April 2014

Drei merkwürdige Anrufe

Im Nachhinein finde ich es erstaunlich, aber nach längerem Sinnieren stelle ich fest: Es ist tatsächlich wahr. In mehr als zwanzig Jahren in Berlin habe ich nur drei merkwürdige Anrufe erhalten, obwohl ich in dieser Zeit Myriaden von Telefonaten geführt haben muss. Auf einen bin ich beim Blättern in einem alten Notizbuch aus den frühen neunziger Jahren gestoßen. Damals habe ich mir noch viele Begebenheiten handschriftlich notiert, und es finden sich auch seltsame Zeichnungen auf diesen Seiten, undefinierbares Vollrauschgekrakel mit ironischen Titeln wie „Subatomare Konfusion am Spätnachmittag“ und obskuren Künstlernamen wie „Wilhelm-Kamerad Mops von Knochen“. An meiner Handschrift kann ich erkennen, ob ich mit Muße oder in Eile, ob ich an einem Tisch oder in einem rumpelnden Zug, ob ich nüchtern oder betrunken geschrieben habe. Heute sitze ich an einem Computer und habe schon lange nicht mehr gezeichnet.
Ich erinnere mich an meine alte mechanische Schreibmaschine der Marke Triumph-Adler, auf der ich in den Achtzigern als Lokalreporter meine ersten Artikel für die „Mainzer Allgemeine Zeitung“ getippt habe und deren Lärm nachts das halbe Haus geweckt hat. Später die Wärme und die sanfte Vibration der elektrischen IBM-Schreibmaschine … - wenn man seine Hand auf ihren Metallkörper legte, hatte man das Gefühl, man streichle ein Haustier. Das Schreiben selbst hatte etwas Charmantes, etwas Eigenes, fast etwas Abenteuerliches. Flecken von Rotwein und Schokolade finden sich auf den Seiten des Notizbuchs, mal versiegt die Kraft eines Kugelschreibers mitten im Satz und mal geht es mit frisch gespitztem Bleistift weiter. Auf dem Vorblatt findet sich der alte Dante-Spruch „Beim Eintritt hier lasst alle Hoffnung fahren“. Ein heilloses Durcheinander von Geschichten, Tagebucheintragungen, Zitaten und Fakten (Harrison Schmitt war der letzte Mann auf dem Mond – hätten Sie es gewusst?). Den Buchtitel „Leere Flaschen, volle Aschenbecher“ habe ich bis heute nicht verwendet. Die Beschreibung eines Autounfalls mit Totalschaden auf der Bundesallee, als ich in meiner Eigenschaft als chronisch unterfinanzierter Student das Stadtmagazin „zitty“ in Kneipen und Kinos ausgefahren habe, endet mit den für mein weiteres Dasein prophetischen Worten „Welcome to the BVG-World“. Aber ich schweife ab.
In diesem Telefonat, von dem ich eigentlich erzählen möchte, ging es um nichts Konkretes und ich weiß auch bis heute nicht, mit wem ich überhaupt gesprochen habe. Ich nahm eines Abends den Hörer ab und wurde von einem unbekannten Herrn angebrüllt, beleidigt und bedroht. Als es mir gelang, den Redeschwall mit einer eigenen Wortmeldung zu unterbrechen, und ihn fragte, wer er überhaupt sei, schrie er mich an, ich solle nicht so tun und den Ahnungslosen spielen, er würde mich fertigmachen. Schließlich gelang es mir, ihn davon zu überzeugen, dass er sich verwählt haben müsse. Ich schlug ihm vor, die Nummer jenes Mannes, auf den er so wütend sei, doch einfach noch einmal anzurufen. Wenn er mich dann wieder in der Leitung habe, könne man weiterdiskutieren. Er legte tatsächlich auf und zu meiner großen Erleichterung blieb der Apparat in den folgenden Minuten stumm.
Das zweite Telefonat war ebenso merkwürdig. Ein Polizist rief an und erklärte mir, dass man mich wegen Fahrerflucht auf der zuständigen Wache zu sprechen wünsche. Das überraschte mich, denn ich konnte mich beim besten Willen an kein strafwürdiges Fehlverhalten erinnern. Der Beamte erklärte mir, ich hätte beim Ausparken einen anderen Wagen beschädigt, sei danach ausgestiegen und hätte einen Zettel mit meinem Namen und meiner Telefonnummer hinter dem Scheibenwischer des anderen Fahrzeugs befestigt. Der Besitzer des beschädigten Fahrzeugs habe die Polizei gerufen, es stellte sich heraus, dass Name und Nummer nicht zusammen passten. Ich erklärte dem Polizisten, ich hätte gar kein Auto. Das hat wiederum ihn überrascht. Da hatte sich also ein unbekannter Fluchtfahrer bei seinem Schauspiel für die Passanten, als er eine beliebige Telefonnummer auf einen Zettel notierte, ausgerechnet meine Nummer ausgedacht. Was für ein unglaublicher Zufall, dieses „Glück“ hätte ich mir beim Lottospiel auch gerne einmal gewünscht. Den Besuch auf der Wache hat man mir freundlicherweise erspart.
Der dritte Anruf ereignete sich vor knapp zehn Jahren: Das Finanzamt rief bei mir an. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich einen lebendigen Menschen dieser grauenerregenden Großorganisation am Telefon. Zu meiner Überraschung handelte es sich um eine nette Frau, die ich stimmlich in den Altersbereich Dreißig bis Vierzig einsortieren würde. Sie wollte sich von mir verabschieden, meine Akte beim Finanzamt würde nun geschlossen. Das fand ich aufregend: Wir kannten uns nicht, wir waren uns nie begegnet, aber nun mussten wir voneinander Abschied nehmen. Wir unterhielten uns dann noch ein bisschen. Sie sagte – und ich fand das wirklich goldig -, es sei schade, denn ich sei ein so angenehmer, weil leicht zu bearbeitender Fall gewesen. Ich hatte immer nur eine Viertelstunde für meine Steuererklärung gebraucht, sie wahrscheinlich nicht viel länger für die Durchsicht und den Steuerbescheid. Stempel drauf und wieder mal kriegte ich keinen Cent zurück. Vielleicht bekam sie stattdessen in ihrem Bereich, der vermutlich nach Buchstaben sortiert ist, oder erst nach Steuerklassen und dann nach Buchstaben, einen neuen Fall oder Kunden, der wesentlich schwieriger war. Einen Gastwirt am Rande des Nervenzusammenbruchs zum Beispiel, der mit einem Riesenkarton voller Zettel und Rechnungen ins Büro kommt. Es tat uns eigentlich beiden ein wenig leid, uns für immer trennen zu müssen. Seitdem habe ich nie wieder etwas vom Finanzamt gehört.
P.S.: Zur musikalischen Untermalung der Lektüre empfehle ich „Ring Ring“ von Abba. http://www.youtube.com/watch?v=JIB5IlIIx3M

Freitag, 11. April 2014

Die unerträgliche Leichtigkeit des Reichseins

In den alten russischen Romanen, etwa von Tolstoi oder Dostojewski, gibt es die schöne Unterscheidung von Gutsbesitzer und Gutsverwalter. Der Gutsbesitzer ist der entscheidende Mann, sein Prototyp ist Gontscharows „Oblomow“. Er tut nichts, sondern kann sich von den Erträgen seiner Güter ein Leben in Muße gönnen. Der Gutsverwalter macht hingegen die ganze Arbeit und hat den ganzen Ärger. Er ist die Schauseite des Feudalsystems, er allein steht in der Öffentlichkeit, er wird kritisiert und verhöhnt. Die Politiker und die Manager sind die Gutsverwalter unserer Zeit. Die wahren Herrscher tauchen im Internet gar nicht auf, ihre Namen sind bei Wikipedia nicht zu finden. Ich kenne einen Menschen, der für diese Gutsbesitzer tätig ist. Er berät sie beim Kauf von Kunstwerken und in Fragen der Inneneinrichtung ihrer Immobilien. Seine Kunden können sich mit der Freiheit von Kindern durch die Welt bewegen, weil niemand sie kennt. Diskretion statt Personenschutz. Die von Verschwörungstheoretikern gern zitierten Bilderberg-Konferenzen oder die Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums in Davos sind nur die Tanzabende ihrer Dienerschaft. Der gewöhnliche Zeitungsleser wähnt sich wohlinformiert, aber in Wirklichkeit kläfft er nur den Mond an.
(verwendete Hilfsmittel: Google, Wikipedia, Pink Floyd, Riesling, Knoblauchfleischwurst, Butter, Brot)

Donnerstag, 10. April 2014

Bekenntnisse eines Identitätsbetrügers

Ich möchte mit den Problemen beginnen, die man mit seinem echten Namen haben kann, bevor ich zu meiner unseligen Vergangenheit mit Internet-Pseudonymen komme: Ich habe einen Namensvetter in Frankfurt, der unter anderem auch als „Matthias Eberling“ bei Facebook firmiert. Eines Tages rief seine Cousine bei mir an und fragte, warum ich „damals“ mit meiner Familie gebrochen hätte. Ich hörte mir eine Weile ihre Probleme an, verstand nicht, was sie wollte, und legte auf. Es folgten Briefe und weitere Anrufe. Es bedurfte einiger Überredungskunst, diese mir unbekannte „Maria“ zu überzeugen, dass ich kein verschollenes Familienmitglied sei, sondern mit meinen Blutsverwandten in Rheinhessen durchaus in regem Austausch stünde. Bei Facebook findet man mich daher unter dem Namen „Jan Mardo“, einer Romanfigur von mir (übrigens die Idee eines befreundeten Autors, der glaubte, meine Leserschaft würde den Privatdetektiv aus Berlin vielleicht im Netz suchen – bis heute hat sich allerdings noch kein Leser gemeldet). Schon damals wurde mir klar, dass Pseudonyme im Netz nichts verbergen, denn der erste Freundesvorschlag von Herrn Zuckerberg aus Amerika für Herrn Mardo aus dem Wedding war eine mir hinreichend bekannte und sehr nette Nachbarin aus meinem Haus in Wilmersdorf – nur ein Stockwerk über mir (IP rulez!).
Aber jetzt zu den Gründen, warum ich keine Pseudonyme mehr verwende: 2003 war ich auf der Suche nach einer Frau auf diversen Kontaktanbandelungsseiten im Netz unterwegs. Dort hatte ich unter den Pseudonymen „Mono Lake“, „Swamp Thing“, „CRAZY HORST“ und „Armageddon Now!“ Profile angelegt, die alle Facetten meiner schillernden Persönlichkeit abdeckten. Berlin ist voller einsamer Frauen mit Internetanschluss. Der Chat lief etwa so:
Ich: Hi! Du lebst noch?
Sie (nennen wir sie „Brainspotting“): Tausche blödes altes Leben gegen neue Version.
Ich: Ich könnte in einer Stunde am Flughafen sein. Wir verlassen das Land, okay?
Sie: Wohin sollen wir gehen?
Ich: Zuerst Las Vegas. Eine Fünf-Dollar-Hochzeit mit zwei besoffenen Pennern als Trauzeugen. Ich als Late Elvis im Paillettenanzug, du gehst als Heidi.
Sie: Hast du irgendwas eingepfiffen?
Ich: Glaubst du, sie tun LSD ins Trinkwasser? Werde gleich mal das Katholische Wasserwerk Spandau anrufen!
Sie: In welchem Kiez trifft man dich? Was machst du so?
Ich: Schöneberg. Bin Sozialforscher. Ich schau mir an, was die Leute so den ganzen Tag machen und frage mich, warum sie das tun. Und du?
Sie: Schöneberg! Kennst du Mister Hu oder Green Door? Ich arbeite gerade bei einer TV-Produktionsfirma.
Ich: Lass uns doch da einen Cocktail schlürfen. Ich bringe einen Atlas mit und wir besprechen die Einzelheiten der Flucht. Wann hast du Zeit?
So geht es mit „CRAZY HORST“ weiter und immer weiter. Neben der verrückten Spaßmacher-Rolle habe ich mit „Mono Lake“ den nachdenklichen Romantiker erschaffen. Er schreibt so: „Ich habe mich nach der Schöpfung zurück gezogen und lebe nun als kleiner See in Kalifornien. Es ist nicht übel hier! Ich betrachte morgens die Sonne, die über den Tannen aufgeht, und lache nachmittags über die Segelboote, die meinen Bauch kitzeln ...“ Das spricht natürlich auch andere Frauen an. Für die Frauen, die über Sex reden wollen oder auf der Suche nach einer Affäre sind, habe ich „Swamp Thing“ erfunden. Es ist nicht so, dass nur die Männer das Netz für diese Spielchen nutzen. Ich habe selbst erlebt, wie eine Frau mir plötzlich schreibt, sie hätte gerade den Vibrator rausgeholt. Ich bin im Chat gefragt worden, ob denn mein Sperma anders schmecke, weil ich Raucher sei. Eine Frau entpuppte sich als adipöse Rächerin für die zahllosen geplatzten Dates, die ihr das Herz gebrochen hatten.
Mal dauert es länger, mal geht es ganz schnell mit der Kontaktaufnahme. Aber immer steht am Ende eines guten Gesprächs ein Blind Date. Es scheint, so ist mein Eindruck (und der Eindruck aller darauf angesprochenen Damen), nur wenige intelligente und witzige Männer in diesen Internet-Foren zu geben. Männer, die in der Lage sind, sich schriftlich in zusammenhängenden Sätzen äußern zu können. Die eine zweizeilige „Flirt-Mail“ nicht mit dem Satz beginnen: „Fickst du gut?“ Oder die mit Hingabe stundenlang chatten und reden können. Ich habe die Kraft, denn ich habe den ganzen Tag Zeit für die Kontaktaufnahme im Internet. Ich habe die Zeit, mich auf ein Treffen vorzubereiten. Ich komme nicht gestresst aus dem Büro und mein Privatleben ist frei von Verpflichtungen. Abends bin ich dann ein konzentrierter Zuhörer und charmanter Unterhalter. Auf diese Weise haben sich einige unvergessliche Affären ergeben. Ich erinnere mich an eine französische Schönheit, die beim Film gearbeitet hat. Wundervolle rotbraune Locken, endlose perfekte Beine und Augen, für die sie im Mittelalter als Hexe verbrannt worden wäre. Mit Rotwein und bei Kerzenschein in der Badewanne liegen, sich bei einem alten Lubitsch-Film gegenseitig mit Erdbeeren und Eis füttern, maßlose Zärtlichkeit. Oder die kleine grünäugige Grafikerin aus Pankow, die betrunken auf Knien um Sex gebettelt hat. Sie hat das halbe Haus zusammen geschrien, zum Glück waren wir immer bei ihr. Dann die Stylistin, die mich nach dem Ebenbild ihrer Models umgestalten wollte. Die riesige Basketballerin, deren Sportlichkeit genannte permanente Unruhe mich nervös zu machen begann. Die koksende Fernsehredakteurin, die zum Frühstück immer nur einen halben Liter Coca Cola getrunken hat und die ich eigentlich nie ohne Zigarette erlebt habe.
Der Höhepunkt war jedoch eine Juristin aus Hannover, Absolventin der Henri-Nannen-Journalistenschule und Pressesprecherin einer ungenannt bleibenden Organisation in Berlin. Bei unserem dritten Treffen fuhr mich jene Dame in ihrem Volkswagen bar jeglicher Ankündigung und mit offensichtlich äußerst konkreten Absichten zu einem Hotel am Berliner Autobahnring. Mit britisch zu nennender Gelassenheit erwarb ich ein Motorsportmagazin im Foyer, während sie am hellichten Sonntagnachmittag das Doppelzimmer im Voraus bezahlte. Die erste Stunde verstrich mit einer Fußballübertragung (ich kann mich in solchen Situationen selbst für die zweite Liga begeistern) und dem gelangweilten Blättern in jener Fachzeitschrift für den mobilen Herren. Sie musste mich durch die Entblößung ihrer (allerdings in der Tat exquisit geformten) sekundären Geschlechtsmerkmale geradezu zwingen, mein Augenmerk den erotischen Vorgängen im Kingsize-Bett zu widmen. Da ihr Yorkshire-Terrier im Wagen wartete, verließen wir bereits vor Einbruch der Dämmerung das „Motel One“ und fuhren zurück in die Stadt.
Sie sprach in den folgenden Wochen nicht nur von Heirat, sondern erwartete im Ernst, dass ich nach der Hochzeit ihren Nachnamen annehmen würde (sie war das einzige Kind eines geachteten Vorstandmitglieds jenes DAX-notierten Konzerns, dessen Namen ich erfolgreich verdrängt habe). Glücklicherweise fuhr ich einige Tage später mit einem Freund für eine Woche nach Sils Maria im Kanton Graubünden. Die zauberhafte Landschaft und die gute Gesellschaft sind vorzüglich dazu geeignet, grundlegende Entscheidungen für das eigene Leben zu überdenken und letztlich auch zu treffen. Hier hatte nicht nur jene Lichtgestalt und Jahrhundertkoryphäe namens Kiezschreiber großartige Momente der Eingebung, sondern auch weniger bekannte Sekundärquellen wie Hermann Hesse und Friedrich Nietzsche. Und beim Blick von der weltberühmten Chasté über den Silser See fasste ich den schicksalhaften Entschluss, mit jener Dame endgültig zu brechen.
Vielleicht hätte ich eine SMS schicken sollen? Ich beschloss zu schweigen. Old School. Sie würde es begreifen. Doch an diesem Punkt lag ich falsch. Sie lauerte mir eines Abends vor meiner Haustür auf. Es klingt wie ein schlechter Witz, aber es ist wirklich wahr: Mit einem gefakten Profil auf einer Dating-Seite hat sie mich tatsächlich hinaus gelockt. Sie schrie mich an, sie schlug mir ins Gesicht. Sie versuchte, mein Gesicht zu zerkratzen, was ihr angesichts ihrer kurz geschnittenen Fingernägel jedoch nicht gelang. Sie spuckte mich an, aufgrund ihres maßlosen Zorns traf mich allerdings nur ein dünner Sprühregen. Als ich mich nach einigen Minuten abwandte und ging, weil ich zu diesem Zeitpunkt den Eindruck hatte, dass logische Argumente der Situation nicht angemessen gewesen wären, brüllte sie „Hilfe! Vergewaltigung! Polizei!“ Keiner von den Gästen des indonesischen Restaurants gegenüber, die an ihren Tischen die ganze Szene miterlebt hatten, eilte ihr zu Hilfe. Es war vorbei. Aber in dieser Nacht habe ich beschlossen, im Netz keine Täuschungsmanöver mehr durchzuführen.
P.S.: Meine Erinnerungen stützen sich auf die Anthologie "Die singende Fleischwurst", die ich unter dem albernen Pseudonym Rondo Delaforce 2008 veröffentlicht habe.
Soundtrack: "Halt dich an deiner Liebe fest" von Freundeskreis. http://www.youtube.com/watch?v=BSNhTnEALLY

Mittwoch, 9. April 2014

Ein Volk steht auf

Endlich tut sich was im politikverdrossenen Deutschland. Ein Ruck geht durch die Jugend, die jahrelang wie in Trance auf ihre Smartphones geblickt hat. Ist der Akku alle? Ist die komplette Bundesregierung mit einem Flugzeug abgestürzt und in den Tiefen eines fernen Ozeans verschollen? Ist jemand endgültig die Sicherung durchgebrannt, als er zum hunderttausendsten Mal das Gesicht eines Parteifunktionärs auf dem Bildschirm gesehen hat, dessen Lächeln so klebrig wie der Toilettentürgriff bei McDonald’s ist? Weit gefehlt. Wir brauchen weder Katastrophen noch Amokläufer. Wir haben Susanne Wiest.
Ich sage nur: Demokratie-Teppich. Mehr muss man eigentlich auch nicht sagen. Eine gute Idee erklärt sich schließlich von selbst. Ich sehe sie schon vor mir, die Polit-Strategen und Marketing-Würstchen, wie sie sich kollektiv mit der flachen Hand auf die Stirn schlagen. Wieso sind wir denn noch nicht selbst darauf gekommen? Das ist ja phantastisch! Zum Glück sind die Bundestagswahlen vorbei – das hätte für Merkels dritte Amtszeit garantiert das Aus bedeutet. Dabei ist die Idee so einfach wie genial. Unter der Überschrift „Wir machen Demokratie“ entwirft Frau Wiest in wenigen Worten einen kühnen Plan. Da Petitionen kaum Wirkung erzielen (immerhin hatte ihre Petition für ein bedingungsloses Grundeinkommen knapp 53.000 Befürworter, gegen die Geißel der Menschheit Markus Lanz stimmten allerdings mehr als viermal so viele Menschen) und Volksabstimmungen vom Gesetzgeber nicht vorgesehen sind, müsse man zur Gestaltung der Demokratie andere Werkzeuge ergreifen: „Wolle und Stricknadeln“. Unter der Netzadresse http://www.demokratie-teppich.com/ heißt es weiter: „Ich stricke einen demokratischen Quadratmeter, ganz nach meinem persönlichen Geschmack, und lade Euch herzlich ein, ebenfalls ein demokratisches Teppichstück zu häkeln, stricken, weben, sticken, nähen, finden .... kurzum, zu gestalten.“
Am 23. September kommt es dann auf dem Tempelhofer Feld zu einem großen Happening, wenn der Weltöffentlichkeit der deutsche Demokratieteppich präsentiert wird. Vermutlich wird man nur aus einem Hubschrauber den richtigen Überblick haben, wenn aus allen Landesteilen quadratmeterweise die demokratischen Ideen der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger (einschließlich aller Transsexuellen, die sich durch diese Formulierung nicht angesprochen fühlen), der Migrantinnen und Migranten sowie unserer lieben Freundinnen und Freunde in aller Welt zusammengefügt werden (Hakenkreuze sowie Hammer&Sichel, frauenfeindliche, rassistische oder religiöse Inhalte können allerdings nicht geduldet werden – hierzu wird noch ein Komitee gegründet).
Zu guter Letzt komme ich zu meinem Beitrag, mit dem ich dieses großartige und innovative Projekt unterstützen möchte: Ich spende einen kaum gebrauchten Bettvorleger von Ikea, handbeklebt mit Kronkorken, die den Umriss des Hambacher Schlosses zeigen. Und dann erwarte ich, dass sich in diesem Land etwas ändert. Oder ich kaufe mir wieder eine Kiste Krombacher und rette den Regenwald.

Dienstag, 8. April 2014

Der Feind heißt Angst

Die amerikanische Schriftstellervereinigung PEN hat eine Untersuchung durchgeführt, ob die Überwachung des Internets durch die NSA das Verhalten ihrer Mitglieder verändert habe. 28 Prozent der Befragten gaben an, ihre Aktivitäten in sozialen Medien eingeschränkt oder ganz eingestellt zu haben. 24 Prozent sagten, sie würden gewisse Themen am Telefon oder im Internet vermeiden.16 Prozent vermieden inzwischen bestimmte Themen sogar in ihren Texten. Offensichtlich ist ein Teil der schreibenden Zunft bereits vom Überwachungsstaat eingeschüchtert. Aber nicht nur unter amerikanischen Schriftstellern, sondern in der gesamten Netzgemeinde sickert das schleichende Gift der Selbstzensur in die Köpfe.
Es gibt Menschen, die sich hinter einen Stacheldrahtverhau von Pseudonymen und falschen Identitäten zurückgezogen haben, die sich selbst und ihre Meinung verstecken, weil sie Angst haben: vor anderen Menschen, vor anderen Meinungen, vor Konzernen, vor Geheimdiensten. Sie haben Angst, ihren Arbeitsplatz, ihre Aufträge, ihre Wohnung oder am Ende ihre Freiheit zu verlieren. Es gibt Menschen, die mit dem Hochfahren des Computers oder dem Einschalten ihres Smartphones nicht fröhlich in die bunte Welt hinausschauen, sondern hinter dem Sehschlitz ihres Bunkers kauern und auf den Feind warten. Sie werden mich kriegen, fürchten sie. Nein, sie kriegen mich nicht, hoffen sie. Sie haben längst verloren, denn der Feind ist bereits da. In ihrem Gehirn. Der Feind ist nicht die NSA oder ein anderer der zahllosen Geheimdienste dieser Welt, der Feind ist die Angst.
Angst gehört zum politischen Geschäft. Nur ängstliche Bürger sind gute Bürger im Sinne der Herrschenden. Also wird uns Angst gemacht: Muslime, Terroristen, Russen - Hormonfleisch, Genmais, Rinderwahnsinn – Atomkraft, Klimawandel, Fracking – Horst Seehofer, Markus Lanz, Florian Silbereisen. Jeder kann diese Liste mit persönlichen Ängsten beliebig verlängern: Krebs, Arbeitslosigkeit, Raubüberfall, Haarausfall usw. ad infinitum. Ich habe mir das Prinzip mal von einem Schäfer erklären lassen. Wir hatten früher selbst einige Schafe, da wir unweit des Hauses noch eine Wiese besitzen. Ich habe ihn gefragt, wie man als einzelner Mann denn so einen riesigen Haufen Schafe überhaupt unter Kontrolle halten kann. Es sei ganz einfach, antwortete der Schäfer. Man habe je nach Herdengröße einen oder mehrere gut abgerichtete Schäferhunde, die permanent bellend und nötigenfalls nach den Schafbeinen schnappend um die Herde laufen. Die Schafe seien dadurch so eingeschüchtert, dass der Schäfer nur das Leittier in die gewünschte Richtung treiben müsse. Der Rest der Herde folge bereitwillig.
Stellen wir uns doch für einen Augenblick folgende Situation vor: Ein Autor sitzt morgens an seinem Schreibtisch. Er hat gerade seine Mails gecheckt, bei Facebook nachgesehen, was seine wenigen echten Freunde so treiben, dann online die Nachrichten gelesen und anschließend als Schmankerl ein wenig Zeit in diversen Blogs verbracht. Stellen wir uns vor, dieser Autor habe weder einen Arbeits- noch einen Mietvertrag, er habe weder einen Auftraggeber, der ihm Inhalte vorgibt, noch eine Redaktion im Nacken, die ihm in Fragen der Textlänge und des Veröffentlichungstermins, des Stils und der Grammatik Grenzen setzt, er zahle weder Steuern noch erhalte er staatliche Transferleistungen, er besäße weder Auto noch Fahrrad, weder Flachbildschirm noch Smartphone, weder Aktien noch Anleihen, dafür habe er im Gegenzug den Zeitreichtum eines Neugeborenen und einen gut gefüllten Weinkeller. Stellen wir uns vor, er sei schon in jungen Jahren wegen des Verdachts auf Teilnahme an einem schweren Raubüberfall auf einen Juwelier vom LKA und wegen der Freundschaft zu einem Menschen, den Interpol (und „Aktenzeichen XY … ungelöst“ – kein Witz!) wegen des Mordes an zwei Polizisten an der Frankfurter Startbahn-West gesucht hat, vom Verfassungsschutz observiert worden, er habe in Texas eine Nacht im Knast gesessen und sei in Handschellen dem Richter vorgeführt worden, ferner habe er sich vor brüllenden Stasi-Offizieren nackt ausziehen müssen. Stellen wir uns vor, er säße gerade bei strahlendem Sonnenschein an seinem Schreibtisch und blickte auf die rosafarbene Pracht einer japanischen Blütenkirsche. Hätte dieser Autor Angst? Oder könnte dieser Autor nicht einfach alles schreiben, was er möchte?