Sonntag, 10. Mai 2015

Frankfurt - Basel

„Aber das Wesen unserer Epoche ist Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit. Sie kann nur auf Gleitendem ausruhen und ist sich bewusst, dass es Gleitendes ist, wo andere Generationen an das Feste glaubten.“ (Hugo von Hofmannsthal: Der Dichter und diese Zeit)
Eine junge Frau im Business-Kostüm betritt ein Abteil im Zug von Frankfurt nach Basel und lässt sich entnervt in einen Sitz fallen. Am Fenster sitzt ein Mann um die fünfzig in einer Jeansjacke.
Sie: Verdammte Bahn! Eine Stunde Verspätung. Damit ist mein Termin geplatzt.
Er: Das tut mir leid. Wo wollen Sie denn hin?
Sie: Nach Mannheim. Das Meeting beginnt in einer halben Stunde.
Er: Früher war die Bahn pünktlicher.
Sie: Sie scheinen das alles ja sehr gelassen zu nehmen.
Er: Ja. Ich komme nie zu spät.
Sie: Wie machen Sie das? Verraten Sie mir Ihr Geheimnis?
Er: Ich habe keine Termine. Also kann ich auch nicht zu spät kommen.
Sie: Ach, Sie fahren in den Urlaub. Sie Glücklicher!
Er: Nein, ich mache keinen Urlaub. Ich bin einfach so unterwegs.
Sie: Darf ich Sie fragen, was Sie beruflich machen?
Er: Ich bin nicht berufstätig.
Sie: Verstehe. Sie sind im Augenblick arbeitslos.
Er: Nein, ich bin auch nicht arbeitslos. Ich nehme einfach nicht am Berufsleben teil. Ich kenne die sogenannte Arbeitswelt gar nicht.
Sie: Und von was leben Sie?
Er: Ich habe genug Geld. Deswegen muss ich mir um finanzielle Dinge keine Sorgen mehr machen.
Sie. Sie sind reich. Wie beneidenswert.
Er: „Reich“ ist ein hässliches Wort. Ich bin unabhängig.
Sie: Das wäre ich auch gerne. Wie haben Sie das geschafft?
Er: Ich war Drogenhändler in Berlin. Zwanzig Jahre lang. Dann bin ich ausgestiegen.
Sie: Das ist nicht ihr Ernst.
Er: Sehe ich so aus, als würde ich Witze machen?
Sie: Und Sie haben genug Geld auf die Seite legen können, um bis ans Ende Ihrer Tage sorgenfrei leben zu können?
Er: Ja, ich habe das Geld gut angelegt. Zunächst in eine Eigentumswohnung im Prenzlauer Berg, in der ich meinen Stoff gelagert habe. Später in Aktien und Devisen.
Sie: Das klingt spannend. Welche Aktien und Devisen denn?
Er: Ich habe mit Apple, Google und Amazon ziemlich viel Geld verdient. Und dann habe ich 2011 mal ein paar Tausend Euro in Bitcoins investiert. Die habe ich Ende 2013 wieder verkauft.
Sie: Dann müssen Sie wirklich nicht mehr arbeiten. Aber hatten Sie keine Angst vor der Polizei?
Er: Nein. Ich habe mit der Polizei zusammengearbeitet. Einen Teil der Ware, die von der Polizei beschlagnahmt wurde, habe ich wieder auf den Markt gebracht und mir das Geld mit den Drogenfahndern geteilt.
Sie: Aber da hat man es doch mit Drogenabhängigen zu tun, die total unzuverlässig sind und ständig Ärger mit dem Gesetz haben.
Er: Meine Kunden waren alle seriöse Geschäftsleute und Politiker. Die hatten nie Ärger mit den Ermittlungsbehörden.
Sie: Krass.
Er: Das Problem war das Geld. Wie investiere ich es, ohne das die Summen Verdacht erregen? Schließlich hatte ich nie ein nachweisbares Einkommen, und ich habe natürlich auch keine Steuererklärung abgegeben.
Sie: Und wie haben Sie das gemacht?
Er: Ich habe es in die Schweiz gebracht. Immer mit dem Zug. Da werden keine Passagierlisten geführt oder Autokennzeichen erfasst. Das habe ich auf einem Nummernkonto eingezahlt. Mehrmals im Jahr. Und auch von dort meine Investitionen getätigt.
Sie: Ich verstehe. Und jetzt sind Sie gerade auf dem Weg zu Ihrem Geld.
Er: Exakt. Dreimal im Jahr hebe ich zwanzigtausend Euro ab. Davon kann ich ganz gut leben.
Sie: Das ist ja recht bescheiden. Leisten Sie sich keinen Luxus?
Er: Gutes Essen, guter Wein, gute Bücher, gute Musik, gute Freunde. Das ist alles. Wer braucht denn schon Luxus?
Sie: Tolle Geschichte. Die hätte ich gerne auf dem Meeting in Mannheim erzählt.
Er: Was sind Sie denn von Beruf?
Sie: Ich arbeite für eine private Krankenkasse. Und bei dem Meeting geht es um das Burn-Out-Syndrom. Kennen Sie vielleicht. Um Stress in der Arbeitswelt.
Er: Davon habe ich gelesen.
The Mills Brothers – Caravan. http://www.youtube.com/watch?v=MJOs8roE94E

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