Samstag, 16. Mai 2015

Der erste Einkauf

Trigger Warning: Kann Verachtung oder sardonisches Gelächter verursachen.
Der Zug hatte Verspätung. Er stand auf dem Bahnsteig und der Wind verwehte sein dünnes graues Haar, das er sorgfältig über die Glatze gekämmt hatte. Der Zug war nicht zu dem Zeitpunkt am Gleis des Dorfbahnhofs eingerollt, der auf dem Fahrplan stand. Wie lange würde es dauern, bis er eintraf? Früher standen Termine in seinem Kalender. Verspätungen hatten für seine Untergebenen stets unangenehme Folgen. Pünktlichkeit war einer der Eckpfeiler eines erfolgreichen Geschäftslebens. Verspätungen kosteten Geld. An diesem Bahnhof schien sich aber niemand darüber aufzuregen. Ein Mädchen mit riesigen Kopfhörern stand neben ihm und sah ausdruckslos auf die Gleise. Auf der Bank aus Metallgittern saß eine alte Frau, neben ihr stand ein Rollwägelchen.
Auf der Fahrt in die Stadt sah er die Landschaft am Fenster vorbeifliegen. Der Anblick beruhigte ihn. Es war wie früher, wenn er mit der schwarzen Limousine zu einem Geschäftstermin gefahren wurde. Damals hatte er viel zu selten aus dem Fenster und viel zu oft in seinen Laptop geschaut. Er hätte die Zeit als Geschäftsführer genießen sollen. Aber wer hätte gedacht, dass es so schnell vorbei sein würde?
Der Schaffner kam den Gang entlang. Er nestelte in seiner Jackentasche nach der Fahrkarte. Der Schaffner sah ihn an.
„Guten Morgen, die Fahrkarte bitte“, leierte er tonlos seinen Text hinunter.
Er hielt ihm die Fahrkarte hin und der Schaffner nahm sie. Er war nervös. Es war ihm unbegreiflich, warum er in diesem Augenblick nervös sein konnte. Die Fahrkarte war gültig, sie war bezahlt. Der Schaffner würde die Karte stempeln, er hatte nichts zu befürchten. Aber die Situation war ihm unangenehm. Er dachte an den Prozess zurück. An den Skandal. An die Berichte in der Presse. Freunde und Kollegen mieden ihn plötzlich, als habe er eine tödliche Seuche. Bestechung. Bestechlichkeit. Im Nachhinein kamen ihm die Summen lächerlich gering vor. Er hätte mehr verlangen sollen. Das Risiko war ihm nie bewusst gewesen. Schließlich war es üblich, Gefälligkeiten mit Gefälligkeiten zu beantworten. Eine Hand wäscht die andere. Ein altes deutsches Sprichwort.
Am Bahnhof der großen Stadt musste er sich kurz orientieren. Der Lärm, die vielen Menschen. Er überquerte den Bahnhofsvorplatz mit den vielen Bushaltestellen und bog in eine breite Straße ein. Gott sei Dank! Da war schon ein Supermarkt. Er durchschritt die automatische Tür und ging zu den Einkaufswagen. Sie waren aneinander gekettet wie Galeerensklaven. Er wartete, bis eine Frau einen der Wagen mit einer Münze loskettete. Münzen. Verdammt! Er hatte nur Geldscheine in seiner Brieftasche. Also nahm er einen der kleinen roten Plastikkörbe mit schwarzen Griff und passierte das Drehkreuz.
Auf den ersten Metern umgaben ihn Obst und Gemüse. Die farbige Pracht der Früchte sah verlockend aus, aber er mochte kein Obst, und er wusste nicht, wie man Gemüse zubereitet. Seine Frau hatte immer für ihn gekocht. Aber sie hatte in derselben Woche die Scheidung eingereicht, als die Anzeige gegen ihn bekannt wurde und seine fristlose Entlassung folgte. Die Presse kannte plötzlich alle pikanten Details seines Berufslebens. Sauerei! Ein Jahr Arbeitslosengeld und das Trennungsjahr im Parallelflug. Dann Scheidung und Hartz IV. Sie hatte das Haus und die Kinder, außerdem den Rest seines Vermögens bekommen. Nach Abzug der Prozesskosten war es weniger gewesen als gedacht. Aber der DAX hatte zum Zeitpunkt der mehrmonatigen Verhandlungen ungünstig gestanden.
Er ging weiter. Es folgten die monotonen Regale mit den Grundnahrungsmitteln. Er kaufte Nudeln und Reis. Das braucht man immer, dachte er. Ein neuer Gang, neue Regale. Wie lieblos alles nebeneinander aufgestapelt war. Außerdem war kein Personal zu sehen, das man nach bestimmten Waren fragen konnte. Er hätte diesen Supermarkt ganz anders aufgezogen. Er war der geborene Kaufmann, er hätte String-Tangas in Teheran verkaufen können. Wo waren die Plakate, die auf Sonderaktionen hinwiesen? Wo die Musik, die Durchsagen? Kleine Stände, an denen man von freundlichen Damen kostenlose Warenproben präsentiert bekam? Stattdessen Produkte, deren Firmennamen ihm unbekannt waren.
Dann kamen die Spirituosen. Diese Marken kannte er und las nun lächelnd die Etiketten. Pitú aus Brasilien. Die Nacht in Rio, als sie an der Bar des Bordells gesessen und, aufgekratzt von zahllosen Caipirinhas, nach den Weibern geschrien hatten. Und dann waren sie gekommen: Weiße, Schwarze und Mulattinnen mit blitzenden Zähnen und glänzenden Schenkeln. Wodka. Der Puff in Berlin mit den blonden Ukrainerinnen. Zwei, drei Frauen hatte sich jeder mit aufs Zimmer genommen. Es war egal gewesen, schließlich hatte es nichts gekostet. Sie hatten die Rechnungen abwechselnd bei ihren Firmen eingereicht. Bewirtungskosten. Steuerlich absetzbar. Die nächste Runde geht aufs Finanzamt, hatte der dicke Müller nach dem Abendessen in irgendeinem Nobelrestaurant immer gebrüllt.
Aber die Zeit der teuren Single Malts und Cocktails war vorbei. Er bückte sich nach einer Flasche Weinbrand und ging zur Kasse. Als er an der Reihe war, zahlte er und steckte den Kassenbon ein. Für seine private Buchführung. Ordnung muss sein.
Der Zug kam pünktlich.
B.B. King – Blues Boys Tune. https://www.youtube.com/watch?v=7d-O_fS6Xtk

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