Mittwoch, 2. Dezember 2009
Weihnachten im Brunnenviertel
Viktor hatte sicherlich schon zehn Mal alle Taschen seiner Jacke und seiner Hose durchsucht, doch das Geld blieb verschwunden. Er ging noch einmal die Brunnenstraße hinunter und bog in die Usedomer Straße ein, wo er mit seiner Mutter wohnte. Die vierzig Euro waren einfach weg und falls sie ihm aus der Tasche gefallen waren, hatte sicher längst ein anderer Mensch das Geld aufgehoben und eingesteckt. Wie sollte er denn jetzt das Weihnachtsgeschenk für seine Mutter kaufen? Das Geld hatte er sich in den letzten zwei Monaten bei der alten Frau Kramer verdient, für die er einkaufen gegangen war. Davon wollte er die Bernsteinkette kaufen, die seine Mutter in der Auslage eines Geschäfts im Gesundbrunnencenter entdeckt hatte. Ihr Augen hatten geleuchtet, als sie ihm von der Kette erzählt hatte. Aber mit ihrem Supermarktjob war an solche Luxusgüter nicht zu denken.
Viktor ging ziellos durch die Straßen des Viertels und kam am Diesterweg-Gymnasium vorbei, auf das er seit diesem Sommer ging. Es musste doch eine Möglichkeit geben, an die Kette zu kommen, dachte er. Es war dunkel geworden und als er vor der strahlenden Pracht des Einkaufszentrums stand, war ihm immer noch nichts eingefallen. Übermorgen war Heiligabend. Was tun? Er fuhr mit der Rolltreppe in die erste Etage und schaute sich die Kette an. Aus den Lautsprechern quollen Weihnachtsmelodien, lächelnde Menschen trugen Einkaufstütenbündel zum Ausgang. Sollte er das Geschäft betreten? Und dann? Die Kette stehlen? Diebesgut unter die Tannenäste legen, die seine Mutter zur Weihnachtszeit in eine Vase stellte? Das ging nicht. Er konnte sich das Geld auch nirgendwo leihen. Also ging er wieder hinaus in die Kälte und spazierte über die Millionenbrücke zurück in seinen Kiez.
Mit gesenktem Kopf ging er durch den Gleimtunnel und dann in den Mauerpark. Hier waren alles Leben und alle Lichter weit weg. Viktor kämpfte mit den Tränen und war sich nicht sicher, ob er gewinnen würde. Da sah er etwas an einem Baum glitzern. Ein dünner Lichstrahl wies direkt auf einen Birkenzweig, an dem Lametta und ein Holzengelchen hingen. Er trat näher und sah, dass eine Stofftüte an einem der anderen Äste baumelte. Vorsichtig nahm er die Tüte und blickte hinein. Die Bernsteinkette, die er seiner Mutter kaufen wollte! Er konnte sein Glück kaum fassen und blickte sich um, aber es war niemand zu sehen. Hinter einem dichten Gebüsch verborgen beobachtete Gleimi, der Kobold, der unter dem Tunnel hauste, die Szene und nickte zufrieden. Sein roter Anzug und die Mütze mit dem weißen Bommel standen ihm ausgezeichnet.
Dienstag, 1. Dezember 2009
Brunnenkiez-Krimi Nr. 9
18.11.2009. Buß- und Bettag, Totenmonat, Jahr der Schweinegrippe. Jan Mardo hatte das Gefühl, die Boulevardpresse würde ihm jede Woche das Totenglöckchen läuten, ihm und allen anderen, und jedesmal klang das Glöckchen ein wenig anders: Vor der Schweingrippe war es die Vogelgrippe, davor SARS und davor der Ebola-Virus und und und. Ständig wurde ihm suggeriert, er schwebe in Lebensgefahr – von Terrorismus und Klimawandel ganz zu schweigen. Aber vielleicht war ja alles ganz anders, vielleicht war das Leben eigentlich nur banal und brachte kaum Veränderung. Womöglich konnten Menschen ohne Gefahr nicht leben und hatten ein Bedürfnis nach tödlicher Bedrohung. Er jedenfalls nicht.
So in Gedanken versunken, unbewegt auf seinem Stuhl sitzend, war er in der früh hereinbrechenden Abenddämmerung nicht zu erkennen, als ein kleiner Mann sein Büro betrat. Mardo blickte ihn erschrocken an, ruhig drückte der Fremde den Lichtschalter. Schlagartig veränderte sich die Szene, als sei ein Flutlichtmast eingeschaltet worden. Mardo überspielte seine Verlegenheit, indem er aufstand, zur Tür ging und dem Mann, entgegen seiner Gewohnheit, kräftig die Hand schüttelte.
"Sehr mutig. Keine Angst vor der Grippe?"
"Nein. Und ich freue mich bereits auf die tödlichen Gefahren im nächsten Jahr. Nehmen Sie doch Platz."
Der Mann öffnete den petrolfarbenen Anorak und setzte sich. Er hatte eine idiotische Ponyfrisur und große Zähne. "Mein Name ist Lee Young Pak. Bei mir ist eingebrochen worden."
"Waren Sie schon bei der Polizei?"
"Ja, aber die haben nur routinemäßig den Fall aufgenommen. Der Vermieter braucht das Protokoll für die Versicherung."
Mardo wusste, dass die Polizei bei kleineren Einbrüchen nur das Standardprogramm abspulte. Einbruch war ein Allerweltsdelikt in Berlin. "Was ist Ihnen gestohlen worden?"
"Nichts. Das ist ja das merkwürdige daran."
"Sie meinen: gar nichts?" Normalerweise wurden Handys, Computer oder Stereoanlagen geklaut. Meistens nur soviel, wie ein fußlahmer Junkie tragen konnte. Und weil den Drogenabhängigen das Treppensteigen zu beschwerlich war, blieben die Wohnungen in den oberen Etagen normalerweise verschont.
"Nein. Alles war durcheinander. Die Möbel waren verrückt, die Schränke durchwühlt. Aber nichts hat gefehlt. Selbst mein neuer Plasmafernseher war noch da."
Also musste es andere Gründe für den Einbruch geben. Hatte Herr Lee etwas, was anderen gehörte, wovon er der Polizei aber nichts erzählen konnte? Auch Geheimdienste waren für solche Aktionen bekannt. Mardo brauchte mehr Informationen. "Erzählen Sie mir doch einfach mal, was so beruflich und privat so machen!"
Sein Klient erzählte ihm von einem kleinen Thai-Restaurant im Prenzlauer Berg, das er gemeinsam mit einem Vietnamesen betrieb. Er sei ledig, habe keine Beziehung und auch keine Ex-Frau. Keine Feinde und keine fiesen Konkurrenten. Mardo erschien die Geschichte viel zu glatt. Lee war noch nicht einmal aus einer klassischen Einwandererfamilie. Sein Vater war mit der amerikanischen Armee nach Berlin gekommen und war in den neunziger Jahren in die USA zurückgekehrt. Sein Großvater war Textilhändler in Portland gewesen und sein Urgroßvater der erste koreanische Cowboy in Wyoming. Alles ganz normal. Aber dann erzählte Lee, es sei bereits der zweite Einbruch dieser Art gewesen. Die Polizei habe beim zweiten Mal unangenehme Fragen gestellt, daher suche er nun Beistand bei der Aufklärung.
"Glauben Sie, die Einbrecher kommen nochmal?"
"Das würde mich nicht wundern."
"Gut, lassen Sie mich nur machen. Mein Tagessatz beträgt ..."
Soviel Gastfreundschaft würde sich auf seinen Hüften niederschlagen, das war gewiss. Er knabberte vorsichtig an einer quietschsüßen Köstlichkeit aus Mandeln und Honig, während sein Gastgeber mit frischem Tee zurück kam. Mardo saß in der weitläufigen Couchlandschaft von Deli Schubidoglu, dem Nachbarn von Lee Young Pak. Schubidoglu stammte aus Kurdistan, mit seinem dunklen Teint und der Hakennase wäre er aber auch in jedem Hollywood-Film als Indianerhäuptling durchgegangen. Beide wohnten ihm siebten Stock eines in grünen Pastelltönen frisch renovierten Hochhauses Putbusser Ecke Lortzingstraße. Lee hatte eine kleine Einweihungsparty gegeben, als er vor zwei Monaten diese Wohnung bezogen hatte. Schubidoglu war mit einer Flasche Raki und Fladenbrot gekommen, seitdem waren sie gute Nachbarn. Und als Lee ihm erzählt hatte, dass er seine Hilfe bei der Überführung der Einbrecher brauchen könnte, war er mit Begeisterung dabei.
Bei ihrem dritten Einbruch wollten die Täter wohl auf Nummer Sicher gehen und Lee weit weg von seiner Wohnung wissen. Sie hatten ihm einen Brief geschickt, in dem stand, er hätte ein Preisausschreiben gewonnen, bei dem unter allen Bewohnern des Brunnenviertels wertvolle Sachpreise verlost worden waren. Merkwürdigerweise sollte die Preisverleihung in Spandau stattfinden, Hoher Steinweg 6. Mardo kannte die Straße, im Nachbarhaus mit der Nummer 5 war das tschechische Restaurant "Böhmerland", in dem ein tschechisches Original von Gastwirt dampfende Knödel, deftigen Braten und köstliches Bier servierte. Immer wenn Mardo, tschechisch-portugiesischer Herkunft, seine tschechischen Momente hatte, ging er mit seiner Freundin Mary hierher. Schnell hatte ihn der lustige Wirt in ein Gespräch verwickelt und nach einer Weile konnte man sich gar nicht vorstellen, hier noch einmal wegzumüssen. Daher kannte Mardo die Straße. Warum sollte eine Gesellschaft namens "Excelsior Immobilien" hier eine Preisverleihung organisieren? Zumal es diese Gesellschaft weder im Internet noch im Handelsregister gab? Irgend jemand wollte Lee aus der Wohnung haben und er würde es herausfinden.
Verbrecher kommen nach einer gewissen Zeit immer noch einmal zurück, dachte Mardo. Es ist wie bei den Katzen. Wenn du zum ersten Mal in eine Wohnung kommst und da ist eine Katze. Zuerst läuft sie weg. Dann bleibt sie auch eine Weile weg. Und schließlich schaut sie, ganz unten am Türrahmen, ins Wohnzimmer, wo du auf der Couch sitzt. Irgendwann kommt sie näher, sie tut natürlich ganz unbeteiligt. Nach einer Weile springt sie auf das Sofa, aber nicht auf deinen Schoß, keine Sorge. Sondern weit weg von dir. Und dann dreht sie sich dreimal im Kreis, bevor sie es sich umständlich wie eine britische Adlige bequem macht. Sie beobachtet dich weiter. Und wenn du keinen Fehler machst, wenn du dich also nicht bewegst und weiter mit deinen Gastgeber plauderst, pirscht sie sich an den Gegenstand des Interesses heran und schnurrt vor Zufriedenheit. Also wartete er geduldig ab und betrachtete die Bilder auf seinem Bildschirm. Mardo hatte ihm Wohnzimmer und im Schlafzimmer von Lees Wohnung Webcams installiert, sodass er über WLAN Bild und Ton aus Lees Wohnung aufzeichnen konnte. Offenbar hatten der oder die Einbrecher immer noch nicht gefunden, wonach sie suchten. Soviel war Mardo klargewesen. Aber auch seine eigene Suche hatte nichts Verdächtiges zutage gefördert. Aber er wusste schließlich auch nicht, was genau er suchen sollte. War es eine Schatzkarte oder ein USB-Stick mit wichtigen Geheimdienstinformationen? Geld, Schmuck, einen Hinweis auf den Kennedy-Mord? Lee Young Pak hatte immer verzweifelter ausgesehen, je häufiger Mardo bei der Suche diese Fragen gestellt hatte. Er schien wirklich nichts zu wissen.
Ein Knirschen und Krachen weckte ihn aus seinen Überlegungen. Die Tür zu Lees Wohnung wurde aufgebrochen. Er hörte das Geräusch aus zwei Richtungen, vom Hausflur und vom Monitor. Mardos Puls erhöhte schlagartig das Tempo, plötzlich wurde ihm klar, wie nah er den beiden Männern war, die in diesem Augenblick die Wohnung seines Klienten betraten, der gerade bei Freunden in Marzahn auf einem Küchenstuhl saß und auf sein Handy starrte. Mardo würde anrufen, wenn alles vorbei war. Die Männer gingen zielstrebig in Lees Wohnzimmer, als wäre ihnen der Ort seit Jahren vertraut. Mardo schätzte ihr Alter auf dreißig bis vierzig Jahre. Sie trugen dunkelgraue Regenjacken und Jeans. Einer der beiden war untersetzt und hatte schütteres Haar, der andere war groß, schlank und schwarzhaarig. Der Große zog nun ein Jagdmesser aus seiner Jacke und schlitzte systematisch das Sofa und den Fernsehsessel auf, während der Dicke eine Kommode von der Wand rückte. Sie wirkten auf Mardo, als wollten sie heute unbedingt Erfolg haben, egal, wie die Wohnung aussehen würde. Auch der Lärm störte sie nicht, als sie die Möbel verrückten. Durch die Wand hörte es sich an, als würde ein Umzug stattfinden. Im Schlafzimmer setzten die Männer ihr Werk fort. Die Matratze wurde aufgeschlitzt, die Kissen, die Bettdecke. Federn flogen durch die Luft, der Schrank wurde verschoben, Wände abgeklopft. Mardo rief seine Freundin Mary an. Sie hatten den Plan genau besprochen: Mary würde in ihrem alten Toyota in der Nähe warten, um die Verfolgung aufzunehmen. Mardo würde die Verfolgung zu Fuß oder in der U-Bahn übernehmen.
Nach einer Dreiviertelstunde standen die beiden Männer keuchend und unschlüssig im Flur der Wohnung.
"Es ist nicht hier", sagte der Dicke.
"Das kann nicht wahr sein", knurrte der Große.
Mardo fiel auf, dass sie die ganze Zeit nicht gesprochen hatten.
Und dann stürzten sie ganz unvermittelt aus der Wohnungstür in den Hausflur. Mardo war so überrascht, dass er zunächst gar nicht wusste, was er zuerst machen sollte. Er zog sich den linken Ärmel seines Mantels an und griff mit der Rechten nach seinem Handy.
"Es geht los", flüsterte er, nachdem er die 1 für Marys Nummer gedrückt hatte.
Mardo hörte die beiden Männer im Treppenhaus ein oder zwei Stockwerke unter sich. Sie hatten nicht den Fahrstuhl genommen, Mardo ging so leise wie möglich hinter ihnen her. Auf der Straße gingen sie nach links zur Brunnenstraße. Mardo hörte, wie hinter ihm ein Motor gestartet wurde.
Auf der Hauptstraße des Brunnenviertels bewegte sich gerade der Prozessionszug einer Demonstration gegen Sozialbbau, angeführt von Peter Baldrian, einem korpulenten Politik-Prof. Die beiden Einbrecher schlüpften in die Menge und Mardo hatte Mühe, ihnen zu folgen. Eigentlich erkannte er sie nur an ihrer Laufrichtung quer zur Demo und den Ausweichbewegungen der Teilnehmer. Er konnte förmlich hören, wie Mary in ihrem Auto fluchte, während sie wendete, um dann, so vermutete Mardo, über die Bernauer Straße auf die andere Seite des Brunnenviertels zu kommen.
Er ballte die Fäuste in den Manteltaschen. Deutsche müssen immer irgendwas organisieren. Nicht nur ihren Zorn auf Politiker und Unternehmer. Selbst die Freizeit, die Fröhlichkeit und das Feiern sind organisiert, dafür wurden die ganzen sogenannten Volksfeste und neuerdings auch Events erfunden, dachte er, dafür haben viele Menschen endlose Stunden in Sitzungen und Behördenvorzimmern verbracht, um endlich einen kleinen Kulturabend mit zwei Mundharmonikas organisiert zu haben, zwei Dutzend Bekannte um ein paar Aquarelle zu versammeln oder ein allgemeines Besäufnis unter ein Motto stellen zu können. Die Deutschen können nicht ungeplant gesellig sein, dachte Mardo.
Die beiden Männer hatten nun die andere Straßenseite erreicht und gingen die Voltastraße Richtung Gartenplatz hinunter. Mardo folgte ihnen weiter und sah, dass sie in der Hussitenstraße in einen dunkelblauen Kombi stiegen. Hastig zerrte er sein Handy hervor und wählte wieder die 1.
"Wo bist du, Mary?"
"Ackerstraße, Ecke Bernauer."
"Sie fahren jetzt in einem dunkelblauen Kombi die Hussitenstraße in deine Richtung runter. Kennzeichen aus Hannover, mehr habe ich nicht gesehen."
"Geht klar."
Der Rest war Warten. Nach einer halben Stunde klingelte sein Handy. Aber es war nicht Mary, sondern Ellen. Sie war eine alte Schulkameradin von Mardo, die inzwischen für die degewo arbeitete. Die kommunale Wohnungsbaugesellschaft war für viele Wohnungen im Kiez zuständig und Mardo hatte Ellen um Hilfe gebeten.
"Der Vormieter heißt Jakob Hundgeburth. Ist sehr kurzfristig ausgezogen."
"Was heißt das?"
"JVA Tegel. Ich kenne die Geschichte noch aus der Zeitung. Ist ja noch nicht so lange her."
"Und was hat er ausgefressen?"
"Er hat sich auf Falschgeld spezialisiert. Hunderter und Zweihunderter von bester Qualität. Hat die Blüten aber an einen V-Mann verkauft."
"Danke. Du hast mir sehr geholfen."
"Kein Problem."
Also darum ging es die ganze Zeit. Hundgeburth musste die Druckplatten versteckt haben, bevor er ins Gefängnis gegangen war.
Kurze Zeit später rief Mary an.
"Alles klar. Oderstraße 42, dritter Stock. In Neukölln."
Und dort konnte Kommissar Leber, den Mardo gleich darauf informierte, die beiden Herren dann abholen. Die Druckplatten fand die Polizei unter dem Wohnzimmerparkett. Die fällige Belohnung für die beiden gesuchten Komplizen von Hundgeburth und die beschlagnahmten Druckplatten teilten sich Lee und Mardo. Honorar wurde natürlich nicht fällig, die Privatdetektei Mardo war angesichts der Belohnung im vierstelligen Bereich recht großzügig. Und in einem kleinen thailändischen Lokal wurde am folgenden Tag bis in die späte Nacht gefeiert.
Mittwoch, 11. November 2009
Der Superseifenblasenmann
Hallo Freunde! Der Seifenblasenmann ist wieder in der Stadt und er hat wichtige Neuigkeiten zu berichten. Der Seifenblasenmann hat ein ungeheures Kontaktnetz aufgebaut, es ist sein Lebenswerk, und es kann durchaus passieren, daß er in Oslo eine Bar betritt und jemanden trifft, den er kennt. Wirklich! Überall sitzen die Informanten des Seifenblasenmanns und tuscheln beim Bier über die große Verschwörung. Der Seifenblasenmann ist der Gegenspieler des GROSSEN PLANS, der durch eine Reihe einflußreicher Leute aus Politik und Wirtschaft repräsentiert wird. Niemand kennt die genauen Ziele des GROSSEN PLANS, doch aus den tausenden von Mosaiksteinchen, die ihn täglich erreichen, entsteht ein zunächst noch unscharfes Bild auf dem Schreibtisch des Seifenblasenmanns. Es ist das Bild eines Netzes. Nächtelang sitzt der Seifenblasenmann über seinem schwarzen Notizbuch, macht rätselhafte Eintragungen und zeichnet winzige Diagramme. Ein Haufen Maschinen sind nötig, um dem GROSSEN PLAN entgegenzutreten, und sie stehen alle im Zimmer des Seifenblasenmanns, machen komische Geräusche und spucken bunte Zettel aus. Heiliger Scheißdreck von Antiochia! Unser tapferer Held ist in argen Schwierigkeiten, er macht sich Sorgen. Da hilft nur eins: Wirf dein dunkelblaues Cape über, Seifenblasenmann! Es ist soweit.
Der Seifenblasenmann, Folge 17: "Der böse Dr. Zodiac"
Dr. Zodiac ist das fiese Produkt einer gescheiterten Spekulantenlaufbahn, er hat ein Herz aus allerfeinstem Marmor und nur ein einziges Ziel: alle armen alten Omas in der Stadt kräftig übers Ohr zu hauen, um Geld für den GROSSEN PLAN zu bekommen. Gerade hat er, während er des Abends so über die Stadt fliegt, ein hilfloses Großmütterchen ausfindig gemacht. Erbarmungslos stößt er hinab und hat sein wehrloses Opfer innerhalb weniger Augenblicke in ein hypnotisierendes Gespräch über Auslandsaktien und ihre Renditemöglichkeiten verwickelt. Schon zückt Dr. Zodiac einen fertigen Sklavenvertrag nebst Federhalter, da kommt der Seifenblasenmann des Wegs.
"Ha!", schreit er, "Dr. Zodiac, der rücksichtslose Lakai des GROSSEN PLANS. Du übler Bursche, warte, Dir werde ich das Handwerk legen!" Der Seifenblasenmann holt ein geheimnisvoll aussehendes Röhrchen hervor, Dr. Zodiac wird kreidebleich.
"Liebe und Gerechtigkeit", murmelt der Seifenblasenmann beschwörend, "Liebe und Gerechtigkeit."
Da fällt die starre Maske des Bösen von Dr. Zodiac und er blickt in buntes Gefunkel, alles scheint zu schweben und zu tanzen. Er weint das erste Mal, seit er vor fünfzig Jahren als kleiner Junge beim Monopoly verloren hat. Er ist echt gerührt und wirft seine Aktentasche fort. Der Seifenblasenmann wird ihm helfen, der Seifenblasenmann hilft seinen unterlegenen Gegnern immer.
"Du kommst bei guter Führung nach zehn Jahren Greenpeace wieder raus, Alter."
Abends sitzt der unbesiegbare Seifenblasenmann wieder an seinem Schreibtisch und streicht fein säuberlich den Namen "Dr. Zodiac" von seiner Liste. Er beginnt glucksend zu lachen und tatsächlich perlen nun ein paar Seifenblasen aus seinen Mundwinkeln.
Der phantastische Seifenblasenmann! Als Comic, Schallplatte, T-Shirt, Zahnbürste, Bettwäsche, Klopapier und Waffe. Kauft Euch den Seifenblasenmann! Als Gummipuppe, Stofftier oder Poster. Überall im Handel. Jetzt zugreifen!
Vor ihm liegt ein uraltes Pergament. Jugenderinnerungen und alte, längst vergessene Sorgen quälen ihn. Obwohl es ein ungemütlich kalter Herbsttag ist, wirft sich unser Held das daunengefütterte Cape um und fliegt davon, um die üblichen Verdächtigen zu verhaften. Aber die Verhöre machen ihm auch keinen Spaß mehr. Wird es wieder einer dieser Sonntagnachmittage ohne nennenswerte Ereignisse? Seit er in der Stadt ist, werden höchstens noch ein paar Zeitungen geklaut. Und das wird auch bald aufhören.
Da! Ein Polizist hastet atemlos in sein Büro und schwenkt eine Meldung über dem Kopf. Wambo der Prächtige ist wieder in der Stadt! Er zuckt herum, unter seiner erschlaffenden Hand rutscht Vier-Finger-Nick vom Stuhl. Wambo der Prächtige, ein von der furchtbar mysteriösen Geheimorganisation C.D.U. (Charta diabolischer Unholde, Subunternehmen des verabscheuungswürdigen GROSSEN PLANS) geschaffenes Monstrum, bedroht alles Leben in der Stadt. Er bereitet sich auf einen kurzweiligen medienwirksamen Rettungseinsatz vor und hat bereits die morgigen Schlagzeilen vor Augen:
"Superseifenblasenmann rettet die Stadt."
"Glück und ein langes Leben für Superseifenblasenmann."
"1:0 für Superseifenblasenmann."
"Superseifenblasenmann trägt sich in das goldene Buch der Zeit ein."
Was unser Held zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: An diesem Morgen überqueren bei völliger Dunkelheit gepanzerte Einheiten der Betriebskampfgruppe "Walter Ulbricht" die Elbe bei Schlaf. Der Ort macht an diesem Tag seinem Namen alle Ehre und so bleibt der graue Trabant 500 zunächst unbemerkt. Auf der Rückbank sitzt der HONECKER. Während sich die bleifarbenen Schwaden des Zweitaktgemischs langsam legen, rollen einige Kleintransporter des Stahlkombinats "Roter Oktober" ächzend die Straße zum Marktplatz hinauf. Als gegen fünf Uhr die Zeitungsjungen den Platz passieren, weht bereits eine rote Fahne über dem Ort. Die Leuchtreklame des Supermarkts ist abmontiert, ein Holzschild mit der Aufschrift "Konsum" hängt nun über dem Eingang. Die entschlossen und grimmig dreinblickenden Genossinnen und Genossen der FDJ-Brigade "Josef Stalin" bilden mit Angehörigen anderer Einheiten trotzig eine Schlange vor dem Proviantzelt. Was war geschehen? Von aller Welt unbemerkt hatte der HONECKER alle Kräfte der Deformation um sich versammelt, um in die letzte Schlacht gegen das revanchistische Regime in Bonn zu ziehen. Etwa siebzig zu allem entschlossene Kommunisten sind nun hier versammelt, der Rest soll nach Beschaffung der nötigen Ersatzteile für ihre Transportfahrzeuge in den nächsten Wochen im Kampfgebiet eintreffen. Jetzt durchkämmen bewaffnete Gruppen den Ort und requirieren wahllos Südfrüchte und Damenstrumpfhosen. Der Gemeinderat wird in Ermangelung eines Gefängnisses kurzerhand in die Kirche gesperrt, Telefondrähte und Fernsehkabel werden zerstört. Die Abteilung Agitprop gibt eine provisorische Parteizeitung mit der Schlagzeile "Schlaf erwache!" heraus, in der Turnhalle wird das "ZK der SED" eingerichtet. Oha! Es wird Zeit, daß der Superseifenblasenmann endlich eingreift.
Der Superseifenblasenmann, Folge 32: "Die rote Flut"
Diesmal muß unser Held ein besonders kniffliges und aufregendes Abenteuer bestehen. Seit dem unglaublich lebensgefährlichen Kampf gegen den üblen Schurken DEAD HUNTER (Folge 29) ist die Gefahr für Frieden und Freiheit nicht mehr so groß gewesen. Als der Superseifenblasenmann schließlich seinen Anti-Kommunismus-Radar aktiviert, leuchtet ein kleiner Punkt in Mitteldeutschland auf: Schlaf. ‚Das letzte Aufflackern das Marxismus-Leninismus‘, schießt es ihm durch den Kopf, während er grimmig und entschlossen lächelt. Der HONECKER, diese megafiese Kreatur des GROSSEN PLANS, darf Bonn nicht erreichen. Jesses, ist das spannend! Ruhig nimmt er ein frisches Cape aus dem Schrank und klettert auf die Fensterbank. Der Superseifenblasenmann ist wieder einmal der Retter der Bedrängten, der Triumphator des Gerechten, der Gralshüter verbriefter Verfassungsrechte, der Beschützer der Hilflosen, der Spender von Licht und Wahrheit, der Erleuchter unserer Seelen, der Tröster in der ärgsten Not, der vertrauensvolle Gesprächspartner, das liebenswerte Vorbild – kurz: Ein Mann, dessen Symbol jeder von uns mit Ehre und Hochachtung tragen wird. Auf dem T-Shirt, der Unterwäsche, der Kaffeetasse, dem Auto, dem Hut usw.
P.S.: Dieser Text entstand im November 1989
Aus vollen Schubladen frisch gezapft
Einst stapfte der Bauer Hu Hu aus Wu-Wei über seine Reisfelder und kaute lustlos an einer Frühlingsrolle. ‚Widel velflucht slechte Elnte dieses Jahl‘, dachte er, als der Philosoph und Schwerenöter Peng Fei des Weges kam. Dieser fragte ihn: "Was blummmelst du denn da in deinen Balt, du altel Leisflessel?" Dann lachte er freundlich und sah dem schlitzäugigen Bauern tief in die Augen: "Na, Älgel gehabt?" "Ja", antwortete Hu Hu, "mil blummt del ganze Kopf vol lautel Älgel." Der Philosoph begann: "Siehst du die Lilien auf dem Felde? Tu es ihnen gleich und tlinke solglos den göttlichen Nektal del Sonne!" "Da sind doch übelhaupt keine Lilien", sagte da der Bauer und ging nach Hause, um sich ein Chop Suey zu machen.
Bestimmt benehmen sich alle Leute ganz albern, wenn sie allein sind. Dann schneiden sie Grimassen, springen herum, lachen, tanzen, pfeifen und bohren ungeniert in der Nase – kurzum: sie benehmen sich ungezwungen und natürlich. Zivilisation ist daher einfach die Unfähigkeit, gemeinsam normal zu sein. Da muß man sich über die vielen unglücklichen, kranken und aggressiven Menschen nicht wundern.
Geplanter Titel meiner Autobiographie: "Wunderbare Reisen zu Lande, zu Wasser und in der Luft, Raubzüge und lustige Abenteuer des Kiezschreibers Eberling, wie er dieselben bei der Flasche im Kreise seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt."
Ohne Zinn ist das Leben zinnlos.
Auf der Oranienstraße sehe ich den ultimativen Punk. Er ist etwa zehn Jahre alt, sitzt auf einem dieser grauen Verteilerkästen am Straßenrand und unterhält sich gerade mit seinem Kumpel. Schwarze Nietenlederjacke, knallrote Irokesenfrisur, das Gesicht zieren eine riesige Sonnenbrille und die obligatorische Sicherheitsnadel. Als ein typischer Berliner Doppeldeckerbus vor ihm hält, spuckt er aus vollem Halse gegen dessen Seitenscheibe (ich sehe das entsetzt zurück zuckende Gesicht einer alten Frau trotz der störenden Spiegelungen), hebt den Mittelfinger und sagt "Scheiß Busse!" Dann unterhält er sich seelenruhig weiter. Das wird mal ein zweiter Sid Vicious!
Direkt vor meinem Fenster im dritten Stock turnt ein Mensch im Baum herum. Es ist früher Morgen, ich setze mich an den Schreibtisch und dort sehe ich ihn, wie er Zweige und Äste abtrennt. Bei jedem möchte ich ihm zurufen: "Halt! Der war doch noch gut." Eben hat er herüber gesehen. Vielleicht fragt er sich, was ich hier schreibe, einen wichtigen Geschäftsbrief oder sonst etwas von Bedeutung. Dabei schreibe ich die ganze Zeit über ihn selbst. Er ist etwa in meinem Alter und muß von der hydraulischen Hebebühne, die unter ihm schwebt, in diesen Wipfel geklettert sein. Die Taube, die mir gegenüber im Geäst wohnt, ist erschrocken davon geflogen. Doch es sieht schon fast majestätisch aus, wie er – nicht mehr in Griffweite des Stammes – breitbeinig wie ein Fischer in seinem Kanu auf einem Ast steht und mit einer Sichel, die an einer langen Stange befestigt ist, nach einem unbekannten und geheimnisvollen Plan Teile des Baums heraus schneidet. Wie die Arbeiter, die neulich auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses zu sehen waren: heimliche Akrobaten, stille Künstler.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatten sie mir bereits einen anderen Kopf gegeben. Neugierig lief ich vor den Spiegel und betastete die noch etwas taube Haut, freute mich aber gleich über die großen schönen Augen, die ins Panzerartige übergehende Festigkeit der Wangen und den sehr zweckmäßigen Saugrüssel, der meine Fangzähne allerdings fast völlig verdeckte und sie so ein wenig ihrer schrecklichen Wirkung beraubte. Achtung! Der chinesische Weise Juch He wurde in der Bahnhofsgegend gesichtet. Bitte halten Sie Türen und Fenster geschlossen und antworten Sie nicht auf philosophische Fragen!
Mittwoch, 28. Oktober 2009
Brunnenkiez-Krimi Nr. 8
Es war Samstagnacht, in Brandenburg rasten junge Männer mit ihren Autos um die Wette oder kämpften bereits auf Intensivstationen um ihr Leben, während Mardo im Revolution No. 9 einen Singapore Sling durch den Strohhalm saugte. Das Gesicht des kleinen hageren Privatdetektivs aus dem Brunnenviertel lag vollständig im Schatten des Kommissars, der ihn um einen ganzen Kopf überragte. Das Heroin lag inzwischen in der Asservatenkammer der Kripo Berlin, aber über die ganze Geschichte mussten sie noch einmal ganz in Ruhe sprechen.
Am Freitagnachmittag war Udo Zippe in sein Büro gekommen, als Mardo eigentlich die bisher verdienstfreie Arbeitswoche und die Ladentür abschließen wollte. Er hatte in den letzten Wochen erfolglos versucht, sich mit einem Fußmatten-Express-Lieferdienst ein zweites Standbein zu schaffen. Sein neuer Kunde hatte eine ausgesprochene Kleinganoven- oder Hobbymusikervisage: fettiges dunkles Haar und ausgedehnte Geheimratsecken, Koteletten bis zum Arsch und eine schwarze Sonnenbrille. Ein wenig ähnelte er den Feldwebel- und Metzgergesichtern auf den Wahlplakaten der Rechtsradikalen. Sein T-Shirt hatte mehr Löcher als ein Golfplatz und gab am unteren Ende den Blick auf behaartes bleiches Fleisch frei. Der Unfreiwillig-Bauchfrei-Look von dicken Männern in zu engen T-Shirts. Germany’s Next Heizungsmonteur, dachte Mardo.
"Es geht um einen Diebstahl", fing Zippe an. "Genauer gesagt geht es um ein Päckchen, das nicht geliefert wurde.
"Haben Sie es schon bei der Post versucht. Soweit ich weiß, ist DHL für die Pakete zuständig."
"Nein, nein. Das war eine private Lieferfirma. IPS. Das Päckchen ist sehr wichtig. Die ganze Sache hängt wie ein Domestos-Schwert über mir." Zippe wirkte verlegen, so als ob er nicht mit der ganzen Geschichte herausrücken wollte.
"Was ist denn in dem Paket gewesen?" fragte Mardo.
"Dresdner Stollen."
"Und was noch?"
"Sonst nichts." Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nur mit einem Mundwinkel, sodass sein Mund seltsam s-förmig verzogen wurde.
"Sie möchten, dass ich Ihnen einen Stollen zurückbringe?"
"Ja. Es ist ein sehr wichtiger Stollen. Meine Mutter hat ihn für mich gebacken." Zippe überlegte einen Augenblick. "Und sie hat mir fünfhundert Euro in bar mitgeschickt." Er schien wirklich erleichtert über dieses Detail, das ihm nachträglich eingefallen war.
"Das war aber sehr leichtsinnig von Ihrer Mutter. Wäre eine Überweisung nicht sicherer gewesen?"
"Ach, wissen Sie, Herr Mardo, meine Mutter traut den Banken nicht mehr. Und das Porto für einen Wertbrief wollte sie sich sparen." Er sprach nun munter drauflos. "Ich zahle Ihnen hundert Euro, wenn sie mir das Päckchen beschaffen." Dann legte er zwei zerknitterte Fünfzig-Euro-Scheine auf Mardos Schreibtisch.
"Kein Problem. Wohin hätte das Paket denn geliefert werden sollen?"
"Ackerstraße 50. Hier im Kiez. Ich brauche das Geld wirklich dringend. Wenn ich das Päckchen habe, steige ich wie Felix aus der Asche." Zippe kratzte sich nervös den Wanst.
Mardo war portugiesisch-tschechischer Herkunft und manche Begriffe der deutschen Sprache hatten ihm seine Eltern nicht erklären können. Was ist "gähnende Leere"? Wie kann jemandem etwas "ans Herz wachsen"? Und wo holt Bartel den Most eigentlich? Musste man diesen Bartel kennen? Und warum hatte andererseits die Senke zwischen Oberlippe und Nase keinen eigenen Namen? Manchmal verstand er seine Mitbürger nicht richtig. Felix aus der Asche? Zippe verfügte über ein blumiges Vokabular, aber andererseits lag Geld auf dem Tisch und ein vermisstes Paket sollte ihn vor keine allzu großen Schwierigkeiten stellen.
Einen Tag zuvor, am Donnerstagvormittag, war der IPS-Fahrer Rainer Zufall-Echtmann im Brunnenviertel unterwegs gewesen. Es war Anfang November, die Blätter an den Bäumen leuchteten noch einmal gelb und rot im Sonnenlicht auf, bevor der Wind sie von den Ästen wehte. Er hatte alle Rechnungen bezahlt und für diesen Monat noch genau 73 Euro zum Leben. Seine Freundin Chantal Mägdefessel (19, ohne Lehrstelle) hatte sich mit einem Jamba-Sparabo finanziell ruiniert, aber es musste ja irgendwie weitergehen. Und jetzt hatte er ein halbes Dutzend Pakete mit Christstollen in seinem Lieferwagen. Sicher Werbegeschenke. Ob es wohl auffiele, wenn ein Stollen nicht ankäme? Andererseits könnte es ihn seinen Job kosten. Engelchen und Teufelchen spielten eine Weile Pingpong in seinem Kopf, bis schließlich der nagende Hunger in seinen Eingeweiden jede Diskussion beendete. Was ist mit den ganzen unbezahlten Überstunden? Die haben die Bosse eingeplant. Meine Tour ist unmöglich in der vorgeschriebenen Zeit zu schaffen, dachte er, das ist Betrug. Jeder bescheisst in dieser Firma die anderen, alle sind nur auf ihren eigenen Vorteil aus. Was soll's denn? Dann bin ich eben wie alle anderen. Er manövrierte den Wagen in eine Parklücke in der Hussitenstraße und kletterte nach hinten. Zwei Pakete mit Stollen waren noch übrig. Er nahm das obere und riss es auf. Gierig schlug er seine Fänge ins Gebäck und stutzte. War das etwa Plastik? Tatsächlich lugte ein Stückchen Folie aus der sächsischen Morgengabe. Er puhlte mit dem Finger herum, der Hunger war vergessen, und wenig später hielt er vier Päckchen mit einem weißen Pulver in den Händen. Sicherlich Kokain oder Heroin, wie er vermutete. Das Zeug musste eine Menge Geld wert sein.
Die Kürbissuppe schmeckte köstlich. Mary hatte den Kürbis eigenhändig im Mauerpark gepflanzt, das winzige Gärtchen am Rande des Birkenwalds immer wieder besucht und schließlich war der Tag der Ernte gekommen. Guerilla Gardenings nannte man das neudeutsch, der Trend hatte in New York seinen Anfang genommen. Über London war dann das illegale Anpflanzen von Blumen, Bäumen oder Gemüse im öffentlichen Raum nach Berlin gekommen. Mary hatte auf einem Spaziergang im vergangenen Jahr Leute getroffen, die im Mauerpark Zucchinis und Salat geerntet hatten, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre.
Jan Mardo erzählte Mary von seinem Fall, während er wohlwollend das Orangenbäumchen auf dem Fensterbrett betrachtete. Der Herbst hatte in ihrer Wohnung keine Chance, der Baum war immer noch grün. Mary arbeitete als Verkäuferin im Gesundbrunnencenter. Im Prinzip glich die moderne Shopping Mall den Prachtbauten des Feudalismus: Es gab zwei Systeme von Gängen und Räumen, eins für die Herren, eins für die Diener. In den alten Schlössern gab es die repräsentativen Räume der Fürsten und hinter den Tapetentüren das Ameisensystem der Leibeigenen, die für das Wohlbefinden der Herrschaft zuständig waren. In den Kaufhäusern und Malls gab es die Ladenzeilen für den König namens Kunde und dahinter die sogenannten Sozialräume, Heizungskeller und Schaltzentralen. Mary kannte natürlich auch den Lieferanteneingang und die Lieferanten. Am nächsten Morgen wollte sie sich über den IPS-Fahrer informieren, der für das Gebiet um den Gesundbrunnen zuständig war. Zuvor hatte Mardo mehrfach bei IPS angerufen, war aber immer wieder in der Warteschleife der Beschwerdestelle hängengeblieben.
Ein Sturm wütete in den Wipfeln der Bäume am Vinetaplatz, am Boden spürte man ihn jedoch kaum. Der Himmel sah dramatisch aus, wie eine graue Faust, die auf die Erde drückte. Rainer Zufall-Echtmann war an diesem Freitagabend auf dem Weg in eine Kneipe, die ihm von einem Freund als zuverlässiger Treffpunkt der Drogenszene empfohlen worden war. Er hatte keine Angst, die Drogen hatte er ohnehin an einem sicheren Ort (er hielt den Spülwasserbehälter seiner Toilette für bombensicher) versteckt. Außerdem war einer der früheren Freunde seiner Mutter, also einer seiner Ex-Väter, Boxer gewesen und hatte ihm alles über Selbstverteidigung beigebracht, was er wissen musste. Eine ältere Frau ging vorüber, von ihrer Plastiktüte lächelte ihm die Prekariatsikone Paris Hilton entgegen. Ein fast komplett durchtätowierter Jugendlicher ließ seinen Pitbull an eine Mauer kacken.
In der "Qualmeria" (der ehemaligen "BarBar"), einer Raucherkneipe an der Bernauer Straße, lag die Sichtweite unter fünf Metern. Zufall-Echtmann setzte sich an einen der Tische – Rücken zur Wand, Tür im Auge – und bestellte ein Hefeweizen. Der Kellner hatte halblange hellbraune Haare nach Art der frühen achtziger Jahre und trug seinen beeindruckenden Bierbauch mit der Eleganz eines erfahrenen Berggorillamännchens. Beim Gehen verursachte er klebrige Latschgeräusche, der Rhythmus seiner Schritte war noch entspannender als Blues, man hörte ihm gerne zu. Am Tisch gegenüber saß eine verblühende unechte Blondine, die Cola trank und Kette rauchte. Unter ihrem engen Pullover zeichneten sich die Fettpäckchen ab, die von ihrem BH hervorgestülpt wurden. Als sie merkte, dass sie beobachtet wurde, kratzte sie sich verlegen den Hinterkopf. Rainer Zufall-Echtmann wechselte die Blickrichtung und sah einen nach oben kegelförmig angeschwollenen Mann um die Sechzig, der vorsichtig auf winzigen Füßen in Richtung Toilette wankte. Am Tresen saß ein riesiger dünner Mann, der seinen Kopf zu einer sprechenden Frau neigte, die neben ihm saß. Er hatte die Hand vor seinem Mund zur Faust geballt und hörte zu, ohne zu nicken. "Wie, der Kleene ist schon ein Jahr alt und kann no‘ ni‘ laufen? In dem Alter hatt‘ ick schon den Moonwalk druff." Seine Stimme klang hart.
Auch beim zweiten Bier wusste Zufall-Echtmann nicht, wie er hier jemals einen Kontakt herstellen sollte. Ein paniertes Schnitzel von der Größe Liechtensteins wurde vorübergetragen. Eigentlich ist eine Kneipe ja ein Ort, wo die Trinker die Esser verachten, während es in Restaurants genau umgekehrt ist, dachte er. Im Hintergrund das Geräusch vorüberfahrender Autos, an- und abschwellend wie die Wellen, die sich am Strand brechen. Der Großfernseher lief den ganzen Tag, tonlos. Mal sah er hin, mal nicht. Es war eine Art Wandteppich mit bewegten Bildern. Dann betrat ein Mann in einem eleganten Anzug die "Qualmeria". Er war klein, rund, glatzköpfig und hatte einen schwarzen Samsonite-Koffer in der Hand – er sah aus wie ein Pizzabäcker mit Musterkoffer. Er drehte erst eine Runde durchs Lokal, bevor er sich schließlich an einen der hinteren Tische setzte. Es erinnerte Zufall-Echtmann an manche Hunde, die sich erst ein paar Mal im Kreis drehten, bevor sie sich hinlegten. Er hatte einen gezwirbelten Oberförsterbart und seine Wimpern waren schwarz wie Fliegenbeine. Als sich ein anderer Mann zu ihm setzte, zeigte er ein scheckheftgepflegtes Verkäuferlächeln. Das ist der Richtige, dachte Zufall-Echtmann. Und tatsächlich gingen die beiden Männer kurz darauf gemeinsam zur Toilette, danach verabschiedete sich der zweite Mann und verschwand. Kurz darauf, nach heftigen Augenbrauenbewegungen und intensiven Blicken seitens des IPS-Fahrers, war er mit dem glatzköpfigen Koffermenschen in Kontakt und ins Geschäft gekommen. Morgen abend sollte der Deal steigen.
Mardo musste den Klingelknopf dreimal drücken, bevor ein misstrauisches Gesicht im engen Spalt zwischen Tür und Rahmen erschien. Mary hatte herausbekommen, dass Rainer Zufall-Echtmann der IPS-Fahrer war, der an besagtem Tag die Pakete im Brunnenviertel ausgeliefert hatte.
"Es geht um einen Stollen. Können Sie sich an einen Dresdner Christstollen erinnern?"
"Wer sind Sie?"
"Mein Name ist Jan Mardo. Ich bin Privatdetektiv."
"Wer schickt Sie?"
"Mein Mandant."
"Und was wollen Sie genau von mir?"
"Den Inhalt des Pakets. Sie wissen, wovon ich spreche." Mardo und Zufall-Echtmann sprachen allerdings von verschiedenen Dingen, was beide nicht wissen konnten.
Dann schloß sich die Tür wieder.
Am Samstagabend lief dann ein ehemaliger Kurierfahrer in die Arme des V-Manns der Polizei, dem er vierhundert Gramm Heroin verkaufen wollte. Die Berliner Strafverfolgungsbehörden geben mit Freude den Zugang von zwei neuen Mitgliedern des Drogenmilieus bekannt. Mit einem längeren Aufenthalt hinter Gardinen, die - aus Mardo unbekannten Gründen - gemeinhin als schwedisch bezeichnet werden, darf gerechnet werden. Ob sich Zippe und Zufall-Echtmann eines Tages beim Hofgang begegnen werden?
Donnerstag, 15. Oktober 2009
Erst gelacht, dann nachgedacht
Neulich wurde in einem Fernsehquiz die Frage gestellt, wie viele Muskeln im Rüssel eines Elefanten arbeiten. Dabei ist doch die eigentlich entscheidende Frage, warum der Elefant überhaupt einen Rüssel hat. Wieso kam vor Millionen Jahren irgendein Elefant auf die Idee, man müsse mit der eigenen Nase irgendwelche Sachen vom Boden aufheben können? Wo ist da der Sinn? Zum damaligen Zeitpunkt hatten die Elefanten sicher genauso große Gehirne wie ihre präzivilisatorischen Humankollegen von der Primatenfraktion. Und so haben diese bemerkenswerten Geschöpfe viel viel Zeit damit verbracht, aus ihrem Gesicht ein Werkzeug herauszubilden. Anders der Mensch: Er kommt eines Tages auf die Idee, man bräuchte ein Rad. Ob es sinnvoll ist, ein Rad zu haben, sei dahingestellt. Aber er verbringt nicht Millionen Jahre damit, sich ein Rad im Gesicht wachsen zu lassen. Er erfindet es einfach, vermarktet es geschickt, verkauft jede Menge davon und setzt sich anschließend zur Ruhe. Und genau darum stehen die Menschen heute auf der richtigen Seite des Zoogitters – und die Elefanten auf der falschen.
Donnerstag, 8. Oktober 2009
Brunnenkiez-Krimi Nr. 7
Thorsten Schelmikov hatte jahrelang als freiberuflicher IT-Berater in einer Kugellagerfabrik in Mettmann gearbeitet. Genauer gesagt war es eine Kugellagerkugelfabrik, denn sie stellten dort nur die kleinen Kugeln für die Kugellager her. So in etwa wie in der Simpsons-Folge, als die Kinder in einer Pappkartonfabrik gesagt bekommen, das dort die Kartons nur hergestellt würden und dann in Tennessee oder so gefaltet werden. Sein Job in der Fabrik bestand zu neunzig Prozent in Anrufen von Sekretärinnen, die Probleme mit dem Hochfahren des Computers hatten. Thorsten kam dann in seinem C&A-Anzug, holte die Diskette aus dem Laufwerk, die das Hochfahren verhindert hatte, und erklärte Fr. Müller oder Frau Meier zum hundertsten Mal geduldig, dass man die Disketten vorher entfernen müsse. Frau Müller oder Frau Meier ist Ende Fünfzig, hat eine Dauerwelle, sitzt seit über dreißig Jahren im Vorzimmer des Abteilungsleiters für Kugellagerkugelbeschichtung und ist ein absoluter Null-Checker. Aber dann wurde die Fabrik an eine Heuschrecke verkauft und schließlich geschlossen. Als Freiberufler hatte er keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld und seine Ersparnisse waren nach erschreckend wenigen Monaten aufgebraucht gewesen.
Jan Mardo saß an seinem Arbeitsplatz, seine Hände ruhten nutzlos auf den Oberschenkeln. Er betrachtete die wenigen persönlichen Bilder auf seinem Monitor, die er in den vergangenen Jahren von Mary und seinen Freunden gemacht hatte. Es war schon komisch: Alle Menschen, die sich nicht gerne fotografieren lassen, sind total nett, und alle, die sich gerne fotografieren lassen, sind komplette Vollidioten. Also war es offenbar gut, so wenige Bilder gespeichert zu haben, sagte er sich. Seine berufliche Motivation näherte sich, nachdem er die Stadien der Selbstkritik und der Resignation hinter sich gelassen hatte, langsam einem Punkt, den man durchaus als finsteren Zynismus bezeichnen konnte. Er hatte eine ganze Woche mit einer Sommergrippe zu Hause verbracht, tagsüber in einem Sessel mit Blick auf den Mauerpark. Sein schmaler Schädel glühte und fünfmal am Tag musste er das Hemd wechseln. Das Lesen strengte ihn zu sehr an, das Fernsehen langweilte ihn und so hörte er den ganzen Tag leise Musik und sah aus dem Fenster. Bis er eines Tages anfing, die Gegend durch das Teleobjektiv seiner Detektivkamera zu beobachten. Das hatte ja schon in einem Hitchcockfilm als Zeitvertreib funktioniert. Und tatsächlich hatte er im Mauerpark ein paar merkwürdige Freaks beobachtet, die einen alten Mann brutal niedermetzelten. Er hatte sofort die 110 angerufen und nach einer Weile, in der er ungeduldig der Bandansage der Berliner Polizei gelauscht hatte, konnte er das Verbrechen melden. Die Schmach war kaum zu ertragen, er hatte eine Probe von "Shakespeare im Park" beobachtet und irgendwann hatte die B.Z. Wind von der Sache bekommen.
Schelmikov stammte eigentlich aus Ostfriesland, einem öden, gleichförmigen Landstrich unter einem grauen Himmel. Die ganze Gegend flach bis zum Horizont oder zum Deich, alles nur Grün und Braun, jede Wüste war interessanter. Wüsten werden von Wind und Sonne gemacht, seine alte Heimat ist von Menschen gemacht worden. Genauer gesagt: von Ostfriesen. Und so ging es über Mettmann nach Berlin. Genauer gesagt: über Köln nach Berlin. Denn er hatte sich vor einem Jahr bei RTL im Casting für "KSKS" (Köln sucht krassen Superstar) gegen zehntausende talentlose Heulbojen und Dorfschönheiten durchgesetzt und hatte es unter die letzten fünf geschafft. In der "Bravo" gab es damals sogar einen Artikel über ihn und er war mehrfach in diversen Kneipen von Zuschauern wiedererkannt worden. Er hatte einen Vertrag mit einer fetten Major-Plattenfirma unterschrieben, allerdings war bisher nicht ein Stück mit ihm produziert worden. Irgendwann ging dann die neue Staffel von KSKS los und es wurde etwas ruhig, was die Fortschritte seiner künstlerischen Karriere anging. Und jetzt brauchte er einfach Geld. Also versteckte sich Schelmikov in einer Wohnung in der Wolgaststraße. Wenn er aus dem Fenster sah, blickte er auf einen Spielplatz, vor dem Plakate wie "Kinder statt Kohle" hingen. Winnie hatte ihm erzählt, dass hier demnächst Hochhäuser gebaut würden. Winnie besorgte auch Bier, Chips, Schokolade und Zigaretten. Schelmikov durfte nicht gesehen werden.
Mardo saß am Fenster seines Büros in der Ramlerstraße und beobachtete den Regen, der von unregelmäßig auftretenden Böen gegen die Scheiben geworfen wurde. Das war also der Sommer. Nur Marys Sommersprossen entsprachen seiner Erwartung, sie erschienen im Mai in der Gegend um ihre schmale Nase und verschwanden im Oktober wieder. Der Heinrich-Seidel-Schule, auf die Mardo schaute, wenn er den Kopf zum Fenster seines Büros drehte, wurde vor kurzem ein wichtiger Preis verliehen, weil die Lehrer und Schüler ein paar neue Ideen hatten. Auf dem Schulhof gab es jetzt "Konfliktlotsen", die Schulhofstreitereien mit friedlichen Mitteln schlichteten. Wenn es sowas auch für Erwachsene gäbe, wäre er als Privatdetektiv bald arbeitslos. Den ganzen Tag schon hatte er ein merkwürdiges Gefühl gehabt, so wie wenn man den ganzen Freitag denkt, es sei schon Samstag. Oder wenn man beim Anblick eines fremden Menschen nicht sofort erkennt, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Oder als sähe man einen alleinstehenden heterosexuellen Mann mit einem Einkaufswagen voller Gemüse. Dann betrat endlich ein Kunde sein Büro. Er hatte eine hohe Stirn, eine spitze Nase, ein geschwungenes Mündchen, dazu kluge schwarze Knopfaugen und botoxglatte Haut. Mit dem huldvollen Lächeln eines Bankdirektors reichte er Mardo seine Visitenkarte. Winfried Wuppdich aus Westwestfalen.
"Es handelt sich um eine Entführung. Die unbekannten Erpresser wollen 1,5 Millionen Euro von der Plattenfirma meines Mandanten Thorsten Schelmikov. Wir suchen einen zuverlässigen Mann für die Übergabe."
"Wie sieht mein Auftrag konkret aus?" Mardo versuchte kühl zu wirken, aber er spürte, wie sein Herz gegen den Brustkorb trommelte. Hier ging es um Schwerverbrechen und große Summen.
"Sie treffen sich in zwei Stunden mit dem Mittelsmann der Entführer. Der Mann wird Ihnen alles erklären, morgen sollen Sie dann den Schließfachschlüssel übergeben. Am Bahnhof Gesundbrunnen wird das Geld deponiert."
Mardo hatte verstanden, Wuppdich setzte trotz des trüben Wetters seine Sonnenbrille auf, die vom Haaransatz bis zur Oberlippe reichte, so dass er wie ein Insekt wirkte. Dann stolzierte er auf die Straße. Seit langem fiel es Mardo auf, wie ursprünglich kleine Gegenstände immer größer wurden: Sonnenbrillen, Kopfhörer und Armbanduhren.
Mardo hatte etwas herumtelefoniert und im Internet gegoogelt. Schelmikov war ein absoluter Niemand in der siechenden Welt der Plattenindustrie. Wer sollte soviel Geld für ihn bezahlen? Dann hatte sein alter Freund, Kommissar Leber vom LKA 1, zurückgerufen. Die Plattenfirma wusste nichts von den Lösegeldforderungen und die Familie Schelmikov war nach Datenlage nicht vermögend. Vater: Schichtarbeiter bei Volkswagen in Emden, Mutter: Hausfrau und Nebenerwerbsbäuerin. Mardo ging über den Vinetaplatz, während er das Handy an sein rechtes Ohr hielt. Ein alter Mann auf Krücken kickte übermütig wie ein kleiner Junge ein Steinchen ins Gebüsch, eine Horde Kinder hatte ein kleines Feldlager mit Limonadeflaschen, Keksschachteln und Chipstüten aufgeschlagen. Er lief weiter, noch hatte er Zeit, sich einen Plan zu überlegen. An der Brunnenstraße stand das alte Tor der AEG, einem untergegangenen Konzern, die in diesem Kiez viele tausend Menschen beschäftigt hatte. Mardo mochte die riesigen Unternehmen und Bürokratien nicht, die das Leben auf diesem Planeten beherrschten. In seinen Augen waren es furchterregende Monster, die jungen Menschen beim Eintritt ins Berufsleben den Kopf abbissen und sich mit dem Rest den Hintern abwischten. Zwei Polizeibusse jaulten und heulten die Brunnenstraße nach Norden hinauf. Es musste etwas Besonderes passiert sein, denn Mardo sah, wie sich die Beamten ihre schusssicheren Westen anzogen. Er rief noch einmal Leber an und erzählte ihm von seinem Plan. Leber war einverstanden.
Mardo fuhr im Bus an einer langen Schlange vor einer Kleiderausgabe für Bedürftige vorbei. Er wunderte sich, wie normal die Leute in der Schlange aussahen. Ein Vater, der vor ihm saß, zeigte einem Kleinkind den Fernsehturm. Das Kind griff nach dem Spiegelbild der väterlichen Hand auf der Scheibe und lachte. Hinter ihm diskutierten ein paar Kinder, ob Russen "auch Ehrenmord machen". Eine verschlafen und verquollen wirkende Unterschichtblondine stieg an der nächsten Haltestelle zu. Ein Arbeiter mit Turnschuhen und abgewetzter Mappe unterm Arm. Man wusste nicht, ob es Wet-Gel oder natürliches Haarfett war, das sein Haar schwarz glänzen ließt. Arbeit, Supermarkt, Fernsehen. Die Frau mit dem Kopftuch, die komplett in Schwarz gekleidet war. Sie saß auf der Rückbank des Busses und gab ihrem Kind die Brust. An den Häusern Graffiti wie "Kunst trotz(t) Armut", "Bildet Banden", "Vattenfall = Zwischenfall" oder einfach nur "THC ...". Männer über fünfzig, die mit gesenktem Haupt und Händen in den Hosentaschen die Bürgersteige entlang schlurften. Man sah ihnen an, wie mühsam sie die Zeit totschlugen. Es gab einen Typ Arbeitsloser, dem man seine Situation auf den ersten Blick ansehen konnte. Dann ein Mensch mit Halbglatze und Vollbart, der wild zuckend stumme Selbstgespräche führte.
Schließlich betrat er den Ort des Geschehens, ein Lokal namens "Marx" am Görlitzer Park in SO 36. Aus den Lautsprechern erklang spanisches Selbstmitleid und Gejammer aus rauhen Kehlen an einer Reduktion aus Akustikgitarren. Am Tresen stand ein Punk mit pinkfarbenem Irokesen und mindestens fünfzig Kilo Übergewicht um den Äquator herum. Auf seinem uncoolen T-Shirt stand "Welcome to Kreuzberg", er lächelte jovial und etwas unsicher, als Mardo das Lokal betrat. Du bist es nicht, dachte Mardo, und setzte sich an einen der hinteren Tische. Er bestellte ein Radler und fragte die Kellnerin, warum es eigentlich kein Radler mit vollem Alkoholgehalt gäbe. Das sollte – Mardo fand es albern und absurd – das Stichwort für den Kontaktmann sein. Ein Mann mit einer, sich offensichtlich im Trend befindlichen Ola-Uku-Frisur (oben lang, unten kurz, Pferdeschwanz über ausrasiertem Nacken) drehte sich kurz um. Du bist es auch nicht, wusste Mardo. Aber ein anderer Mann faltete seine Zeitung zusammen, legte sie auf den Tisch und stand auf. Er trug eine dunkle Base-Cap, eine rechteckige Brille mit dicken schwarzen Rändern, einen grünen Parka und darunter ein schwarz-grau geringeltes Hemd. Er hatte tiefliegende hellblaue Augen, eine hervorspringende Nase und ein wulstartiges Kinn, das durch die mangelnde Rasur noch hervortrat. Die langen taxifarbenen Koteletten des jungen Mannes erinnerten Mardo an Klettverschlüsse.
"Sie sind Jan Mardo?" Der Mann hatte sich zu ihm gesetzt, ohne eine Antwort abzuwarten.
Mardo nickte nur stumm.
"Kannste von sowatt überhaupt leben? Ick meene, Privatdetektiv unn so?"
"Im Hauptberuf bin ich Schläfer. Die tschetschenische Mafia bezahlt mich," antwortete Mardo staubtrocken.
"Echt, ey? Ditt is ja’n Ding."
"Das war doch nur ein Spaß. Haben Sie Ihre Medikamente nicht genommen?" Mardo fühlte sich ganz sicher. Leber war in der Nähe und er selbst war nur Teil der Show. Niemand würde 1,5 Millionen zahlen, niemand war entführt worden und die ganze Sache war sicher nur inszeniert, um ein Maximum an medialer Aufmerksamkeit um ein Minimum an Gesangstalent zu versammeln.
"Kiek an, een Spaßvogel. Alter Verwalter!" rief der junge Mann, der sich geistreich als Mister Blue vorstellte. Mardo kannte alle Tarantino-Filme. Echte Berliner wie dieses Exemplar traf man nur selten in der Stadt und wenn man einen kennenlernte, hatte er im Normalfall einen absoluten Durchschnittsberuf wie Busfahrer, Krankenschwester oder Polizist. Berufe wie Informatiker, Dirigent oder Seiltänzerin wurden von Zugereisten ausgeübt. Die Bio-Berliner bildeten quasi das Rückgrat der Stadt und die Projektionsfläche für all die Menschen, die einmal einen Grund gehabt hatten, in diese Stadt zu kommen.
Der Rest ist schnell erzählt und wie immer erschreckend banal, wenn man es mit der Pisa-Generation des deutschen Verbrechens zu tun hatte. Leber verfolgte den jungen Mann, nachdem dieser das "Marx" verlassen hatte. Brav führte der ahnungslose Mister Blue den Kommissar in die Wolgaststraße und Schelmikov tritt demnächst in Moabit auf.
Am nächsten Tag schaute Mardo wieder durch das Teleobjektiv auf den Mauerpark hinunter, der herbstbunt vor seinem Wohnzimmerfenster lag. Einige wohlsituiert wirkende Menschen standen in einer Gruppe zusammen, es war Mardo, als würde die bürgerliche Anständigkeit aus ihnen herausleuchten. Sicher begutachteten sie die Grundstücke, auf denen ihre Luxusappartementhäuser gebaut werden sollten, die eines Tages Mardo, seiner Freundin und den anderen Mietern das Sonnenlicht nehmen würden. Als würde die gutbürgerliche Wohlanständigkeit geradezu aus ihnen herausleuchten, dachte Mardo, aus dieser gold-, chrom- und lederglänzenden Mischpoke herausgleißen, das man es nicht mehr aushalten könne. Und so hätte es vermutlich auch Thomas Bernhard formuliert, dachte Mardo, schrieb der Autor am Ende.
Freitag, 25. September 2009
Alter Park, neue Mauern
Donnerstag, 17. September 2009
Berlin ganz vorne
Die Situation im öffentlichen Personennahverkehr gereicht der deutschen Hauptstadt dieser Tage nicht gerade zur Ehre. Wer sich einmal den Spaß macht, mit der S-Bahn in der Innenstadt unterwegs zu sein, kann große Abenteuer auf kurzen Strecken erleben. Aber es gibt auch Positives zu berichten. Zum Beispiel über die neue U 55, die sogenannte "Kanzler-U-Bahn", die den Hauptbahnhof mit weit entfernten Zielen wie dem Bundestag und dem Brandenburger Tor verbindet. Heute hatte ich zum allerersten Mal das Vergnügen, diese zukunftsweisende Nord-Süd-Tangente zu befahren. Und das kam so: Regelmäßig fahre ich mit der U 9 von meiner Wohnung zum Bahnhof Zoo und steige dort in den erstbesten Bus, der vom Hardenbergplatz losfährt. Mal lande ich auf diese Weise am Alex, mal am Wannsee oder auch in Kreuzberg. Dieses Mal geht die Tour über den Ernst-Reuter-Platz, durch Moabit, an Gotteshäusern und Gefängnissen vorbei, bis zum Hauptbahnhof. Vor mir pressen sich zu Tode erschöpfte Rentner mit riesigen Koffern aus dem Bus, dann geht es hinab zum U-Bahn-Gleis.
Ich muss sagen, ich war begeistert. Noch nie bin ich in einer so sauberen U-Bahn gefahren – und ich lebe schon sehr lange in dieser Stadt. Der ganze U-Bahn-Wagen roch neu und nirgendwo war er bekritzelt. Die Scheiben waren sauber und völlig unzerkratzt, mit anderen Worten: man konnte hindurch sehen! Der Bahnhof "Brandenburger Tor" roch auch ganz neu und irgendwie sehr edel. An den Wänden goldene Lettern und museumspädagogische Großtaten in Form bebilderter Tafeln zur Berliner Geschichte. Wenn man dann die Treppe hinaufgeht, kommt man an einen "Kodak-Point", einen Punkt, von dem aus sich eine perfekte Fotografie des hauptstädtischen Wahrzeichens machen lässt. Und ob es der geneigte Leser nun glauben mag oder nicht: Vor dem Brandenburger Tor posiert tatsächlich eine Blondine im Bikini vor einem Mercedes-Oldtimer, ihren Luxuskörper ziert eine Schärpe mit der Aufschrift "Miss America". Sie wird von einer Masse sabbernder und grinsender Touristen und Journalisten umlagert, die sicher alle etwas anderes denken als ich. Es heißt, die Kanzler-U-Bahn habe 320 Millionen Euro gekostet, 178.000 Euro pro Meter Gleis. Das sind knapp hundert Euro pro Berliner. Ich finde, das Geld ist gut angelegt.
Montag, 7. September 2009
Die Anfänge des Brunnenviertels
Anfang des 18. Jahrhunderts floß die Panke noch weit außerhalb Berlins. Östlich des Flusses war der Boden fruchtbar und wurde für den Ackerbau genutzt, westlich von ihm war der Boden sandig und unfruchtbar. Die Fichtenwälder, die sich bis zur Jungfernheide hinzogen und nur durch Sümpfe und Fenne unterbrochen waren, fielen im Laufe der folgenden Jahrzehnte dem Holzhunger der wachsenden Großstadt zum Opfer: als Brennholz, Bauholz, und für den Bau einer Zollmauer aus Holzpallisaden (ab 1730 – von den 17 Toren dieser Zollmauer ist nur noch das Brandenburger Tor erhalten). Mitte des 18. Jahrhunderts befahl der preussische König, Friedrich der Große, die Besiedlung des Gebiets. Die damalige Stadtgrenze zog sich vom Oranienburger Tor über das Hamburger Tor zum Rosenthaler Tor, entlang der heutigen Torstraße.
1749 ließ der König "Gericht, Galgen und Rabenstein" von der heutigen Bergstraße (Gegend des Stadtbads Mitte und des Zille-Parks) zum Gartenplatz verlegen. Dort, wo heute die Kirche Sankt Sebastian steht, war bis 1837 die "Scharfrichterei", der Richtplatz der Hauptstadt: Ein etwa zwei Meter hoher quadratischer Steinbau, auf dem ein dreifüßiger Galgen stand. Im Volksmund wurde er "Schindberg" oder "Teufels Lustgarten" genannt. Es war jedesmal ein großes Spektakel mit zehntausenden von Zuschauern und Imbissbuden. Der Geist einer hingerichteten Frau soll angeblich immer noch in der Kirche spuken, die man über dieser Richtstätte gebaut hat. Zehn Tage ließ man damals ihren Leichnam von Schaulustigen begaffen. Anfangs war die Richtstätte am Ort des heutigen Roten Rathauses in Mitte, später kam noch der Rabenstein hinzu, er lag in östlicher Richtung vor der Stadt. Heute ist dort der Strausberger Platz in Friedrichshain; Hans Kohlhase, Vorbild für Kleists Michael Kohlhaas, wurde dort gerädert.
So wurde Platz geschaffen für die ersten Kolonisten, die sich im Berliner Norden vor den Stadttoren ansiedelten. Die Panke blieb zunächst der Grenzfluss zwischen Berlin und dem "platten Land", dem Landkreis Barnim. Eine Straße, entlang der heutigen Bad- und Brunnenstraße, führte von Berlin zum neu eröffneten Gesundbrunnen. Die Quelle war seit 1748 bekannt (heute liegt sie hinter dem Gebäude Badstraße 39), Kureinrichtungen und Gartenanlagen entstanden. Ab 1752 wurden einfache Häuser entlang der Acker- und der Bergstraße, später entlang der Ufer- und der Wiesenstraße sowie am Ufer der Panke gebaut. Die Kolonisten waren arm, viele arbeiteten als Handwerker in der Stadt: Maurer, Zimmerleute, Garn- und Kattunweber, Blattbinder, Ziegelstreicher und Büchsenmacher. Ein Beispiel für die Bauweise der damaligen Zeit ist das Haus in der Koloniestraße 57, das 1784 erbaut wurde.
Preussen warb Kolonisten in anderen Ländern an, so gab es entsprechende Agenturen in Hamburg oder Frankfurt/Main, aber auch in Österreich oder Polen. 1725 waren ein Viertel aller Preussen zugewanderte Kolonisten aus anderen Ländern, Preussens Bevölkerung erhöhte sich von 1,4 Millionen (1688) auf 2,2 Millionen (1740). Die Kolonisten waren vom Militärdienst befreit und hatten das Recht der freien Heirat (damals keine Selbstverständlichkeit), sie bekamen das Land, das Baumaterial, Vieh und Ackergerät umsonst. Auch Steuern mussten sie zunächst nicht zahlen. Im heutigen Brunnenviertel siedelten sich zunächst Bauhandwerker aus dem Voigtland im Erzgebirge an, die Siedlung erhielt den Namen "Neu-Voigtland". Dazu kamen Gärtner aus der Schweiz und aus Böhmen, die den Boden urbar machen sollten, der nach Abholzung der Kiefernwälder zu versteppen drohte. Doch bald kamen auch andere arme Menschen in diese Gegend, um außerhalb der Stadtmauern Unterkunft zu finden: Tagelöhner und Bettler. Schon 1775 standen im entsprechenden amtlichen Verzeichnis neben 98 Grundstücksbesitzern bereits 220 Mieter, die in Nebengebäuden und Hinterhof für wenig Geld eine Wohnung fanden. 1803 lebten in 207 Häusern nun schon 3854 Menschen. In den folgenden Jahren hatten auch Diebesbanden hier ihren Schlupfwinkel, "Voigtland" wurde im Volksmund und in der Literatur zum Synonym für Armut und Verbrechen in Berlin. Hier bildete sich das erste Proletariat der Stadt, hier wollte man nicht hin, hier strandete man. Im Jahre 1800 erfolgte die offizielle Umbenennung der Siedlung in "Rosenthaler Vorstadt" und die Straßen bekamen ihren heutigen Namen. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden erste Industrieansiedlungen: Leimsiedereien, Leder- und Dachpappenfabriken. Die Grundstücke wurden bereits gemischt genutzt, d.h. Wohnungen im Vorderhaus und Werkstätten und kleinere Fabriken in den Hinterhöfen. 1832 hatte die gesamte Rosenthaler Vorstadt 9647 Einwohner.
Das heutige Brunnenviertel gehörte halb zur Oranienburger Vorstadt (westlich der Brunnenstraße), halb zur Rosenthaler Vorstadt (östlich der Brunnenstraße).
Einige Fakten zum Leben zwischen 1750 und 1830:
Bedrohung durch Armut und Hunger: schon zwei schlechte Ernten hintereinander können eine Hungersnot auslösen, da die Lebensmittelknappheit zu Preisanstieg führte, z.B. 1771/72 in Sachsen und Süddeutschland. "Hungerkost": wildes Gemüse, Waldfrüchte, Gras. Zwangsarbeit und Zuchthaus für die Armen in den Städten.
Krankheiten: 1817 große Cholera-Epidemie. Situation verbessert sich durch Verbannung der Tiere aus dem Wohnbereich und die zunehmende Sauberkeit in den Häusern. Pest gibt es in Osteuropa noch im 18. Jhd., auf dem Balkan noch bis Mitte des 19. Jhd.
Feuersbrünste, Kriege, hohe Kindersterblichkeit. Lebenserwartung der Bauern: 30-40 Jahre, nur etwa die Hälfte erreicht das 20. Lebensjahr. Ärzte kann sich praktisch niemand leisten, die Reichen werden ca. 10 Jahre älter als die Armen.
Ernährung hauptsächlich vegetarisch. Steigende Bevölkerungszahlen erfordern es, Weideflächen zu Anbauflächen für Getreide usw. umzuwidmen. In erster Linie Weizen, aber auch Gerste, Hirse, Roggen und Hafer. Hülsenfrüchte als billige Eiweißquelle: Linsen, Bohnen, Erbsen. Gemüse: Kohl, Rüben. Ab dem späten 18., frühen 19. Jhd. Kartoffelanbau, der höhere Erträge pro Hektar bringt, setzt sich schnell als Hauptnahrungsmittel neben Brot durch. Weizen gilt jedoch als "Luxusgetreide" für die Reichen oder besondere Anlässe, die Armen begnügen sich mit zweitrangigen Sorten wie Hafer, Gerste und Roggen. Daraus wird nicht nur Brot gebacken, sondern auch dicke Suppen und Breikost (z.B. Grütze). Käse als billiges Eiweißprodukt ist ein beliebtes Volksnahrungsmittel.
Etat einer Maurerfamilie in Berlin um 1800: 72,7% für Ernährung, davon 44,2% für Brot, Miete 14,4%, Beleuchtung/Heizung 6,8%, Kleidung/sonstiges 6,4%. 1780 kostet eine Kalorie, die über Getreideverzehr zu sich genommen wird, elf mal weniger als eine Kalorie, die über Fleischverzehr zu sich genommen wird.
Fleisch: 1763 gibt es so wenig Ochsen in Berlin, dass der König befiehlt, jede Woche hundert Hirsche und zwanzig Wildschweine in die Stadt zu bringen. Lokaler Viehhandel in Preussen, aber auch Fernhandel mit Rindern aus Polen, Moldawien und der Walachei. Abnehmender Fleischverbrauch vom 15. Jhd. bis 1850 in Europa.
Gebäude: Häuser aus Ziegelsteinen lösen Häuser aus Holz, Lehm und Stroh ab (=> Brandgefahr). Arme Familien bewohnen nur ein Zimmer, der Hausrat (Strohsäcke, Tische, Stühle, Schrank/Truhe, Küchengeräte wie Kessel, Pfanne und Backtrog) lässt sich beim Umzug per Hand mitnehmen. Glasfenster (mit kleiner Scheibengröße und vielen Holzsprossen) gab es Ende des 18. Jhd. praktisch in jedem Haus, oft waren sie aber nicht zu öffnen.
Kleidung: Unterwäsche wenig verbreitet, häufige Hautkrankheiten wie Krätze und Räude. Flachs und Hanf als Faserstoff für Röcke, Kittel und Hosen, Wolle nicht ausreichend vorhanden. In der zweiten Hälfte des 18. Jhd. gehen Männer dazu über, Unterhosen zu tragen, die täglich gewechselt werden. Fehlende Hygiene als Problem, Mangel an Seife und Bademöglichkeiten.
Berlin hat 1783 141.283 Einwohner. Die Städte wachsen durch Zustrom der Landbevölkerung, nicht durch Geburtenüberschuss. Landproletariat wird zu Stadtproletariat, Kaufmannsaristokratie und Zünfte beherrschen die Städte.
Quellen:
Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, München 1985.
Gerhild H. M. Komander, Der Wedding, Berlin 2006.
Helmut Engel u.a. (Hg.), Wedding, Berlin 1990.
Mittwoch, 2. September 2009
Exemplarische Analyse des Spätkapitalismus
Das Produkt "Fruit-Bonbons. McCandy" der Firma Genucchi aus Brüssel erscheint dem flüchtigen Beobachter zunächst als ein weiteres unscheinbares Erzeugnis der Lebensmittelindustrie: Es handelt sich hierbei um eine kleine zweiteilige Blechdose mit einem Durchmesser von 7,5 cm und einer Höhe von 2,5 cm, die durch einen mechanischen, an der Außenwand der Dose angebrachten Messingverschluss zu öffnen ist. Die Oberseite wird von einem Bild der amerikanischen Comic-Familie Duck vollständig eingenommen, während die untere Seite das übliche Kleingedruckte wie unerwünschte Nebenwirkungen und durchschnittliche Strahlungswerte enthält. Der Inhalt besteht aus winzigen bunten Zuckerbonbons mit Fruchtgeschmack.
Besagter Gegenstand lässt sich, vor dem Blick adoleszenter und erwachsener Käufer gut verborgen, auf den untersten Regalen belgischer Supermärkte finden, wo sie – zumeist in unmittelbarer Kassennähe – eine ständige Gefahr für einkaufende Mütter mit Kindern im Alter zwischen drei und sieben Jahren bilden. Die unauffällige Verpackung sowie die Produktgröße ermöglichen es jedem Kleinkind mit ein wenig kriminellem Geschick, eine solche Dose in den, kurz vor der Kasse natürlich randvollen, Wagen zu schmuggeln. Der geringe Preis und die übliche Hektik an der Kasse bescheren dem kreativen Nachwuchs nach vorläufigen Untersuchungen eine Erfolgsquote von immerhin 98,8 Prozent.
Neben diesen psychologischen Hinterlistigkeiten des real existierenden Kapitalismus soll es uns hier aber besonders um das Verhältnis von Marketing und Sozialisation gehen, oder um es in einer Frage zu formulieren: Inwieweit nehmen Produkte der Lebensmittelindustrie, die entsprechenden internationalen Konzerne und ihre politischen Interessenvertreter Einfluss auf die soziale Prägung und die psychische Formung der nachfolgenden Generationen? Betrachten wir zunächst einmal den äußeren Eindruck, den jenes Produkt beim infantilen Konsumenten weckt. Die eindeutig auf die kindlichen Käuferschichten zugeschnittene Zeichnung zeigt Donald Duck nebst Daisy, Tick, Trick und Track und Oma Duck gemeinsam in einem knallroten Cabriolet unbekannter Herkunft, das eindeutig menschliche Züge aufweist. Es soll hier der Eindruck ungetrübter Fahr-, also letztlich Konsumfreude vermittelt werden, an dem einträchtig Personen aller Altersgruppen und Sozialschichten teilnehmen – quasi ein Drei-Generationen-Auto. Auf der Unterseite fällt die Aufschrift "Fruit-Bonbons" ins Auge, erst etwas kleiner darunter der eigentliche Produktname "McCandy". Auch hier werden unschuldige Erstkonsumenten behutsam und unterbewußt auf bestimmte Begriffe konditioniert, welche die Lebensmittelindustrie in späteren Verkaufsschlachten durch die sogenannte "Passwort-Technik" mühelos reaktivieren kann. Hilflos und zumeist unwissend müssen die Eltern jener armen Geschöpfe mit ansehen, wie sie die Assoziation von süßem Fruchtgeschmack zum Produktnamen täglich mehr verfestigt und damit ein weiterer kapitalistischer Reiz-Reaktions-Mechanismus installiert wird. Ferner suggerieren die stabile Verpackung und die unschuldige Aufmachung einen gewissen materiellen Wert, der das Produkt für den unbedarften Novizen des Ausbeutersystems aus der Menge der Wegwerfprodukte heraus ragen lässt. Vor allem der angesprochene Kundenkreis wird eine solche Dose eifersüchtig hüten und so der Infiltration auf unbestimmte Zeit ausgesetzt bleiben. Die Größe der Dose entspricht außerdem genau jenen Erwartungen, die Kinder, nach einer Untersuchung von Hopperflap/Proctor (Harvard Press 2008), im Durchschnitt an ein Schatzkästlein haben. Auch nach Verbrauch des Inhalts, nachdem also die Zuckersucht des abhängigen Kunden finanziell befriedigend abgemolken ist, und mit Beginn der Nutzlosigkeit der Verpackung verbleibt die Dose im Besitz des Verbrauchers und bildet, allein aufgrund der Tatsache, daß es einen vollständig umschlossenen und nicht einsehbaren Innenraum besitzt, für diesen eine nicht unbeträchtliche Geheimnishaftigkeit.
Der Begriff "Schatzkästlein" sei mir Stichwort und Überleitung zugleich: Kommen wir nun zum Verschluss. Die Dose ist nur durch kräftiges und mehrmaliges Drehen eines Messinggriffs zu öffnen, ein Vorgang, den gewiß nur geduldige Erwachsene ausführen können und den kein noch so begabtes Kind nachzuvollziehen in der Lage sein wird. Hier liegt nun das eigentliche Problem. Das Kind, trotzdem es nach erfolgreichem "Einkauf" und der nachfolgenden Resignation der Eltern juristisch Eigentümer der Dose und somit auch der darin enthaltenen Bonbons ist, kann aus eigener Kraft nicht an den Inhalt gelangen. Es muss sich ständig um die Hilfe älterer oder doch zumindest weiter entwickelter Individuen bemühen, es wird in seinen Konsumgelüsten also zunächst stimuliert und dann frustriert. Auf diese Weise gelingt es dem Otterngezücht der herrschenden Klasse nicht nur, die Gier nach den Zuckerperlen zu steigern, sondern auch geradezu spielerisch, den imperialistischen Kardinalmechanismus von Arbeit und Kapital, also von Frustration und Stimulanz, zu konditionieren.
Hier enthüllt sich nun aber der ganze schändliche Charakter der amorphen Kräfte, die im Hintergrund der Industrie die Fäden zivilisatorischer Entwicklung, vulgo kapitalistischer Akzeleration durch kognitive Retardierung – schnaub! – zu ziehen die Impertinenz besitzen. Die sozialen Auswirkungen lassen sich zum Zeitpunkt dieser Untersuchung auch nicht annähernd überschauen. Wird eine Generation von bonbon-, fress- und konsumsüchtiger Oralzombies die ahnungslose Gesellschaft überrollen, nur ihrem Zwingherrn Genucchi hörig, unter seiner Zuchtknute des Zuckermonopols sich windend, oder entreissen die völlig entfesselten Käufermassen belgischer Fruchtbonbons der politischen Klasse die Macht, um den totalen Versorgungsstaat zu gründen? Eine Frage, die wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt.
Montag, 24. August 2009
Spaziergang
Am ersten schönen Frühlingstag dieses Jahres entschloß ich mich zu einem Spaziergang. Ein Nachbar bat mich, auf meinem Weg nach dem Befinden seines Schwagers zu sehen. Tief in meinen Mantel versteckt – die Sonne schien zwar, doch der Wind blies sehr heftig – ging ich los und kam bald an die letzten Höfe und Häuser am Bahndamm. Im hellen frischen Licht erschien mir dieser entlegene Winkel des Dorfes wie etwas Neues, noch nie Gesehenes, obwohl ich schon seit langem hier wohnte. Ich fühlte mich wie ein Entdecker und ging durch die Straßen wie ein Fremder, der sich nur kurz in einer unbekannten Gegend umschaut, sie mit Staunen in sich aufnimmt, um gleich darauf wieder in die Heimat zurück zu kehren. Trotzdem spürte ich keine Unsicherheit, sondern nur die tiefe Neugier, wie sie kleine Kinder zu haben pflegen, als ich mich mit langen befreienden Schritten dem Hof des unbekannten Schwagers näherte. Das Haupthaus hatte eine überdachte Treppe, die auf ein mächtiges Portal zu führte, rechts davon erstreckte sich ein langer schmuckloser Anbau. Als ich zum ersten Mal klingelte, blieb alles still. Ich klingelte noch einmal und wollte gerade gehen, als eine alte gebückte Frau in einem schwarzen Kleid öffnete. Ich stellte mich vor und bat um Einlaß, den sie mir allerdings nur im Nebengebäude gewähren wollte. Ohne weitere Erklärungen schloß sie wieder die Tür, ich ging die Stufen hinab und wartete vor dem niedrigen Holztor des Anbaus. Schließlich hörte ich sie drinnen, wie sie mit unverständlichen Rufen gegen ein vielstimmiges Gebell ankämpfte, das dumpf hinter dem Tor begonnen hatte. Endlich hatte sie die Hunde beruhigt, und ich hörte das umständliche Drehen des Schlüssels im Schloß, das mich ungeduldig und bereits ein wenig gereizt näher treten ließ. Mit einem Mal aber öffneten sich beide Flügeltüren und eine riesige Meute großer Wolfshunde stürzte heulend aus dem Tor, förmlich aus ihm hinaus geschleudert ergoß sie sich endlos über die Gasse. Ich wurde umgerissen und während noch eines der übermächtigen Tiere seine Fänge in meinen Hals schlug, liefen die so plötzlich befreiten Bestien zur Hauptstraße hin, einem unbekannten Ziel entgegen.
Shakespeare in Marzahn
Gespräch in der S7 in Marzahn, die beiden sind 17 oder 18 Jahre alt, er hellbraune Stoppelfrisur, sie Gesichtspiercings und Mütze.
Sie: Sobald ditt Jeld uffm Konto iss, lass ick ma wieda’n Tattoo mach‘n.
Er: Was’n?
Sie (deutet auf ihre rechte Schulter): Da soll’n drei so Sterne hin.
Er: Haste ditt neue Tattoo von Atze jeseh‘n?
Sie: Nee. Watt’n?
Er (deutet auf die Innenseite seines rechten Unterarms): Da steht jetzt Roman&Jule. Und seine Olle hattet ooch.
Sie: Wie lang sind’n die schon zusamm‘?
Er: Neun Monate.
Sie: Naja, wenn se mein'. (schweigt einen Augenblick) Aber Julias Oller heest dô ja nee Roman.
Er: Kann ooch Romeo sein.
Sie: Ach so, vastehe. Romeo&Julia.
Er: Jenau.
Sonntag, 2. August 2009
Für Jeanne
Es war einmal ein Mädchen namens Jeanne, dem waren Vater Staat und Mutter Courage gestorben, und es war arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte. Es war aber gut und fromm. Und weil es so von aller Welt verlassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott in den Wedding.
Da begegnete ihm ein armer Mann mit Migrationshintergrund, der sprach: "Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig." Es reichte ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: "Gott segne dir's", und ging weiter.
Da kam ein unbetreutes Kita-Kind, das jammerte und sprach: "Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir etwas, womit ich ihn bedecken kann." Da tat es seine Mütze ab und gab sie ihm.
Und als es noch eine Weile gegangen war, kam ein Hartz IV-Empfänger und hatte kein Leibchen an und fror; da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eine Drogenabhängige um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin.
Endlich gelangte es in den Mauerpark. Es war schon dunkel geworden, da kam ein Obdachloser und bat um ein Hemdlein, und das fromme Mädchen dachte: "Es ist dunkle Nacht, da sieht dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben", und zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die Sterne vom Himmel und im Brunnenviertel hatten plötzlich alle Menschen Arbeit, alle kleinen Kinder einen Kita-Platz und alle Kranken waren wieder gesund. Die Unglücklichen wurden glücklich und brauchten weder Drogen noch Alkohol. Und am Ende wurde aus dem Mauerpark sogar ein richtiges Biotop, in dem die Menschen zusammen ein großes Fest feiern konnten. Alles Gute für Dich und die Menschen, die Dir wichtig sind!
Samstag, 1. August 2009
Ein Märchen
Schwermut und Leichtsinn gingen auf eine Reise. Sie wollten ins Königreich des ewigen Nachmittags. Leichtsinn wollte sich entspannen, Schwermut wollte sich erholen. Aber Leichtsinn wußte gar nicht, wie er sich entspannen sollte, denn er fühlte keinen Druck, der entweichen könnte. Und Schwermut wußte nicht, wie man sich erholt, und er war darum voller Sorge. Der König des ewigen Nachmittags empfing sie und gab beiden ein Geschenk, nachdem er sie königlich bewirtet hatte. Schwermut bekam einen Luftballon und Leichtsinn eine Eisenkugel. Später am Nachmittag beschlossen sie zu tauschen ... So hatte Schwermut seine Parabel und Leichtsinn seine Parodie und alle waren glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
Samstag, 25. Juli 2009
Berliner S-Bahn
Es ist herrliches Spätsommerwetter und gegen Mittag beschließe ich, ans Kleist-Grab zu fahren und ein wenig am Wannsee spazieren zu gehen. Am Bahnhof Zoo steige ich in die S-Bahn, zwei Stationen weiter steigt ein abgerissener übelriechender älterer Mann mit schorfigen Wunden am fast kahlen Schädel ein und setzt sich mir gegenüber. Er spricht mich fortlaufend an, fragt nach der Uhrzeit und ob er mit diesem Zug zum Ostkreuz käme. Höflich und freundlich, wie ich mich den Gescheiterten gegenüber immer verhalte (denn sie geben mir das Gefühl, noch nicht völlig auf der untersten sozialen Stufe angekommen zu sein), antworte ich ihm in kurzen Sätzen und erkläre ihm, daß er sich auf dem Weg nach Potsdam befände. Mit heiterem Gemüt konstatiert er, alle Wege würden schließlich ans Ziel führen, und macht keine Anstalten, den Zug zu wechseln. Dann sagt er, er sei betrunken und holt zum Beleg ein kleines Cognacfläschchen aus der mitgeführten Plastiktüte. Er bietet mir einen Schluck an, ich lehne dankend ab, er stärkt sich ein wenig. Sehr zur Erheiterung der älteren Damen, die auf den Bänken neben uns sitzen, sagt er anschließend: "Brauchst keine Angst zu haben. Der Onkel Norbert ist ein guter Mensch." Dann bricht er in ein Wimmern und Heulen aus, sein Gesicht ist eine verzerrte Maske des Jammers. Ich antworte dem zwei Köpfe kleineren Mann, ich hätte keine Angst. Und wieder: "Brauchst keine Angst zu haben" usw. Plötzlich zieht er ein Messer. Es ist keines von der Sorte, die man zum Schmieren von Marmeladebrötchen benutzt, sondern ein scharf geschliffenes, spitzes Jagdmesser. Er richtet es auf mich, die Klinge ist einen halben Meter von meinem Bauch entfernt. Und wieder: "Brauchst keine Angst zu haben. Der Onkel Norbert ist ein guter Mensch." Ich bleibe nach außen ruhig und freundlich, während in meinem Kopf fieberhaft die Gedanken durcheinander fliegen. Es denkt in mir auf Hochtouren: den Mann und die Waffe im Auge behalten, cool bleiben und weiter reden, keine hektischen Bewegungen, notfalls den Gegner überwältigen. Ich erkläre ihm, er müsse erst aus- und dann umsteigen, um das Ostkreuz zu erreichen. Er sagt nur immer wieder: "Brauchst keine Angst zu haben. Der Onkel Norbert ist ein guter Mensch." Als würde eine Schallplatte hängen, dazu dieses gruselige Jaulen und die verzerrte Fratze. Schließlich steckt die Elendsgestalt das Messer wieder ein, wünscht mir noch einen guten Tag und steigt aus. Bei meinem Spaziergang geht mir durch den Kopf, wie schnell doch alles vorbei sein kann. Lange bleibe ich bei Kleist stehen. Dir wurde das Leben geschenkt, du hast nicht danach gefragt. Also frag auch nicht nach dem Tod, genieße das Leben wie Geld, das du auf der Straße gefunden hast.
Scheitern
Über das Scheitern ist nicht genug geschrieben worden. Aber wer kann vom Scheitern schon berichten? Viele Gefallene sind verstummt. Und die wenigen aufrechten Gescheiterten müssen sich im Triumphgeheul moderner Oberflächlichkeit eine Stimme verschaffen. Reden und schreiben ist das eine, zuhören und lesen das andere. Was kann man aus den Erzählungen der Gescheiterten lernen? Wie man es nicht macht? Wenn man auf einer Party nach seinem Namen gefragt wird, antwortet man schließlich auch nicht: Ich heiße nicht Fred. Über den Umweg des Gescheiterten und seine Erzählung wird man kein Gewinner. Und das scheint ja offensichtlich für die überwiegende Mehrheit der Menschen der Hauptzweck des Daseins zu sein. Der geheime Genuß des Scheiterns muß ihnen verborgen bleiben. Wer gescheitert ist, hat das Spiel hinter sich. Er ist erleichtert und kann fortan alles gelassen sehen. Wer in der Bundesliga auf dem letzten Tabellenplatz steht, kann aufatmen. Tiefer kann man nicht mehr sinken, es kann nur noch aufwärts gehen. Und erzähle mir keiner was von Abstieg. Ich glaube nicht an Wiedergeburt. Das Leben ist wie eine Saison und Platz 18 ist der behagliche Ruhepol des glücklichen Faulpelzes. Wer gescheitert ist, sollte nicht den Fehler begehen, es noch einmal versuchen zu wollen. In Deutschland wird es einem ohnehin nicht gedankt. Hinter dem Scheitern liegt das Reich der Freiheit. Und es ist angenehm ausgestattet. Was brauche ich? Essen, trinken, das "Dach über dem Kopf". Hat man alles immer. Musik, Fernsehen, Bücher? Kein Problem. Gelegentlich eine neue Unterhose und Blumen für Mutti? Geht auch irgendwie. Was soll’s also? Laut einer Versicherungsstatistik ist "Gehen auf ebener Erde" die sicherste Fortbewegungsart. Das kann ich bestätigen. Nicht fallen, rennen, taumeln, torkeln, kriechen, kugeln, robben, rollen, stürzen, straucheln, hinken, hasten und was es der Fortbewegungsarten mehr gibt. Das einfache Gehen, zumal auf ebener Erde, ist die wundervollste Art, sich auf dieser schönen Welt fortzubewegen. Bei allen fernen Zielen sollten wir uns fragen, ob sie es wert sind, zu Fuß erreicht zu werden. Sind sie es nicht, sollten wir zu Hause bleiben.
Donnerstag, 23. Juli 2009
Creative Losing
Take 1
Peter, Paul und Mario sitzen um einen Tisch voller leerer Bierflaschen.
Mario, ein abgehalfterter Ex-Bundeswehroffizier, dessen Getränkehandel mehr als schlecht läuft, und der sein Haar so kurz trägt, dass ein US-Soldat gegen ihn wie ein Hippie wirkt, fragt: "Und Paul, was hast du vor? Willst du es dieses Jahr schaffen, von der Stütze weg zu kommen?" Er ist stolz, wenigstens einer Arbeit nachzugehen, aber in Wirklichkeit lebt er vom Übergangsgeld, das ihm nach zwölf Jahren Brüllen und Scheiße-Fressen zusteht. Erst vor kurzem ist er aus seinem großen Dorf in die kleine Stadt gezogen.
Paul, ein arbeitsloser Akademiker, der nach ein paar Jahren als Doktorand an der Uni weder die Promotion noch den Absprung in einen seriösen Beruf geschafft hat und der immer noch die selben Jeansjacken und Sweat-Shirts wie in der 8. Klasse trägt, antwortet: "Ich habe da eine Idee. Ich will einen Krimi schreiben. Krimis werden immer gelesen und ein alter Freund von mir möchte einen kleinen Verlag aufziehen."
Peter, der eine illegale Autowerkstatt in einem Hinterhof am Rande ihrer kleinen Stadt betreibt und der Metall nicht nur in Werkzeugform, sondern auch als Piercing an seinem gesamten Körper nutzt, fragt: "Und wie kommt man da auf eine Idee? Du hast doch keine Ahnung von Verbrechen."
Paul: "Creative Writing."
Mario: "Was soll das denn sein?"
Paul: "Das ist aus Amerika. Ich habe ein Buch darüber gelesen. Du verwandelst die Realität, deinen Alltag in eine Geschichte. Du machst einen Plot daraus und für den Ablauf der Handlung gibt es bestimmte Schemata, nach denen du diesen Plot entwickelst." Paul benutzt gerne Worte wie "Schemata", die Mario und Peter nicht mögen. Sie hätten "Schemas" gesagt.
Peter kratzt sich nachdenklich an seinem Augenbrauenpiercing: "Dann zeig uns doch mal, wie das geht!"
Paul: "Nichts leichter als das. Nehmen wir mal die Protagonisten ..."
Mario: "Red deutsch, du elender Sohn einer neunbrüstigen Hyäne und eines defekten Tankrüssels."
Paul: "Die Hauptdarsteller, du viertklassiger mongoloider Tierversuchs-Ersatz!"
Peter: "Jetzt kommt endlich auf den Punkt, ihr Jauche saufenden Schweine." Die drei lieben es, sich die übelsten Beschimpfungen um die Ohren zu hauen.
Paul: "O du eiternde Geissel der Karpaten, du leichtfertig ausgeschissene Schmach des Rheinlands, du philippinischer Hartgeld-Stricher! Pass auf, nehmen wir mal drei Personen. Sagen wir, der eine ist ein abgehalfterter Bundeswehroffizier, dessen Frau ihn betrügt ..."
Mario: "Du hast sie ja wohl nicht alle, du schleimgeborener Sohn päderastischer Molusken, der du aus dem verfaulten Leib einer armenischen Zigeneunernutte gekrochen bist, die beim Anblick deiner räudigen Zombiefresse vor Schreck verreckt ist!"
Paul: "He, es ist doch nur eine Geschichte. Sie hat nicht wirklich mit euch zu tun, verstehst du? Was ich hier sehe, ist nur der Rohstoff, und ich mache daraus Literatur. Ihr seid wie Hopfen und Malz, ich bin der Braumeister. Also: Die zweite Person ist ein zugepiercter Mechaniker, der schwarz alle möglichen Autos repariert, und über dessen Werkstatt der einzige Swinger-Club einer Kleinstadt ist."
Peter: "Möge der kotzefressende Beelzebub, der den üblen Samen auf einen von Schmeissfliegen umschwirrten Misthaufen fallen ließ, aus dem du hervor gekrochen bist, dir auf ewig Chilipulver unter die Vorhaut und die Augenlider reiben, bis das du bereuest deinen Frevel gegen mich."
Paul: "Halt endlich dein vor Dummheit aufgeschwollenes Maul, damit ich weitermachen kann, du asoziales Stück Rattenscheiße aus der übelsten Gosse einer hinterindischen Leprastation! Die dritte Person ist ein arbeitsloser Akademiker. Die drei sitzen in einer Wohnung und überlegen, wie sie zu Geld kommen können. Da tritt einer von den drei Pro ... von den Hauptdarstellern ans Fenster. Mario, würdest du mal ans Fenster gehen!"
Mario: "Was soll die Scheiße?"
Paul: "Bitte, mach es einfach."
Mario steht auf und geht ans Fenster. "Ungeziefer wie dich, das im Rinnstein darauf wartet, von seinem erbärmlichen Dasein als Kotzbrocken erlöst zu werden, sollte man eigentlich mit Schimpansenauswurf bepinseln und den Wespen überlassen."
Paul: "Jetzt sag mir einfach mal, was du da siehst, du menschliche Variante eines gebrauchten Tampons."
Mario: "Ich sehe die Straße und dahinter die Wiese am Kanal."
Paul: Weiter!"
Mario: "Dann kommen ein paar Bäume und dahinter die Mauer vom Grundstück der alten Gomolke." Die alte Gomolke ist eine reiche Industriellenwitwe. Niemand in der Stadt hat soviel Geld wie sie, über die Höhe des Vermögens wird gerne in den umliegenden Spelunken spekuliert.
Paul wendet sich an Peter: "Willst du die Geschichte weiter erzählen?"
Peter grinst: "Die drei Jungs planen eine Entführung."
Paul: "Genau. Der erste hat eine solide Armeeausbildung und kann mit Waffen, Sprengstoff usw. umgehen. Der zweite kennt sich mit Autos aus und hat ein gutes Versteck. Und der dritte hat Erfahrung in Projektplanung und kann reden, also über das Lösegeld verhandeln. Kapiert?"
Mario und Peter nicken schweigend.
Paul: "Und was haltet ihr von dem Plan?"
Mario: "Das ist besser als meine Idee, den Swinger-Club zu beobachten und irgendwelche verheirateten Hausfrauen zu erpressen."
Take 2
In den folgenden Tagen verbringen sie viel Zeit mit einem Feldstecher am Fenster von Peters Wohnung. Der Haupteingang zum Grundstück der alten Gomolke liegt auf der anderen Seite, schräg gegenüber einem Weingut, das auch eine Straußwirtschaft betreibt. Während die Schoppengläser in der Sonne funkeln, machen sie sich Notizen. Offenbar lebt auf dem Grundstück noch ein Hausverwalter, der für den Garten zuständig ist, und dessen Frau die Villa in Ordnung hält. Bei unauffälligen Spaziergängen durch die umliegenden Straßen und am Kanal können sie sich einen Überblick zum Thema Sicherheitstechnik verschaffen.
Währenddessen im Swinger-Club:
"Na, Susi. Wann kommst du endlich mit der Kohle rüber?" Susi hat sich Geld geliehen, aber irgendwie war alles in den Parfümerien und Modegeschäften der nahen Großstadt geblieben.
"Du kriegst es bald, versprochen."
"Oder dein Mann bekommt dieses nette kleine Videoband zusammen mit unserem Leergut."
"Jetzt bleib mal ganz locker. Mario und ich werden bald eine ganze Menge Kohle haben, verlasst euch drauf!"
"Ach nee, erzähl doch mal."
Susi schweigt. Aber um eine lange und schmutzige Geschichte kurz zu machen: Schließlich erzählt sie den beiden Bulgaren doch alles, wobei einige Tropfen in ihrem Gin-Tonic eine nicht unwesentliche Rolle spielen.
Take 3
Am Samstagabend ist es dann soweit. Peter hat einen alten Wartburg an der Hafenmole angezündet, Polizei und Feuerwehr sind also beschäftigt. Der Hausverwalter und seine Frau sitzen, wie jeden Samstagabend, in einem Gasthaus bei Jägerschnitzel und Faßbier.
Mario schleicht sich an die Stelle der Grundstücksmauer, wo ein Sicherungskasten angebracht ist. Das Haus wird über eine Nebenleitung mit Strom versorgt und an dieser Leitung hängt auch die Alarmanlage. Er benutzt eine Ladung Thermit, das zwar brennt, aber nicht explodiert. Kurz darauf ist alles dunkel auf dem Grundstück. Er stellt eine Leiter an die Mauer, klettert hinauf und nimmt die Leiter mit auf die andere Seite. Dann rennt er in seinem schwarzen Kampfanzug und der Sturmhaube hinüber zum Haus und schneidet ein Loch in die große Glasfront der Terrasse, um an den Türgriff zu kommen. Die alte Gomolke denkt wohl, es handele sich um einen normalen Stromausfall, denn er findet sie – nachdem er ninjamäßig durch das Haus geschlichen ist - in der Küche, wo sie gerade eine Kerze anzündet. Sie sieht ihn nur verständnislos an, ihm fällt auf, dass sie Ringe unter den Augen hat wie ein alter Bluthund. Aber sie ist starr vor Schreck. Sie schreit nicht einmal, als er sie mit Chloroform betäubt.
Mit der Gomolke auf dem Rücken geht es keuchend zurück über die Mauer, wo Peter mit dem Fluchtwagen, einem Opel Rekord, wartet. Paul hilft, die reiche Witwe im Kofferraum zu verstauen. Der Geruch von Tosca provoziert seine Nasenschleimhäute.
Dann fahren sie zu Peters Werkstatt am Rand der kleinen Stadt. Als er das Tor öffnet, werden sie von Taschenlampen geblendet. Und damit endet ihre Entführung. Oder besser: Die Entführte wird erneut entführt.
Take 4
Peter, Paul und Mario sitzen um einen Tisch voller leerer Bierflaschen.
Paul: "Verdammte Scheiße. Ich kann es immer noch nicht glauben."
Mario: "Alles geplant bis ins die kleinste Kleinigkeit. Ich würde gerne wissen, wer uns verraten hat, aber wir werden es wohl nie rauskriegen."
Peter: "Dafür sitzen wir wenigstens nicht im Knast wie dieser bescheuerte Dimitri und sein Kumpel. Die haben sich bei der Lösegeldübergabe aber auch wirklich blöd angestellt. Habt ihr die Aufnahmen vom Swinger-Club in der Landesschau gesehen? Zum Glück hat niemand nach meiner Werkstatt gefragt."
Paul sieht die ganze Sache gelassen. Er hat nichts zu verlieren. Weder Frau und Kind, noch Haus oder Vermögen. Kein Gerichtsvollzieher kann ihm etwas nehmen. Er hat nur seinen Körper und dessen Bedürfnisse. Mit der Methode des Creative Writing können sie sich jeden Tag einen neuen Plot ausdenken.
Mario: "Wir bringen die Schweine um. Ich kenne einen abgelegenen Bootsanleger am Fluß, an der DLRG-Station. Wir schaffen diese Hurensöhne mit einem Boot raus aufs Wasser und versenken sie mit Gewichten. Die findet niemand mehr. Irgendwann wird man sie als vermisst melden und einige Zeit später wird man leere Särge beerdigen. Die Leute vom Friedhof werden noch nicht einmal wissen, welches Datum sie auf die Grabsteine schreiben sollen." Er nörgelt immer herum wie ein altes Waschweib.
Peter steht am Fenster und schaut hinaus, aber er sieht nichts.
Mittwoch, 1. Juli 2009
Es war einmal im Brunnenviertel
Inmitten des Gleimtunnels, dort wo er am dunkelsten und unheimlichsten ist, gibt es ein rundes Loch in der Wand, durch das eine ausgewachsene Katze nicht hindurchpassen würde. Hinter dem Loch liegt ein langer, langer Gang, der in die Tiefe führt. Dort unten in der Finsternis liegt eine Höhle, und in dieser Höhle, die so tief in der Erde verborgen ist, dass man sie als Dachstuhl des Teufels bezeichnet, lebt ein Kobold, der sich selbst den Namen Gleimi gegeben hat. Er ist so groß wie eine Männerhand, trägt eine dunkelblaue Hose, eine ebensolche Jacke, schwarze Stiefelchen und einen spitzen roten Hut. In seiner Höhle hütet Gleimi einen Schatz, den ein Nazi hier vor vielen Jahren vergraben hat. Anstatt sich nun aber auf seinem Schatz auszuruhen, nimmt er jede Nacht Spitzhacke und Schaufel, um unter der Oberfläche nach neuen Schätzen zu suchen. Tagsüber manifestiert sich Gleimi im Streichelzoo hoch über dem Tunnel als Meerschweinchen, das nicht auf den Namen Manfred hört. Die Leute von den "Berliner Unterwelten" kennen den Kobold schon seit langem und grüßen artig, wenn sie ihn in dunklen Ecken rumoren hören. Meist sieht man aber nur sein Werk, kleine Höhlen und Gänge, die sich neben den Höhlen und Gängen der Menschen zwar gering ausnehmen mögen, aber wie ein feines Netz die Erde unter dem Gleimtunnel, dem Park und den angrenzenden Häusern durchziehen. So lebt der kleine Racker alle Tage, und wenn er gar zu übermütig wird, reitet er singend auf seinem dressierten Maulwurf durch die dunklen Weiten unter dem Brunnenviertel. In letzter Zeit wird der Kobold aber gestört, Maschinenlärm dröhnt am alten Bahndamm und lässt die Erde erzittern. Es hört sich an, als schlüge ein Riese mit Eisenketten auf eine Felswand. Die Maschinen vertreiben ihm die Würmer, aus denen er sich ein Süppchen zu kochen pflegt, und machen es ihm unmöglich, das Gold in der Erde wachsen zu hören. Was soll Gleimi nun machen? Soll er sich an das zuständige Bezirksamt wenden? Leserbriefe schreiben? Nein, denn er ist ein Kobold und Kobolde halten nichts von Politik und Medien. Und so füllt er eines Nachts ein Säckchen mit feinstem märkischen Sand und schleicht sich an die Tankklappe – das klingt übrigens wie Tarnkappe und die kommen in Märchen ja häufig vor – eines Baggers an.
- Fortsetzung folgt -