Sonntag, 20. Dezember 2015

Das fehlende Kapitel

„Phantasie ist wichtiger als Wissen. Wissen ist begrenzt, Phantasie aber umfasst die ganze Welt.“ (Albert Einstein)
„Grundgütiger Himmel, ich sollte nicht halb besoffen diesen Bericht schreiben. Entweder völlig besoffen, wirr und unverständlich. Oder nüchtern, voll subtiler Analysen und Querbezüge zu bedeutenden Persönlichkeiten oder kunsthistorischen Ereignissen. Aber ich muss die Geschichte erzählen. Vielleicht wird nie wieder ein Philosoph in einen Mordfall verwickelt. Also ist mein Bericht notwendig. Für wen auch immer. Zukünftige Generationen von Denkern und Opfern werden es mir danken.
Alles begann mit einem Missverständnis. Ein eleganter Herr betrat mein Büro in der Hoffnung, einen jungen wilden Mann in Sachen Strafverfolgung zu finden. Doch er fand einen jungen wilden Mann, der anders war: the great white hope in Fragen der Sinnsuche und allerletzter Gewissheiten. Die ich natürlich nicht besaß. Aber es war durchaus eine Marktlücke. Und der nette Mensch vom Arbeitsamt hatte mich damals zur Gründung einer philosophisch orientierten Ich-AG ausdrücklich ermuntert. Das Büro richtete ich so ein, wie ich es aus unzähligen Filmen kannte: eine miese, kleine und jedwede Zuversicht augenblicklich zerstörende Bruchbude. Um das trostlose Bild abzurunden, behielt ich auch im Büro den Hut auf.
Sandmann bombardierte mich mit Vermutungen und Tatsachen, ich hatte keine Chance. Also lehnte ich mich zurück und hörte dem aufgeregten Mann zu, der sein Handy auf dem Schoß zu Pizzateig zu kneten schien. Gelegentlich konzentrierte ich mich auf die Gregorianischen Gesänge im Hintergrund, aber dennoch entstand bald sehr plastisch das Bild eines fürchterlichen Verbrechens vor meinem hochgeistigen Auge: Ein Mensch war weg, vermutlich sogar längst tot. Starker Tobak für den Helden des selbstgewählten Hinterhofplauderschuppens in Sachen Nietzsche und Kant.
Ich kann lesen, schreiben, denken und reden. Ich kann auf verschlagene Weise aussichtslose Standpunkte in weltanschaulichen Debatten vertreten, ich kann Leute in den Wahnsinn quatschen, ich kann auf öffentlichen Plätzen wirres Zeug deklamieren. Ich bin ein Wortschmied, Satzbauer, Textmacher, Phrasendrescher. Aber kann ich einem Menschen in Not helfen? Kann ich in die Welt der Wirklichkeit ordnend eingreifen? Was passiert dann mit der Welt? Und was passiert mit mir? Kommt alles in Unordnung, weil ich mich plötzlich einmische? Oder kommt alles in Ordnung? Und wer will das wissen? Wer kann das beurteilen? Schon die Anwesenheit dieses Mannes stürzte mich in tiefe Unsicherheit. Bin ich bereit, mich den Herausforderungen zu stellen? Jetzt würde ich gerne rauchen, aber zu meinem Bedauern habe ich damit vor sechs Jahren aufgehört ...“
Die schöpferische Kraft des Himmels durchströmte ihn, seine Hände flogen über die Tastatur. Immer tapfer den Rotz hochziehen, Schlomo. Du schaffst es!
P.S.: Dieser Text ist das vom Lektorat gestrichene Schlusskapitel meines ersten Krimis „Ich träume deinen Tod“ (2009).
Cyndi Lauper - I Drove All Night. https://www.youtube.com/watch?v=2y1TZXc5DiY

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