Dienstag, 29. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 5, Szene 6
Mardo saß ihm „Frollein Langner“, einer Studentenkneipe gegenüber dem Haus, in dem Merck verschwunden war. Dank eines eisgekühlten Kristallweizens hatte er sich einigermaßen erholt und sein T-Shirt war wieder trocken. Es war bereits ein Uhr nachts und er gehörte zu den letzten Gästen. Aber Merck würde noch einmal auftauchen, Mardo vertraute auf sein Bauchgefühl. Wenn der Zottelbart mit der schwarzen Kutte zu den Brandstiftern gehörte, dann würde er sich heute Nacht auf den Weg zu den Nazis machen. Schließlich hatte er es auf der Versammlung in Schöneberg selbst vorgeschlagen.
Tatsächlich behielt der Detektiv Recht. Eine Viertelstunde später verließ Merck das Haus und ging zu seinem Fahrrad. Mardo bezahlte am Tresen und ging die Okerstraße hinunter.
Merck fuhr an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Kleine dunkelhaarige Männer gab es in Neukölln wie Sand am Meer.
Im Abstand von fünfzig bis hundert Metern folgte ihm Mardo. Er fuhr ebenfalls ohne Licht und war sich jetzt ganz sicher, dass Merck einer der Brandstifter oder vielleicht sogar der Haupttäter war. Er hoffte nur, dass die Fahrt nicht bis Marzahn gehen würde.
Aber er hatte Glück. An der Hermannstraße bog Merck nach rechts ab. Sie fuhren am Neuköllner Thomaskirchhof vorbei, einem ehemaligen evangelischen Friedhof, der mangels christlicher Bestattungen in diesem Teil der Stadt inzwischen als „Event-Campingplatz mit Barbetrieb“ genutzt wurde. Hier konnten die Kids über Gräbern ihre Zelte aufschlagen, die Location war bei den Touristen mega-angesagt. Der Friedhof lag direkt am Tempelhofer Feld, der riesigen Brachfläche des ehemaligen „Zentralflughafens“ aus dem Dritten Reich, der inzwischen eine beliebte Spielwiese für Anwohner und Besucher geworden war.
Hinter dem S-Bahnhof Neukölln bog Merck nach links in die Silbersteinstraße ab. Sie kamen durch ein düsteres Industriegebiet, dann ging es nach rechts in die Sonnenallee. Mardo ließ den Abstand größer werden, um nicht gesehen zu werden. Aber Merck drehte sich kein einziges Mal um. Ein Streifenwagen fuhr vorüber, sonst war nichts los auf der Straße. Kurze Zeit später fuhren sie durch den Wald. Das ist eine Falle, dachte Mardo. Was will der Typ mitten in der Nacht im Wald? Er ließ sich immer weiter zurück fallen.
Aber schließlich kamen sie nach Niederschöneweide. Mardo sah, wie Merck vom Rad stieg und es abschloss. Dann ging er langsam die Straße entlang und betrachtete sich eingehend die Autos. Vielleicht suchte er nach bestimmten Aufklebern oder sonstige Kennzeichen rechtsradikaler Gesinnung.
Mardo bog in eine Seitenstraße ab und versuchte, Merck so lange wie möglich im Blick zu behalten. Dann stellte er Mareks Hollandrad ebenfalls ab und spähte um die Ecke.
Merck war verschwunden. Vorsichtig schlich Mardo über die Straße und warf einen Blick in die nächste Seitenstraße. Wo war der Brandstifter? War er in eines der Häuser gegangen? Er ging weiter und bog in die Brückenstraße ein.
Dabei wäre er fast in zwei Männer hinein gerannt, die breitbeinig auf dem Bürgersteig standen.
Beide trugen die Haare militärisch kurz geschoren, was zu dieser Jahreszeit allerdings viele taten. Aber die T-Shirts unter ihren Bomberjacken verrieten Mardo genug: „Freie Kameradschaft Schöneweide“ und „Combat 18“. „Combat 18“ war der bewaffnete Arm der verbotenen Neonazi-Organisation Blood&Honour.
Einer der Nazis hatte einen Dackel dabei. Vielleicht gingen sie nur mit ihm Gassi, vielleicht hielten sie in ihren Kiezen aber auch Brandwachen ab? Wer wusste das schon? Mardo beschloss, sich dumm zu stellen.
„Was willst du hier?“ fragte der erste Nazi.
„Isch nix wollen. Isch geh Bus.“ Die Nummer als ahnungsloser Türke funktionierte bei Deutschen immer.
„Das ist auch besser so“, sagte der zweite Nazi in scharfem Ton. „Hier kontrolliert unsere Kameradschaft den Kiez. Wir suchen den Brandstifter, diese linke Zecke.“
„Isch mach nix Feuer, isch schwör.“ Theatralisch kehrte er das Innere seiner Hosentaschen nach außen. Zum Vorschein kamen nur ein Schlüsselbund und ein wenig Kleingeld. Er hatte noch nicht einmal ein Feuerzeug dabei.
„Sieht nicht so aus, als hätte er viel dabei“, sagte der erste Nazi zu seinem Kameraden.
„Nein“, antwortete der Zweite. Und Mardo fragte er: „Bist du bei der Antifa?“ Die Autonomen Nationalisten sahen in den Linken und dem „BRD-System“, dem „Restaltreich“ in ihrer Sprache, die wahren Feinde. Migranten waren eher das Feindbild der alten Schule, also der NPD-Kader.
„Nee, isch komm aus Antalya.“
Der erste Nazi lachte: „Da gehst du auch besser wieder hin.“
„Ja, aber isch geh Bus.“ Mardo setzte nun gekonnt ein devotes Lächeln ein.
„Der kapiert aber auch gar nichts.“ Der zweite Nazi wurde langsam wütend, das Gespräch wurde ihm zu lang und zu kompliziert.
„Isch viel Freunde hier in Berlin. Graue Wölfe.“
Die Nazis stutzten. Mit der nationalistischen türkischen Untergrundbewegung war nicht zu spaßen.
„Zur Bushaltestelle geht’s da lang.“ Der erste Nazi zeigte in Richtung S-Bahnhof Schöneweide.
Zwanzig Minuten später saß Mardo in der S9 und fuhr bis zum Alexanderplatz. Wer mit der Berliner S-Bahn fuhr, unternahm eine Reise zu den Anfängen des Industriezeitalters. Hier stand man wie einst die Malocher der Kaiserzeit und versuchte sich auf unruhigem rumpelndem Untergrund würdevoll aufrecht zu halten. Das Kreischen der Bremsen fiel früher niemandem auf, weil der Lärm in den Fabrikhallen vor hundert Jahren viel lauter war. Heute verursachte es gefühlte zehntausend Tinnitus-Fälle im Jahr bei den hypernervösen Büromenschen. Nachts war die Bahn jedoch leer und ihr Lärm machte Mardo nichts aus. Er warf sich auf eine Bank, machte es sich bequem und überlegte, wie er Marek die Sache mit seinem Fahrrad erklären sollte.
Gang of Four – Paralysed. https://www.youtube.com/watch?v=cHHrDNbMxf8
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