Sonntag, 27. Dezember 2015

Berliner Asche, Kapitel 3, Szene 5

Leber hatte sich einen bequemen Sessel gekauft, in dem er nach Dienstschluss gerne seine Freizeit verbrachte. Er hatte am Abend oft nicht mehr die Kraft, um weitere Aktivitäten zu entwickeln. Nach dem Abendbrot kämpfte er in seinem Sessel still gegen den Schlaf, seine Frau tat auf dem Sofa das gleiche. Wenn er den Kampf zu früh verlor – und im Vergleich zu seiner Frau geschah das immer häufiger -, lag er nachts wach im Bett und grübelte.
Einen solchen Fall hatte der Kommissar noch nie: Seit Monaten durchkämmten jede Nacht ganze Hundertschaften der Berliner Polizei und der Bundespolizei die Stadt auf der Jagd nach dem Brandstifter. Bereits vor dem Mord wurde also intensiv nach dem Täter gefahndet. Wie sollte er je den Erfolg haben, der allen anderen Polizeibeamten versagt geblieben war? Die ersten vierundzwanzig Stunden würden bald vergangen sein. Die Spur wurde noch kälter und der Täter würde vermutlich erst einmal mit seinen nächtlichen Aktionen aufhören und die weitere Entwicklung abwarten. Mit den üblichen Methoden – Ermittlungen im beruflichen und privaten Umfeld des Opfers – würde er in diesem Fall nicht weit kommen, soviel war klar. Aber welche Strategie wäre in diesem Fall die richtige?
Nun saß der Kommissar im Sessel und betrachtete seine Frau, die leise vor sich hin schnarchte. Er hatte den Fernseher ausgeschaltet und grübelte im Dunkeln. Das Bekennerschreiben der Linksradikalen änderte alles, falls es authentisch war. Morgen früh würde er ins Büro kommen, sein Vorgesetzter würde ihn zu sich rufen und ihm mitteilen, dass der Polizeiliche Staatsschutz den Fall übernähme. Er müsste sich auf Hilfstätigkeiten beschränken und weitere Befehle abwarten. Und während sich die Korinthenkacker vom LKA 5 im Nirwana der Petitessen verlören, ohne das große Bild im Auge zu behalten, würde der Täter ungestört durch die Straßen der Stadt ziehen und sein Vernichtungswerk fortführen. Sicher würden die Staatsschützer alle Verhöre noch einmal wiederholen und den ausgebrannten Wagen CSI-Berlin-mäßig auseinander nehmen. Immer die ganz große Nummer.
Was sollte er nun als nächstes tun? Die Spur führte ins linke Szenemilieu, obwohl ihm die Leute von der Maximum AG äußerst verdächtig erschienen. Aber offenbar hatten sie ihren Chef nicht ermordet, sondern hatten etwas mit Altmanns Entführung zu tun. War der Tod des Immobilienmaklers nur ein Versehen? Oder war es einfach nur raffiniert eingefädelt? Der Kommissar verfluchte sein Pech, dass die Mail mit dem Bekennerschreiben mitten ins Verhör geplatzt war. Früher hätte es länger gedauert, diese Information zu bekommen und dann hätte er vielleicht schon herausgefunden, an wen Buchholz das Geld übergeben hatte. Manchmal war die moderne Technik eben doch ein Hindernis. Vor ein paar Jahren wäre er nach dem Verhör ins Sekretariat gegangen und hätte ein kaum leserliches Fax vorgefunden, dessen Druckerschwärze beim Lesen zerbröselte.
Nun musste er sich wieder auf irgendwelchen linken Spinner konzentrieren, die endlose Bekennerschreiben verfassten. Aber in die linke Szene hatte er keine Verbindung. Es gab etliche V-Leute im rechten Milieu, aber er bezweifelte, dass es irgendwelche V-Leute in einer der vielen linksautonomen oder linksradikalen Gruppierungen gab, die sich in regelmäßigen Abständen spalteten und neu formierten. Selbst der Staatsschutz musste hier passen. Und für eine Belohnung von fünftausend Euro, die für die Ergreifung des Brandstifters ausgesetzt war, wurde keiner aus der Szene zum Denunzianten. Schließlich war für eine Aussage vor Gericht die Angabe der vollen Personalien notwendig. Ein Zeuge müsste also im Prinzip nach der Verhandlung die Stadt verlassen, er würde in Berlin keine Ruhe mehr finden.
Er hielt es auf dem Sessel nicht mehr aus und erhob sich leise, um seine Frau nicht zu wecken.
Ich fahre mal rüber in Mardos neues Restaurant, dachte er. Der Bursche hat doch seine Nase immer im Wind. Vielleicht hat er was gehört. Schließlich lebte der Privatdetektiv im „roten Wedding“, wie man früher sagte. Und selbst wenn er nichts wusste – Leber musste einfach vor die Tür, sonst würde er noch die ganze Nacht grübeln und morgen früh stehend k.o. sein.

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