Dienstag, 29. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 5, Szene 3
Dimitri hatte ein flaches, breites Gesicht mit einer ebensolchen Nase, dazu verquollene Augen und Ohren. Einen durchtrainierten Körper, aber nicht die überzüchtete Form der Body-Builder. Die sehen immer so aus, als hätte man ihnen die Haut abgezogen: Muskeln, Sehnen und Adern liegen frei. Er war stark behaart, unglaublich stark behaart, eigentlich schon zugewuchert. Ins Schwimmbad ging er schon lange nicht mehr, da kleine Kinder oft vor Angst zu weinen begannen, wenn sie ihn sahen. Sein Kopf war fast vollständig kahl, es schien, als brauche sein Körper alle Kraft, um Brusthaare, Augenbrauen und ein beachtliches Fell auf den Handrücken wachsen zu lassen. Und da, wo andere Nasenhaare hatten, wuchs bei ihm ein regelrechter Stacheldrahtverhau. Er hatte einen breiten Bauernschädel mit tiefliegenden blauen Augen, ein kantiges, vorspringendes Kinn, heruntergezogene Mundwinkel, eine grobporige fleischige Nase. Sein Gesicht war so elefantenmäßig hässlich, er hätte sich jedem Wanderzirkus anschließen können. Außerdem war er ein Mensch von geradezu märchenhafter Blödheit. Er war noch nie der allerhellste Stern am Firmament gewesen. Und nach ein paar Gläsern Wodka arbeitete sein Gehirn mit der Geschwindigkeit einer Wanderdüne.
Erst als das zweite Projektil in seiner kugelsicheren Weste einschlug, bemerkte er die Gefahr. Er trat vom Geländer der Terrasse zurück und presste sich an die geschlossene Tür von Gruschenkos Penthouse. Er klopfte mit der rechten Faust gegen die Tür und rief nach Andrej.
Andrej öffnete die Tür und Dimitri ging zwei Schritte rückwärts in die Wohnung, bevor er sich umdrehte.
„Die schießen auf uns“, sagte er mit weit aufgerissenen Augen.
„Wer schießt auf uns?“ fragte Andrej.
Ein paar weitere Kugeln durchschlugen die Fensterscheiben, die krachend zerbarsten.
Andrej und Dimitri warfen sich hinter das Sofa.
Gruschenko saß zu diesem Zeitpunkt, es war gegen zehn Uhr abends, mit der jungen Olga im Whirlpool eine Etage tiefer und bekam von der ganzen Sache nichts mit.
Derfflinger fluchte. Den Überraschungseffekt hatten sie bereits achtkantig versemmelt.
Swoboda schüttelte nur stumm den Kopf. Mühsam hatten sie sich auf dem Dach des Nachbargebäudes in der Solonstraße in Weißensee vorgearbeitet. Früher blickten die Grafen von hohen Burgen auf ihren Besitz, dachte er, heute hatten sie eine Zweihundert-Quadratmeter-Designer-Penthousewohnung mit Panoramablick über die deutsche Hauptstadt. Die Zieladresse und die Objektbeschreibung hatten sie gemeinsam mit den Schusswaffen wie vereinbart in einem Schließfach am Bahnhof Zoo gefunden. Der Alte von der Maximum AG hatte alles in einen schwarzen Kunststoffaktenkoffer gepackt. Eine Makarow, auf dem Berliner Schwarzmarkt eine beliebte Waffe, chinesischer Nachbau, mit zwölf Schuss, Schalldämpfer und einem Ersatzmagazin. Dazu eine SIG Sauer P226, eine gestohlene Waffe der Berliner Polizei. Die Munition (9mm Parabellum) war eine der am häufigsten verwendeten Kugeln weltweit und leicht zu besorgen. Allerdings mussten Waffen und Munition aufeinander abgestimmt sein, sonst drohte eine Ladehemmung. Wer weiß, wo Walter Busch die Waffe besorgt hatte. Vielleicht war es auch ein Familienerbstück? Swoboda war nicht wohl bei der Sache gewesen. Derfflinger hatte darauf bestanden, die SIG zu nehmen. Dafür würde er auch den Angriff starten, während Swoboda ihm Feuerschutz geben sollte. Mit einem Taxi waren sie vor einer Stunde zum ICE-Bahnhof Gesundbrunnen gefahren und von dort mit einem anderen Taxi in die Nähe des „Chez Boris“, auf dessen Dach Gruschenko residierte.
Dimitri zog seine Glock-17 aus dem Schulterhalfter, eine moderne Waffe aus österreichischer Produktion, die auch von der GSG 9 und deutschen Spezialeinsatzkommandos benutzt wurde. Er entsicherte die Pistole, lugte kurz über die Sofakante und schoss blind eine Salve in die Nacht hinaus. Dimitris Lieblingswaffe lag allerdings in seiner heißgeliebten sowjetischen Limousine: ein Golfschläger aus geschmiedetem Karbonstahl, ein Callaway Diablo Edge Einzeleisen Herren für 89,99 im Internet, mit dem er mal einem albanischen Mädchenhändler den Schädel eingeschlagen hatte.
Andrej robbte derweil über die Auslegeware in Richtung Schrank. Er öffnete ein breites Schubfach und zog eine AK-47 heraus. Die gute alte Kalaschnikow, der treueste Freund eines russischen Geschäftsmanns in der Fremde.
Derfflinger kam hinter einem der Aufbauten des Dachs hervor und sah, wie einer der Russen sich wieder hinter das Sofa duckte. Amateure, dachte er. Solange sie das Licht anlassen, haben wir sie vor uns wie die Schaufensterpuppen in den Modeboutiquen der Mariahilfer Straße.
Er schoss auf das Sofa. Die Kugeln würden mühelos durch das Leder, die Füllung und den Holzrahmen schlagen. Dann stürmte er los.
Dimitri brüllte wütend auf. Eine Kugel hatte ihn an der rechten Schulter getroffen und er ließ die Glock fallen.
Swoboda schaute mit einem Auge um die Ecke eines Schornsteins und begann zu schießen. Dann erlosch das Licht in der Penthousewohnung plötzlich. Er musste die Stehlampe getroffen haben.
Andrej sah, wie sich Dimitri den verletzten Arm hielt und sah auf dem Dach die Silhouette des Gegners. Erst jetzt, wo das Licht aus war, konnte er die Lage überblicken. Von schräg links sah er das Mündungsfeuer einer Pistole. Er stellte seine Maschinenpistole auf Dauerfeuer und feuerte etwa zehn Sekunden eine halbkreisförmige Salve über das Dach. Und zehn Sekunden können in diesem Fall eine Ewigkeit sein.
Derfflinger holte es von den Beinen. Er hatte einen Steckschuss im rechten Oberschenkel. Es war aussichtslos, er musste den Rückzug antreten. Er kroch langsam wieder zurück in seine Stellung hinter den Aufbauten.
Swoboda flogen die Kugeln und Ziegelbrocken des Schornsteins nur so um die Ohren. Als der Lärm plötzlich abriss und nur noch in seinen Ohren klingelte, rannte er zurück zur Dachluke. Nur noch weg hier, dachte er, nur noch weg. Dabei stolperte er und fiel hin. Seine Waffe war ihm aus den Händen geglitten, rutschte über die Dachziegel und blieb in der Regenrinne liegen. Als er aufstehen wollte, durchzuckte ihn ein Schmerz. Er hatte sich die linke Schulter ausgekugelt.
Andrej blickte zu Dimitri hinab. Der nickte nur verbissen und gab ihm damit zu verstehen, dass er nicht schwer verletzt war.
Andrej feuerte eine zweite Salve über das Dach, ohne jedoch irgendetwas Lebendiges zu treffen.
Derfflinger war jetzt ebenfalls an der Dachluke angekommen. Er feuerte noch einmal auf die dunkle Wohnung, bis das Magazin leer war. Dann warf er die Waffe weg und kletterte, so gut es seine Verletzung zuließ, ins Haus zurück.
Jetzt nur schnell weg hier, bevor die Polizei da ist, dachte er. Gemeinsam mit Swoboda, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter hielt, liefen sie die Treppen hinunter und stürzten auf die Straße.
Auf dem Weg nach unten streiften sie ihre Lederhandschuhe mit den verräterischen Schmauchspuren ab und warfen sie weg. Unter diesen Handschuhen trugen sie ein weiteres Paar aus Latex, um keine DNS-Spuren zu hinterlassen. Dieses Paar würden sie im Waschbecken ihres Hotelzimmers verbrennen.
Polizeisirenen waren zu hören. Sie mussten nur um ein paar Ecken laufen, dann würden sie in dieser riesigen Stadt untergetaucht und verschwunden sein. Im Hotelzimmer konnten sie sich immer noch um ihre Verletzungen kümmern. Dem Boss oder dem Berliner Komplizen würden schon etwas einfallen.
Sie überquerten den Solonplatz und den kleinen Park. Dann bogen sie in die Bizetstraße ein.
Zwei Polizisten in dunkelblauen Uniformen kamen ihnen entgegen. Sie hatten die Schüsse gehört und bereits die Kollegen alarmiert. Misstrauisch betrachteten die Beamten, die auf Brandstreife waren und eigentlich auf der Such nach dem Brandstifter waren, die beiden Herren in ihren schmuddeligen Sakkos. Einer hielt sich den Arm, der andere blutete am Oberschenkel.
„Guten Abend. Ausweiskontrolle.“
Derfflinger war fassungslos und lachte kurz auf.
Swoboda senkte resigniert den Kopf. Grüß Gott, Josefstadt.
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