Freitag, 18. Dezember 2015

Marco

„Kein Denken, kein Bewusstsein, vollkommene Leere, doch etwas Bestimmtes bewegt sich darin, eigenen Gesetzen folgend.“ (Bruce Lee)
Er ist etwa so alt wie ich und hat im Stehen die Größe, die ich im Sitzen habe. Das passt also. Denn er ist ein Kellner und ich bin sein Gast. Seine Hände, sein Hals und sein Gesicht sind von dicken Warzen gezeichnet, den Rest kenne ich nicht. Ein Auge ist etwa ein Zentimeter höher als das andere, so als wären seine Augen gerade in verschiedenen Stockwerken. Das ist Marco. Seit vielen Jahren bringt er mir Bier und Schnaps an den Tisch, und wir wissen beide: Er bleibt bis ans Ende seiner Tage Kellner und ich bleibe bis ans Ende meiner Tage Trinker. Da passiert nichts mehr.
Ich weiß gar nicht, wie wir auf das Thema kamen. Ich glaube, es ging mit der BVG los. Marco muss auf der Strecke von der Kneipe nach Hause – „Kurzstrecke“ – meistens nichts bezahlen. Ich frage natürlich, wie er das macht. Und er sagt, dass er den Busfahrer kennt. Und dann erzählt er mir die ganze Geschichte. Der Busfahrer und er sind seit über zwanzig Jahren dicke Freunde. Denn Marco hat dem Busfahrer einmal das Leben gerettet. Und das kam so:
Ein Haufen junger Leute will an einem See eine Party feiern. Dafür brauchen sie Strom. Einige Jungs kennen sich mit Strom aus, darunter auch Marcos Kumpel, ein kräftiger großer Kerl, der damals noch als Gleisbauer bei der BVG gearbeitet hat. Sie beschließen, die Starkstromleitung eines Laternenmastes anzuzapfen. Einer von ihnen soll nur die beiden Kabelenden in den Händen halten, während Marcos Kumpel etwas anschließt. Dieser Typ bringt aus reiner Neugier oder Dummheit die Kabelenden zusammen, er kriegt eine gewischt und Marcos Kumpel bekommt einen Stromschlag. Er bleibt bewusstlos liegen. Alle rennen davon – bis auf Marco. Er gibt seinem Kumpel solange Backpfeifen, bis er wieder aufwacht. Er sieht Marco an und fragt benommen: „Mama?“ Offensichtlich war er von ihr Ohrfeigen gewöhnt. Marco bringt ihn in die Notaufnahme und sein Kumpel überlebt. Heute hat Marcos Kumpel eine Frau und zwei Kinder, Marco ist sein bester Freund. „Ich bin die Mama und er ist mein Kind“, sagt Marco und grinst. Dann geht er zurück hinter die Theke und sagt zum Abschied: „Komm gut nach Hause.“
Wer von uns kann behaupten, er hätte schon einmal einem anderen Menschen das Leben gerettet? Der bescheidene kleine Kellner hat es geschafft.
P.S.: Wenig später … am selben Tag …
Ein kluger Gedanke, den der alte Türke im Späti um die Ecke äußert, als wir um Mitternacht ein wenig plaudern: Es ist gut, dass wir Menschen nicht auch noch das Wetter bestimmen können, denn jeder von uns würde etwas anderes wollen und dann gäbe es nur Streit. Weise Worte …
Massive Attack - Unfinished Sympathy. https://www.youtube.com/watch?v=ZWmrfgj0MZI

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