Montag, 28. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 4, Szene 4
Es gibt in der Menschenwelt verschiedene Wege, langsam unglücklich zu werden und schließlich zu sterben. Walter Busch schleppte seinen welkenden Leib in den vierten Stock. Auf halber Strecke blieb er schnaufend stehen, zückte ein Stofftaschentuch und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Er war inzwischen sechsundsechzig Jahre alt und wunderte sich über sein Alter. Die letzten zwanzig Jahre waren eigentlich so schnell an ihm vorbei gerast, dass er kaum einen Blick auf ihren Ablauf werfen konnte. Der Sommer flog vorbei, ein paar nasskalte Tage und schon war wieder Weihnachten. Auch Feiertage und seine Geburtstage unterbrachen die Routine und die Monotonie seines Alltags nicht. Er war immer allein, er mochte seinen Geburtstag nicht und hatte auch früher niemals das Datum verraten, um nicht unangenehm von den Nachbarn oder Kollegen überrascht zu werden. Er stand nicht gerne im Mittelpunkt, er mochte den Schatten, die dämmrigen Plätze am Rande des Geschehens und beobachtete in Ruhe, ohne in etwas hinein gezogen werden zu können. Tagsüber bestimmte die Arbeit seinen Rhythmus, am Abend genoss er die Einsamkeit. In Berlin begegneten ihm jeden Tag genug Menschen, er war froh, wenn er abends die Wohnungstür hinter sich schließen konnte. Dann bestimmte die Stille seinen Rhythmus. Nur sehr gedämpft klangen die ewig gleichen Geräusche der Stadt zu ihm hinauf.
Im Augenblick hatte er einen eiligen Auftrag des Maximum-Chefs aus Meran zu erfüllen. Er klingelte an der Wohnung im vierten Stock. Herr Seidel öffnete ihm die Tür und bat ihn ins Wohnzimmer der Altbauwohnung am Stuttgarter Platz. Auf ihn war Verlass, und das schon seit Jahren. Wer Hilfe brauchte, diskret und schnell, traf Herrn Seidel in seinem Stammlokal, einem tschechischen Restaurant namens „Havel“, das auf die sprachliche Nähe des verstorbenen Schriftstellers und Präsidenten zur Wasserwelt Berlins anspielte.
Busch hatte den Waffenhändler Seidel auf die gleiche Art kennengelernt wie tausende andere Berliner auch, die sich eine illegale Schusswaffe besorgen wollten: Zunächst fuhr man zum „Stutti“ in Charlottenburg und suchte eines der dortigen Waffengeschäfte auf. Der Stuttgarter Platz ist eigentlich eine langgezogene Straße, die durch eine kleine Parkanlage vom S-Bahndamm getrennt ist. Spielhallen, Handyläden, obskure osteuropäische Geschäfte und Imbissbuden im Erdgeschoss, Satellitenschüsseln Richtung Orient und heruntergekommene Hotels in den darüberliegenden Etagen. Nur das westliche Ende des Platzes war bürgerlich, gepflegte Altbauten und schicke Restaurants säumten seinen Rand. In einem der Waffengeschäfte fragte man möglichst unauffällig nach einer scharfen Waffe. Dann wird ein Treffpunkt ausgemacht, zum Beispiel in einem Park oder auf einem Bahnhof. Das Geld wird übergeben, man bekommt den Ort genannt, an dem ein Paket mit einer Waffe liegt, zum Beispiel in einem Mülleimer. Eine tschechische Pistole ist ab hundert Euro zu haben, eine russische Makarow ab dreihundert. Die gute alte Kalaschnikow kostet einen Tausender und eine Handgranate einen Fünfziger. Der Kauf ist natürlich Vertrauenssache, denn man kennt die Vorgeschichte der Waffe nicht. Das machte auch den zunehmenden Handel über das Internet so unberechenbar. Deswegen war der Mann von der Maximum AG heilfroh, einen zuverlässigen Kontaktmann in diesen Fragen zu kennen. Und deswegen war er, nach einem kurzen Telefonat, ins „Havel“ gegangen.
Dort hatte Busch ihn vor einer halben Stunde getroffen. Ganz besonders mochte Seidel Knödel, die böhmischen Knedliky. Schweinebraten und Gulasch mit schmackhaften Soßen und Mährisch Kraut. Kümmel, Majoran, Liebstöckel. Deutsches Sauerkraut mochte er nicht, auch das Berliner Eisbein nicht. Überhaupt war die hiesige Küchentradition nicht sein Fall. Das „Berliner Schnitzel“ galt ihm als Paradebeispiel für die Minderwertigkeit der preußischen Küche: Kuheuter wird mit Lauch und Zwiebeln gekocht, danach gehäutet, in Scheiben geschnitten und paniert. Widerlich! Aber böhmische Speisen waren ein Genuss, gefüllte Rinderrouladen („Spanische Vöglein“) und Sauerbraten mit Sahnesoße und Preiselbeeren. Dann gab es rätselhafte Speisen wie Topfenhaluschka, die er noch nie probiert hatte. Vor allem die Nachspeisen waren eine wahre Pracht, Marillenknödeln und Buchteln. Dazu ein kühles Prager oder Pilsener Bier mit feiner Schaumkrone. Und hinterher einen Becherovka, ein Kräuterschnäpschen zur Verdauung. Becherovka, das klang so, als könne man nach dem Öffnen der Flasche den Deckel im Prinzip gleich weg werfen. Heute hatte sich Seidel aber etwas ganz Besonderes gegönnt und Kalbshaxe Florida bestellt.
Seidel trug heute leichte Freizeitkleidung: eine hellgraue Windjacke, eine ockerfarbene Cordhose und dunkelbraune Lederschuhe. Das fliehende Kinn und die fliehende Stirn gaben ihm das Profil eines Karpfens. Seine Zähne waren so gelb, dass sie sicherlich das Interesse von Elfenbeinhändlern geweckt hätten.
Das „Havel“ war etwa zur Hälfte gefüllt. Busch war zunächst wie benommen, als er das Lokal betreten hatte. Lange dauerte es, bis er mit der Umständlichkeit eines greisen Apothekers sein Jackett an einen Haken gehängt hatte. Das Anziehen des Jacketts würde ihm später noch schwerer fallen, denn wie zuletzt in Kindheitstagen verschwand der zweite Ärmel auf geheimnisvolle Weise, wenn man hinter dem eigenen Rücken danach stocherte. Fast blind tastete er sich an den kleinen runden Tisch Seidels und setzte sich auf den winzigen, zerbrechlich wirkenden Stuhl. Die junge Kellnerin wartete geduldig, bis er sich die Nase geputzt hatte und seine Umgebung wahrnehmen konnte. Seine Augen hatten die undefinierbare Farbe verwitterer Baumrinde, sein nervöser Tick meldete sich, ein zwanghaftes Zucken mit den Augenbrauen, mehrmals pro Minute.
Die Kellnerin war klein und völlig in schwarz gekleidet. Ihr Augenweiß schimmerte wie Porzellan. Er bestellte einen Kaffee und schilderte Seidel seinen Auftrag. Busch mochte Seidel, er war auch aus der DDR. Busch hatte „zu Ostzeiten“ in Leipzig Chemie studiert. Arbeit hatte er in Berlin gefunden, der Hauptstadt der DDR. Dank seiner aktiven Parteiarbeit hatte er eine Stelle in der „Staatlichen Planungskommission“, der zentralen Planbehörde bekommen. Er war für die chemische Industrie zuständig gewesen und besuchte gelegentlich die Provinz, Leuna, Schkopau oder Bitterfeld. Blumfeld erinnerte sich an das „Chemieprogramm“, das auf dem fünften Parteitag der SED beschlossen wurde. Motto: „Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit.“ Er fuhr damals einen Wartburg und in den späten siebziger Jahren war er in eine schöne Zweiraumwohnung im neu entstandenen Stadtteil Marzahn gezogen. Zum Urlaub durfte man ins sozialistische Ausland, an den Balaton in Ungarn. Er hatte alles, was er brauchte. Es gab viel Schönes in der DDR: die schönen Paradeuniformen der NVA, die beruhigende Langeweile der Aktuellen Kamera im abendlichen Fernsehprogramm und Karl Marx auf dem blauen Hundertmarkschein. Während im Kapitalismus kein Stein auf dem anderen blieb, war sein Leben wunderbar ruhig gewesen.
Er freute sich über die Weltjugendfestspiele 1973 im ehemaligen Walter-Ullbricht-Stadion an der Chausseestraße, auf dessen Gelände heute der westdeutsche Geheimdienst seine neue Festung baute, über Sigmund Jähn, 1978 der erste deutsche Kosmonaut, all die schönen Treffen im Rahmen der „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, deren Mitglied er war, die herrliche Olympiade 1980 in Moskau, ohne Amerikaner und andere Imperialisten und Revanchisten – und er freute sich über arrogante Westdeutsche aus dem „nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“, die von den Kellnern seiner Stadt ignoriert und gegängelt wurden. Damals gab es aber noch nicht die ganze neumodische Technik, von der sein sozialistisches Heimatland überrumpelt worden war. Er hasste Computer, er hasste es, dass seine Arbeit mit einem Knopfdruck verschwunden war. Niemand konnte das tief empfundene Gefühl der Befriedigung nachvollziehen, wenn man einen Vorgang in einem Aktenordner abgeheftet oder ein korrekt ausgefülltes Formular in ein Fach gelegt hatte. Die Arbeit am Computer war unsichtbar, ließ sich nicht fühlen, hatte keinen Geruch und keine Farbe. Ein Aktenstapel wurde im Laufe der Zeit kleiner und tröstete den Sachbearbeiter, der Computer war ein Fließband, das von Ewigkeit zu Ewigkeit zu rollen schien. Alles ohne Anfang und Ende.
Aus den Lautsprechern erklangen, nein: plärrten die tschechischen Varianten alter Sinatra-Stücke, er verdächtigte Karel Gott der sprachlichen und stimmlichen Schändung dieses Liedguts.
„Kommen Sie in einer halben Stunde in meine Wohnung.“
Nun saß Busch auf einem braunen Stoffsofa aus den siebziger Jahren und betrachtete sich die Waffen, die Seidel vor ihm ausgebreitet hatte. Dröhnend fuhr ein Lastwagen vorüber, eine lockere Fensterscheibe protestierte klirrend und beruhigte sich wieder.
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