Sonntag, 27. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 3, Szene 1
Wer der idyllischen Havelchaussee durch den Grunewald oder am Ufer des Flusses folgt, erreicht bald das Schildhorn. Die Landzunge ragt weit in die Havel hinein und bietet einen wunderbaren Ausblick über die Gewässer westlich der Hauptstadt. Wer jedoch den außergewöhnlichsten Friedhof Berlins besuchen will, der biegt vorher in den Schildhornweg ein. Nach kurzer Zeit steht man vor dem Eingangstor zum Friedhof Grunewald-Forst. Ein Friedhof mitten im Wald? Kilometer entfernt von den belebten Straßen der Stadt? Die Geschichte des Ortes ist ungewöhnlich und begann im Kaiserreich. Damals weigerten sich die Kirchengemeinden, Selbstmörder auf ihren Friedhöfen beerdigen zu lassen. Sie mussten in ungeweihter Erde bestattet werden. Da in der Bucht der Schildhorn-Halbinsel häufig Wasserleichen angetrieben wurden – darunter viele Selbstmörder, die wegen ungewollter Schwangerschaften oder Spielschulden „ins Wasser gingen“ –, legte die Forstbehörde in unmittelbarer Nähe den Friedhof an. Bald sprach sich die Lichtung im Grunewald als Bestattungsort herum, Angehörige von Selbstmördern baten um eine Grabstelle, mancher Lebensmüde tötete sich gleich vor Ort, um den Hinterbliebenen die Mühe demütigender Amtsgänge zu ersparen.
Ganz versteckt in einer Ecke befand sich das Grab von Christa Päffgen. Eine Rotweinflasche mit einer Rose im Hals, Kerzen, Briefe – die letzte Ruhestätte der Sängerin und Schauspielerin erinnerte an Jim Morrisons Grab in Paris. Bekannt wurde sie unter dem Namen „Nico“ als Sängerin der Band „The Velvet Underground“ und als Muse von Andy Warhol. Sie drehte mit Federico Fellini „La Dolce Vita“, Bob Dylan produzierte ihre erste Single. Sie kannte alle Größen des damaligen Rockuniversums, ihre Musik beeinflusste Bands wie Joy Division und später die Gothic-Szene. Sie starb, wenige Monate vor ihrem fünfzigstem Geburtstag, 1988 auf Ibiza.
Einige Reihen weiter standen die kyrillischen Grabkreuze von russischen Offizieren, die gemeinsam den Freitod wählten, als sie 1918 von der Ermordung des Zaren erfuhren. Vor den Gräbern stand ein kleiner Mann mit einem hellbraunen Pferdeschwanz. Links und rechts von ihm standen zwei breitschultrige Kerle in schwarzen Anzügen. Vor ihm stand Gruschenko und blickte ihn hochmütig an.
„Du weißt, warum du hier bist?“
Die Augen des kleinen Mannes zwinkerten nervös hinter der John-Lennon-Brille. „Ich habe keine Ahnung. Ehrlich.“
„Ihr habt einen Mann getötet, der sehr wichtig war.“
„Wir bringen doch niemand um.“
Gruschenko schlug ihm ohne Vorwarnung ins Gesicht. „Du lügst. Ihr habt Hubert Altmann getötet.“
„Der Immobilienhai? Der ist doch verbrannt.“
„Einer deiner Männer hat ihn ermordet.“
Gruschenko hatte seinen kältesten Blick aufgesetzt, das wirkte immer. Dimitri und Andrej, seine Gehilfen, brauchten nicht einzugreifen. Der kleine Mann hatte Angst und wagte es nicht, Gruschenko in die Augen zu schauen. Eine Stunde zuvor hatten ihn Dimitri und Andrej aus dem Tommy-Weisbecker-Haus geholt. Der buntbemalte Treffpunkt der linksautonomen Szene in der Wilhelmstraße gehörte zu den ersten Häusern, die in den siebziger Jahren besetzt worden waren. Mit einer alten sowjetischen Staatslimousine vom Typ ZIL 4104 waren sie nach Kreuzberg gefahren, hatten Tim Kuhn in den Kofferraum gepackt und waren an den Wannsee hinaus gefahren.
„Wenn du uns nicht einen Namen gibst, bist du totes Fleisch. Dann können wir dich gleich hier lassen.“
„Sie verstehen da etwas falsch, glaube ich. Bei uns gibt es keine Hierarchie, es gibt niemand den Befehl, ein bestimmtes Auto anzuzünden. Ich habe da überhaupt keine Kontrolle, wer nachts unterwegs ist und was die machen.“ Kuhns Versuch eines schüchternen Lächelns scheiterte kläglich.
„Es war einer von deinen Leuten. Ich will den Namen.“
„Ich weiß es wirklich nicht, das müssen sie mir glauben. Es könnte doch jeder gewesen sein, der was gegen die Bonzen hat. Ich bin nicht der Anführer, der die ganzen Aktionen steuert. Ich bin eigentlich auch nicht so der aktionsorientierte Typ, ich bin eher der Vordenker. “
„Dann denk mal scharf nach. Mich interessiert nur der Name. Und den wirst du mir jetzt geben. Sonst fangen meine Jungs an, dir Körperteile abzuschneiden.“
„Gewalt ist doch keine Lösung.“
„Wir sind kein Anti-Konflikt-Team der Berliner Tuntenpolizei, wir sind die verdammte Scheiß-Mafia, kapiert?!“ brüllte Gruschenko, was zu einer augenblicklichen Inkontinenzerfahrung bei seinem Gesprächspartner führte. „Ihr Spinner stört meine Geschäfte. Ich will, dass du den Typen findest, der das gemacht hat. Wir kommen wieder und dann lieferst du mir Ergebnisse, du Hurensohn!“
Tim Kuhn durfte, vorläufig körperlich unversehrt, in die Stadt zurück laufen.
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