Donnerstag, 31. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 7, Szene 2
Fünfunddreißig Grad im Schatten. Die östliche Brunnenstraße lag im mittäglichen Atomblitz der Sommersonne, selbst unter den Sonnenschirmen war es den Gästen zu warm. Eine Teenagerin mit weißblond gefärbten Extensions schleppte sich müde wie ein alter Hund ins Sonnenstudio an der Ecke Lortzingstraße. Das „Seven Heavens“ lag seit einigen Minuten in wohltuendem Schatten – und das würde sich bis zum Sonnenuntergang auch nicht mehr ändern.
Es war zwölf Uhr und die ersten Gäste kamen ins Restaurant. Darunter waren viele Mitarbeiter der „Deutschen Welle“, die jeden Tag in der ehemaligen AEG-Fabrik in der Voltastraße ein Fernsehprogramm für die weite Welt machten. Ein schnatternder und plappernder Schwarm Spanier kam kurze Zeit später zur Tür herein. Inzwischen gehörte das Lamento über die vielen Touristen zum Berliner Standardrepertoire. Mardo fand die regelmäßig steigende Zahl der Berlinbesucher gar nicht so schlimm. Es waren zwar mehr Leute als früher, merkwürdigerweise fragte aber im GPS-Zeitalter niemand mehr nach dem Weg oder verlangte, ein Gruppenbild von einem halben Dutzend Japaner zu schießen. Und Integration begann schließlich beim Essen.
Da kam es in Berlin gelegentlich zu bizarren Szenen. Ein türkischer Nachbar von Mardo hatte mal an einer Imbissbude eine Currywurst bestellt. „Sieht gar nicht aus wie eine Kartoffel“, hatte einer der jungen Verkäufer auf türkisch zu seinem Kollegen gesagt. „Kartoffel“ ist der türkische Spitzname für die Deutschen. Mardos Nachbar hatte auf Türkisch geantwortet, dass er aus Izmir stammt. Daraufhin hatten ihn die beiden Jungtürken beschimpft, er würde Schweinefleisch essen – und das auch noch im Ramadan am helllichten Tag. Integration ist ein hartes Geschäft.
Julia und Mardo hatten eine Menge zu tun, als ein großer hagerer Typ mit Fototasche das Restaurant betrat. Er setzte sich an einen Tisch und bestellte bei Julia ein J-Pack. Die Teigtasche mit Julias geheimnisvoller Füllung verkaufte sich gut.
„Möchten Sie auch was dazu?“ fragte sie den Mann.
„Ja, eine gute Story.“
Julia schaute ihn verdutzt an.
Der Mann grinste breit. „Rainer Lust, Restaurantkritiker von ‚Planet Berlin’. Das ist ein neues Internet-Portal. Ich bin gekommen, um das legendäre J-Pack zu testen.“
„Das J-Pack gibt es doch erst seit gestern.“
„Ich bin Internet-Journalist, so was spricht sich eben schnell rum.“
„Wie geht denn das?“ fragte sie ungläubig.
„Da haben einige User Erfahrungsberichte ins Netz gestellt. Also will ich mir selbst ein Bild machen. Bevor jemand anderes den Trend entdeckt. Falls überhaupt was dran ist.“
Julia hatte vor der Restauranteröffnung sogar „die Billigesser“ von Thomas Bernhard gelesen, um sich Anregungen oder wenigstens ein paar Rezepte zu holen – aber in der kurzen Erzählung wurde fast nichts gegessen. Dafür gab es aber den wichtigen Hinweis, dass man als Geistesmensch keinem Ratschlag folgen solle oder doch zumindest das genaue Gegenteil dieses Ratschlags unternehmen solle. Um den Eigensinn soll es dem Geistesmenschen gehen und so hatte Julia auch ihr J-Pack entworfen: in einem Moment voll rasender Lust und prickelndem Wahnsinn. Große Kunst kommt ganz plötzlich, ob Sinfonie, Sonett oder Soja. Ein einfacher kleiner Privatdetektiv wie Mardo hätte ihr sicher niemals helfen können. Hier ging es um Gastrosophie, um die Weisheit des Bauches, um den Zusammenhang von Ernährung, Glück und Sinn. Das J-Pack war klein, unkompliziert und es bröselte nicht in die Computertastatur.
Julia ging in die Küche. Wenn es so weiterging, mussten sie jemanden einstellen. Das Geschäft lief gut. Offenbar gab es auch in dieser Gegen genügend Leute, die von Billigfraß und Fastfood die Schnauze voll hatten. Gutes Essen ist wie Medizin, dachte sie. Es macht die Gäste gesund und glücklich. Wie viele Menschen gingen achtlos an diesem Lokal vorüber, um sich den nächsten Big Mäc oder eine Currywurst einzupfeifen? Das unerlöste Proletariat der Hertha-Fans, das seine knechtische Existenz einmal in der Woche für ein paar Stunden viehischen Gebrülls im Stadion oder den Fankneipen vergessen darf. Die jungen Leute, die gar nicht wissen, was es für leckere Gewürze und verlockende Rezepte gibt.
Als gegen zwei Uhr das Geschäft langsam abflaute, betrat ein Mann um die Fünfzig das Lokal. Er war groß, kräftig und das graue Haar war schon dünn geworden.
„Herr Leber“, Mardo strahlte.
„Menschenskind, Mardo. War das ein Spaß“, begann der Kommissar.
Mardo geleitete seinen Gast zu einem der hinteren Tische. „Was wollen Sie trinken?“
„Wie wäre es mit einem leckeren grünen Tee?“
„Kommt sofort.“
Als Mardo wieder zurück an den Tisch kam, hatte er eine Kanne Tee und zwei Tassen auf einem Tablett dabei.
Er setzte sich zum Kommissar und schenkte Tee ein.
„Dann erzählen Sie mal.“
„Hat alles wunderbar geklappt. Der Bursche ist tatsächlich in Schmöckwitz aufgekreuzt. Es ging alles besser als gedacht.“ Leber strahlte die Zufriedenheit aus, die uns im seltenen Falle eines Erfolgs bisweilen gegönnt ist. „Im Alter wird die Körperenergie zunehmend für die Produktion von Nasenhaaren, Warzen und Bronchialschleim verwendet und steht für sportliche Betätigungen nicht mehr zur Verfügung. Ich habe ihn mit einem Minimum an Aufwand festgenommen, keine Verfolgungsjagd, kein Zweikampf.“
„Und jetzt sitzt er bei Ihnen in der Keithstraße?“
Leber Miene verdunkelte sich etwas. „Den hat sich gleich das LKA 5 geschnappt. Sonleitner führt die Ermittlung weiter.“ Dann trank er einen Schluck. „Aber die Verhaftung habe ich gemacht und der Polizeipräsident hat sich persönlich bei mir bedankt. Die Stadt kann aufatmen und mir winkt mit ein bisschen Glück eine Beförderung. Jedenfalls steht morgen mein Name in allen Zeitungen, wenn die Pressekonferenz stattgefunden hat.“
Julia kam an ihren Tisch und stellte eine große Platte mit vegetarischen Gaumenkitzlern in die Mitte.
„Haut alle rein. Wer weiß, wann es wieder was gibt.“
Leber lachte. „Es kommen schwere Zeiten auf uns zu, da muss man vorbereitet sein.“
„Es kommen immer schwere Zeiten auf uns zu“, sagte Julia.
„Da kommt man auch nicht aus der Übung.“
„Ändern kann man sowieso nichts“, ergänzte Mardo.
„Nee. Man kann nur das Beste draus machen.“ Leber nahm sich eine winzige Pastete, die mit Spinat und Frischkäse gefüllt war.
„Schmeckt’s?“ fragte Mardo neugierig.
„Sehr lecker“, sagte der Kommissar und griff nach einer Blätterteigtasche. „Was macht Ihr eigentlich, wenn es mit dem Restaurant nicht klappt?“
„Dafür gibt es keinen Plan“, antwortete Mardo. „Wir sind nicht die großen Planer, wir nehmen es, wie es kommt.“
„Warum sollten wir einen Plan für den Fall eines Misserfolgs haben. Ich glaube, wir schaffen das. Das ewige Planen hilft doch nichts. Je ängstlicher die Menschen sind, umso mehr planen sie“, ergänzte Julia.
„Genau. Wer Angst vor der Zukunft hat, will einen möglichst genauen Plan haben, damit auch nichts schief geht. Die Deutschen reden doch schon mit 25 über ihre Rente. Wer weiß, ob es in ein paar Jahrzehnten überhaupt noch eine Rente gibt.“ Auch Mardo ließ es sich schmecken.
Julia sah, wie es den beiden schmeckte. „Wer weiß, ob es in ein paar Jahrzehnten überhaupt noch die Bundesrepublik gibt. Meine Eltern haben auch gedacht, die DDR würde es ewig geben. Wir planen höchstens bis zum nächsten Monat, schon für nächstes Jahr haben wir keinen Plan.“
„Das ist sehr mutig. Vielleicht bin ich auch einfach zu lange Beamter, um mir dieses abenteuerliche Leben vorstellen zu können.“
Mardo lächelte den Kommissar an. „Freiheit und Sicherheit gibt es eben nicht im Doppelpack. Und im Augenblick genießen wir das Experiment Selbständigkeit. Mehr als hoffen, dass es gut geht, kann man nicht.“
„Ich drücke Euch jedenfalls die Daumen.“
„Bringen Sie lieber nächste Woche Ihre Frau mit, wenn ich Jägerschnitzel mit Pommes mache – auf Seitan-Basis. Und machen Sie bei den Kollegen Werbung für unser Restaurant“, sagte Julia.
„Das klingt gut. Was ist denn Seitan?“
„Das ist ein Fleischersatz auf Weizenbasis. Mit der richtigen Soße werden Sie den Unterschied gar nicht schmecken.“
Leber war begeistert. „Dann könnt Ihr schon mal eine Tischreservierung klarmachen. Dann sieht meine Frau endlich mal, was es für tolle Restaurants im Wedding gibt.“
Ein Pärchen betrat das Restaurant und Julia musste sich im die neuen Gäste kümmern.
Eine Weile aßen Leber und Mardo schweigend die kösltichen Kleinigkeiten, bis nur noch ein paar Oliven und etwas Auberginencreme übrig waren.
Leber kratzte sich am Kopf. Irgendetwas wollte er sagen.
Mardo beschloss, ihn einfach zu fragen. „Was gibt es noch? Der Fall Altmann ist doch gelöst, oder?“
„Die Sache mit der Million geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“
„Aber es gibt keine Beweise. Der Fall ist abgeschlossen. Sie haben keinen Grund, bei der Maximum AG weitere Nachforschungen anzustellen.“
„Im Polizeibericht habe ich von einer Schießerei im ‚Chez Boris’ in Weißensee gelesen. ‚Chez Boris Entertainment GbR’ hieß einer der Investoren bei einem gescheiterten Großprojekt der Maximum-Leute.“
„Wissen Sie, wer hinter dem ‚Chez Boris’ steckt?“
„Laut Mietvertrag eine gewisse Olga Schevscherenko, die aber nirgendwo in Deutschland gemeldet ist. Das Geld wird regelmäßig von einer Zweckgesellschaft namens ‚Inland Empire SPC’ überwiesen. Firmensitz ist die Insel Jersey, eine Steueroase vor der französischen Küste, die auch von großen Firmen wie Enron oder der Bayerischen Landesbank genutzt wurde. Wir vermuten die Russenmafia dahinter. Beweisen lässt sich das natürlich nicht.“
„Die sind garantiert noch schweigsamer als die Immobilienfritzen.“
Leber schüttelte den Kopf. „Da haben Sie vermutlich Recht.“ Und nach einer kurzen Pause sagte er: „Das Geld für Ihre sachdienlichen Hinweise erhalten Sie in den nächsten Tagen. Und keine Sorge um Ihren Ruf bei der politisch bewegten Jugend der Stadt. Ihr Name taucht in keinem Protokoll auf, Sie müssen auch keine Zeugenaussage machen. Schließlich habe ich den Täter in flagranti erwischt. Kriminaldirektor Dragoner, mein Vorgesetzter, war jedenfalls begeistert, dass wir den Kollegen vom Staatsschutz eine Nasenlänge voraus waren.“
Dann war er aufgestanden und hatte sich von Mardo und Julia verabschiedet.
Eigentlich wollten ihm die beiden noch den „Brandstifter“-Ketchup von Kühne schenken, den sie neulich gekauft hatten. Aber irgendwie war das heute keine gute Idee. Mardo wusste, dass heute Nacht wieder Autos brennen würden. Irgendein Solidaritätskomitee, eine Autonome Gruppe oder eine „Brigade Werner Seelenbinder“, benannt nach dem kommunistischen Widerstandskämpfer aus Neukölln, der 1925 als Ringer erfolgreich an der Arbeiterolympiade in Frankfurt am Main teilgenommen hatte und nach dem eine Turnhalle am Tempelhofer Feld benannt war, würde am nächsten Tag ein Bekennerschreiben veröffentlichen und die Freilassung aller politischen Gefangenen wie Elias Merck fordern – inklusive einem freien Tibet. Und Leber wusste das auch, dachte Mardo.
Als der Kommissar gegangen war, erzählte Mardo Julia von der Belohnung. „Damit sind wir finanziell erst mal aus dem Gröbsten raus. Du darfst mit ab jetzt ‚Mein Imperator’ nennen.“
Julia hob die rechte Augenbraue. „Und du darfst heute den Abwasch machen, Schätzchen.“
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