Montag, 21. Dezember 2015

Die Einsamkeit der Eule

„Vielleicht liegt es daran, dass mir irgendetwas fehlt.“ (Fehlfarben: Paul ist tot)
Es war später Nachmittag, als ich am Bahnhof der kleinen Stadt ankam. Ich trat auf den Bahnhofsvorplatz und blickte zur Uhr empor. Ich hatte noch drei Stunden Zeit bis zu meinem Termin.
Das Hotel war nicht weit vom Bahnhof entfernt. Ich überquerte den Platz und betrat einen Park, an dessen anderem Ende der rote Backsteinbau durch die Platanen zu erkennen war. Auf den Bänken saßen ältere Ehepaare und Mütter mit kleinen Kindern. Ich war noch nie in dieser Stadt gewesen. Die Menschen waren mir nicht nur vollkommen fremd, sondern an diesem Tag auch sonderbar fern. Ich beneidete sie um die Sorglosigkeit ihres Lebens. Ich sah die entspannten Gesichter, und es schien mir, als könne ich die Gewöhnlichkeit dieses Tages spüren, denn der heutige Sonntag konnte für diese Menschen nicht anders als gewöhnlich sein. Sie genossen unbeschwert die milde Sonne und die Ereignislosigkeit des Kleinstadtlebens.
Am meisten beneidete ich die Kinder, die ich auf einem Spielplatz sah. Sie waren mir noch fremder, noch ferner als die Erwachsenen. Sie lebten in ihrer eigenen Welt und waren völlig in den Bau einer Sandburg, das Spiel mit einer Puppe oder das rhythmische Schweben der Schaukel versunken. Ich hätte gerne mit ihnen getauscht, aber sie bemerkten mich nicht einmal. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich vollkommen bedeutungslos.
Am Abend würde man mir in der Stadthalle einen Preis verleihen. Den kleinen Preis einer kleinen Stadt. Niemand von den Menschen hier im Park würde davon Notiz nehmen. Sie kannten mich nicht. Weder mein Gesicht, noch meinen Namen. Wie viele Menschen in dieser Stadt mochten meine Bücher gelesen haben? Vermutlich konnte man sie an zwei Händen abzählen, und ich würde sie alle heute Abend kennenlernen, wenn ich einen kurzen Vortrag halten, die Grußworte des Bürgermeisters hören und die Bronzemedaille nebst Urkunde in meinen Händen halten würde.
Am nächsten Morgen würde ich durch den gleichen Park wieder vom Hotel zum Bahnhof zurücklaufen. Vermutlich würden dann andere Fremde hier sitzen und möglicherweise würde einer dieser fernen Menschen gerade den Kulturteil der Zeitung lesen, in dem ein Bild der Preisverleihung abgedruckt war. Mein Gesicht, klein, farblos und unscheinbar, neben dem strahlenden Bürgermeister und der Leiterin der Volkshochschule, die den Abend organisiert hatte. Aber selbst wenn ich genau in diesem Augenblick vorüber liefe und der Fremde zufällig aufschauen würde, bliebe ich für ihn ein Unbekannter.
Ich werde wieder in den Zug steigen und in eine andere Stadt fahren. Trauriger als in diesem Jahrhundert kann das Leben der Geschichtenerzähler niemals gewesen sein.
Q Lazzarus - Goodbye Horses. https://www.youtube.com/watch?v=D37aUdKcD3o

1 Kommentar:

  1. Ach komm.........
    Reiß Dich zusammen.
    Die Zeiten sind beschissen genug.
    Da brauchen Wir keinen, der Uns vollends runterzieht,
    damit Wir nur noch zum Gang in die Schenke fähig sind.

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