Mittwoch, 30. Dezember 2015
Berliner Asche, Kapitel 6, Szene 8
Eigentlich ist die Gentrifizierung ein Kompliment für Menschen wie mich. Wegen kreativer Köpfe wie mir, so lese ich allenthalben, ziehen irgendwelche Schwaben aus der Provinz nach Berlin und geben eine Mörderkohle für schicke Eigentumswohnungen aus. Sie haben ja auch Recht: Was für eine Stadt! Da gibt es Schriftsteller und Kunstmaler, Musiker und Schauspieler. Alle unter dreißig wollen was mit Medien machen, alle über dreißig haben demnächst eine Vernissage in New York oder machen eine Lesereise für das Goethe-Institut. Total aufregend, wie man nicht müde wird, nach Hause zu mailen. Aber dann scheint man irgendwann genug von seinem neuen Berlin-Dasein zu haben, die postmaterielle Metropolenexistenz bekommt erste Risse und spätestens mit den Kindern kommen die erlernten Verhaltensmuster der Vergangenheit – finsterster Schwarzwald mit Kehrwoche und gesetzlich garantierter Nachtruhe – wieder zum Vorschein. Dann müssen im Prenzlauer Berg die angesagten Clubs ihre Türen für immer schließen. Sie waren zu laut. Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht? Dann kotzt einen der anstrengungslose Wohlstand des Studentenpärchens in der Nachbarwohnung an oder die spätrömische Dekadenz einer Partygesellschaft, die im Haus gegenüber bis in die frühen Morgenstunden lacht und tanzt. Graffiti sind kein Ausdruck von künstlerischer Freiheit, sondern eine akute Wertminderung der eigenen Immobilieninvestition. Man will die ganzen Typen nicht mehr sehen, die ihren No-Name-Dreck bei Aldi kaufen. Man will auch Aldi nicht mehr, aber alle fünf Meter muss die Grundversorgung des Neubürgers mit Latte macchiato und Sechskornbrötchen durch Neueröffnungen von Geschäften gesichert werden. Schließlich hat man mal so ein Buch von einem dieser sogenannten Schriftsteller gelesen. War gar nicht so doll. Und der Autor hat nach Schnaps gestunken – auch Intellektuelle sollten mal über Hygiene nachdenken. Die Bilder auf der Ausstellung letztes Jahr – jetzt mal im Ernst: Wer kauft so einen Scheiß? Eines Tages sind dann die Zugereisten unter sich. Der Hölle im eigenen Kopf entkommt niemand, Sindelfingen ist schlimmer als Vietnam.
Merck saß in der S 46, um diese Uhrzeit waren nur noch wenige Menschen unterwegs. Morgen war wieder ein Arbeitstag und es war schon nach zehn. Er war am S-Bahnhof Hermannstraße eingestiegen und fuhr nach Südosten an den Rand der großen Stadt. Für eine Fahrradtour war es zu weit, außerdem waren unbeleuchtete Fahrräder in den Vororten um diese Uhrzeit zu auffällig. Er hatte sich den Weg auf seinem Smartphone genau angeschaut, später würde er das Gerät abschalten. Solange es auf Empfang geschaltet war, konnte er jederzeit geortet werden.
Mich werdet ihr nicht aus Neukölln vertreiben. Ihr könnt nicht gegen jemanden gewinnen, der nichts zu verlieren hat. Ich werde in meinem Kiez bleiben und euch einen Kampf liefern, den Ihr feinen Pinkel nie vergessen werdet. Ihr werdet mich nicht brechen und zu einem Sklaven eures Systems machen. Mein genetischer Auftrag heißt: Leben. Von Arbeit hat keiner was gesagt.
Am Bahnhof Eichwalde stieg er aus. Der Mond sah schrundig und alt aus, wie die Haut eines Buckelwals. Die kleine Schlafstadt machte nicht den Eindruck, als ob sie zur Metropole Berlin gehören würde. Und tatsächlich war hinter den letzten Häusern irgendwo die Grenze von Berlin und Brandenburg. Eichwalde gehörte offiziell zum Umland, Schmöckwitz offiziell zu Berlin. Jotwede war beides.
Die Vorortstraßen waren ruhig, kein Mensch war auf dem Bürgersteig zu sehen. In den Häusern waren einige Fenster erleuchtet und man sah das blaue Flackern der Fernseher. Wahrscheinlich hatten die Spießer in ihren schicken Immobilien alle den „Tatort“ gesehen und ließen sich jetzt von Günter Jauchs Talkshowgästen in den Schlaf lullen.
Es waren etwa drei Kilometer, die er gehen musste. Aber es war erst halb elf und die Party war sicher noch in vollem Gange. Eine einmalige Gelegenheit! Sonst waren diese Bonzenkisten in Garagen versteckt und von Alarmanlagen bewacht, jetzt standen sie irgendwo auf der Straße und keiner achtete auf einen jungen Mann, der zufällig hier vorbei kam. Elias Merck fühlte sich stark und mächtig, als er auf dem Weg nach Schmöckwitz war. Er trug seinen Lieblingskapuzenpulli von Carhartt, Farbe „Asphalt“, und hatte genügend Grillkohleanzünder in den Känguruhtaschen seines Hoodies.
Sie erwischen mich nie, dachte er und ballte die Fäuste. Gute Planung und gute Nerven sind alles. Alles eine Frage der Intelligenz, dachte er. Die Idioten, die Amateure sitzen im Gefängnis. Aber die guten Leute, die Profis, die klugen Köpfe sind alle noch draußen. Sie sind frei und bewegen sich in der Gesellschaft wie die Fische im Wasser. Das hat Mao gesagt: Der Revolutionär soll sich in der Gesellschaft bewegen wie der Fisch im Wasser. Ich bin unsichtbar. Sie erkennen mich nicht. Ich kann als Gaffer neben dem Feuerwehrwagen stehen und mit meinem Handy Fotos machen. Ich kann direkt neben einem Polizisten stehen. Die Menschen in dieser Stadt sind wie ein dichter Urwald, in dem ich mich verstecken kann. Und wenn sie hinter mir her sein sollten, muss ich nur den kleinen Beutel mit den Grillkohleanzündern wegwerfen. Ich hinterlasse keine Spuren. Ich habe nur ein Feuerzeug dabei. Und das ist nicht verboten. Schwarze Klamotten sind nicht verboten. Nachts unterwegs sein ist nicht verboten. Sich erwischen lassen – das ist verboten.
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