Es ist der 17. Oktober 1993. Das Wintersemester hat begonnen
und ich war gerade beim Professor, um ihm mein Promotionsprojekt vorzustellen.
Jetzt geht es los. Und dann trifft mich diese SPIEGEL-Titelstory wie ein
Faustschlag. Das Heft 42/1993 ist gerade erschienen und ich trage es vom Kiosk
wie in Trance nach Hause. „Dr. Arbeitslos“ lese auf der Titelseite. Der Text
beginnt mit dem Schicksal frisch gebackener Akademiker, die keine Stelle
finden.
Strukturwandel
und Rezession. Die Unternehmen entlassen Leute, es gibt einen
Einstellungsstopp. Selbst Naturwissenschaftler und Ingenieure haben keine
Chance. Und ich bin Politikwissenschaftler! Nach Philosoph, Volkswirt und
Soziologe der aussichtsloseste Job der Welt, wenn es um Bewerbungen geht.
Selbst BWLer und Lehrer melden sich reihenweise arbeitslos. Heute fehlen überall
Leute, damals standen sie auf der Straße.
Die
Arbeitslosenquote für Uni-Absolventen liegt bei 7,4 Prozent im Westen und bei
15,2 Prozent im Osten. Ich lebe natürlich im Osten. Insgesamt sind etwa zehn
Prozent der Beschäftigten arbeitslos. Entlassene Fachleute konkurrieren mit dem
akademischen Nachwuchs auf einem schrumpfenden Arbeitsmarkt. Es ist die Zeit
der Verlagerung von Produktion und Entwicklung ins Ausland, wo die Leute
einfach billiger sind. „Vor drei Jahren war die Welt noch in Ordnung, nun geht
es im Sturzflug abwärts.“ (Jörg Müller, Professor für Elektrotechnik an der
Technischen Universität Hamburg-Harburg)
Plötzlich
fahren auch promovierte Zahnärzte Taxi. Nach ein paar Jahren Arbeitslosigkeit
ist die lange Ausbildung wertlos geworden. Irgendwann nimmt man jeden Job an.
Die Leute sind frustriert und geben sich auf. Ist es da nicht besser, man lässt
gleich alle Hoffnung fahren? Ein Leben in fröhlicher Gleichmut, ohne
komplizierte Pläne für die Zukunft, ohne den Ehrgeiz, eine Karriere machen zu
wollen?
Ich
denke da an Herbert (Name von der Redaktion geändert). Nach dem Zivildienst
machte er auf dem zweiten Bildungsweg das Fachabitur nach und ging zum Studium in
den Ruhrpott, wo er 18 Semester lang keinen einzigen Schein machte. Bafög,
Studentenwohnheim, Playstation, Bong. Dann ging er in sein Dorf zurück,
eröffnete eine Kneipe, ging pleite, und ist heute ein zufriedener Arbeiter –
mit Staplerschein!
Ende
1995 gehe ich zum Gründungstreffen der Berliner Sektion des „Vereins zur
Verzögerung der Zeit“, einer obskuren Organisation voller
gesellschaftskritischer Intellektueller und verträumter Weltverbesserer. Also
genau meine Welt. Dort treffe ich einen Wissenschaftler, der mir nach der
Sitzung eine Stelle in einem Forschungsprojekt zum Thema Zeit – mein Promotionsthema
– anbietet. Ein anderer Wissenschaftler, Professor in Potsdam, möchte meine
Dissertation in seiner Buchreihe veröffentlichen. Anfang 1996, nach meiner
Disputation, trete ich die Stelle an - ohne Bewerbungsverfahren oder
irgendwelche Unterlagen. Ich unterschreibe am ersten Arbeitstag den Vertrag und
beziehe mein Büro. Auch die Doktorarbeit erscheint kurze Zeit darauf. Bis heute
ist es für mich ein Wunder.
Man
nennt es Ironie der Geschichte: Zehn Jahre nach Erscheinen des SPIEGEL-Artikels
arbeite ich am Wissenschaftszentrum Berlin, Abteilung „Arbeitsmarkt und
Sozialstaat“. Mein Chef ist Prof. Dr. Günther Schmid, seinerzeit der
berühmteste Arbeitsmarktforscher Deutschlands. Er berät Kanzler Schröder bei
seinen Arbeitsmarktreformen, etliche Ideen für „Hartz“ werden in unserer
Abteilung entwickelt. Das Institut liegt am Südostrand des Tiergartens, das
Kanzleramt am Nordostrand. Schmid radelt regelmäßig zu Besprechungen zu unserem
damaligen Regierungschef. Bald darauf verlieren Gerhard Schröder und ich unsere
Jobs, Schmid geht in Rente.
In Berlin hieß es, wer nix wird, wird Wirt oder Bulle. Endlich im Hunsrück, die Kiezschreiberpinte. Das Loch zur Literatur. Barfly.
AntwortenLöschenKlingt nach einer schönen Story, aber zwei Jahre, nachdem ich 2013 zurück in mein Dorf gezogen bin, machte die letzte Kneipe dicht. Ich gehörte zu den Stammgästen, die bei der Beerdigung des Wirts dabei waren. Wir haben jetzt seit acht Jahren keinen Ort mehr für irgendeine Form von Barfly-Romantik. Fußball- und DVD-Abende mit den Freunden aus der Kindheit, Wein vom Winzer und Pizza aus dem Nachbardorf ...
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