Donnerstag, 4. Mai 2023

Interview mit einem Klassenkämpfer

 

„Herr Bonetti, wo waren Sie 1968, im Sommer der Revolution?“

„Ich arbeitete damals in einem Stahlwerk. Ein waschechter Malocher. Die Hitze am Hochofen war unerträglich, der Lohn miserabel und ich hatte keinerlei Aussicht auf eine Verbesserung meiner Lage.“

„Was geschah dann?“

„Im Mai nahm ich meinen kompletten Jahresurlaub und ging an die Freie Universität Berlin, Institut für Soziologie. Damals ein Hort des Widerstands gegen das System, wie es die Studenten nannten. Gegen das Establishment, gegen die Politiker.“

„Was haben Sie dort gemacht?“

„Agitation. Damals hatten die Studenten kein Klassenbewusstsein. Sie waren sich, im Gegensatz zur Arbeiterklasse, ihrer Lage nicht bewusst.“

„Wie sah das konkret aus?“

„Ich habe auf dem Campus, in der Mensa und in Kneipen mit ihnen diskutiert, ich habe Flugblätter verteilt, ich nahm an ihren Demonstrationen und Sit-Ins teil. Ich habe den Studenten klargemacht, dass sie zur Bourgeoisie, zur herrschenden Klasse gehören. Ich habe ihnen die Augen für die Vorzüge der Markwirtschaft geöffnet. Der Kapitalismus ist das Gesellschaftsmodell, das ihre Eltern reich gemacht und ihnen erst das Studium ermöglicht hat. Ich habe ihnen ihre unfassbaren Privilegien erläutert, von denen wir Arbeiter nur träumen konnten.“

„Hatten Sie Erfolg?“

„Nein, sie haben es nicht begriffen. Ich habe sie mit meinen Argumenten nicht erreichen können. Sie haben nie ein Klassenbewusstsein im Marx’schen Sinne entwickelt.“

„Und waren sie enttäuscht?“

„Anfangs schon. Aber ein paar Jahre später sind diese Studenten in den höheren Dienst der öffentlichen Verwaltung eingetreten, sie wurden Manager, Zahnärzte und Rechtsanwälte. Ohne es zu wissen, wurden sie Teil des herrschenden Systems. Sie haben ihr Leben lang dazu beigetragen, es zu erhalten. Sie wurden finstere Ausbeuterschweine, Kriegshetzer und Kommunistenfresser, angepasste Arschlöcher und FDP-Wähler.“

„Das klingt ja furchtbar. Macht Sie das nicht wütend?“

„Nein, ich habe Bonetti Media gegründet und meine erste Million gemacht. Heute fahre ich Porsche und besitze ein Privatflugzeug. Ich wechselte einfach von der Verlierer- auf die Gewinnerseite.“

„Herr Bonetti, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.“

 

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