Dienstag, 16. Mai 2023

Der Bürger rät, wir raten mit

 

Die deutsche Politik hat ein Image-Problem. Die Mehrheit ist mit der aktuellen Regierung und der Arbeit im Parlament unzufrieden. Die Vorwürfe lauten: Vetternwirtschaft, Klientelpolitik, Selbstbereicherung (#Maskendeals), Verbotspolitik u.v.m. Die Parteien erscheinen als hermetisch von der Bevölkerung abgeschlossene Zirkel, als volksferne Elite, die den Bürger durch patriarchalische Erziehungsmaßnahmen entmündigen möchte. Die Politiker sind aber nicht nur Puppenspieler, sondern hängen selbst wiederum an den Fäden der Lobbyisten aus Industrie und Beratungsunternehmen.

Um diesem Image entgegenzuwirken, hat man jetzt tief in den Marketingbaukasten gegriffen und die Bürgerräte erfunden. Auf diese Weise möchte man die Bürger wieder näher an die politischen Entscheidungsprozesse heranführen und sie für die Demokratie begeistern. Es erinnert mich alles sehr an die Runden Tische der Neunziger, als ein Instrument, das in der Transformation der DDR vom Sozialismus zur Demokratie 1989/90 eingesetzt wurde, als Allzweckwaffe für alle möglichen Themen genutzt wurde.

Ich selbst habe zwei Jahre an einer sogenannten Bürgerwerkstatt in Berlin teilgenommen, bei der es um die Erweiterung des Mauerparks ging. Es war eigentlich eine Beschäftigungstherapie mit Moderatoren, bunten Kärtchen, die man beschriften durfte, und endlose Debatten über die Gestaltung der Erweiterungsfläche. Wir haben beraten, aber die Politiker haben sich nicht beraten lassen. Schließlich wurde entschieden, eine Hälfte der Erweiterungsfläche zu bebauen und die andere Hälfte nach den Plänen eines externen Landschaftsarchitekten zu gestalten.

Wie sieht der Bürgerrat, der den Bundestag beraten soll, konkret aus? Das Gremium soll aus160 repräsentativ ausgelosten Bürgern bestehen. Er soll über konkrete Themen insgesamt vierzig Stunden debattieren und dann eine Empfehlung aussprechen. Organisiert und moderiert wird der Rat von einem Verein namens Mehr Demokratie e.V. „Neutrale“ Experten sollen die Diskussion unterstützen. Natürlich ist die Empfehlung für das Parlament nicht verbindlich. Die ganze Aktion ist leicht zu durchschauen, selbst für einen Laien.

Ich habe Fragen:

Wer kontrolliert die Auslosung?

Wer definiert, welcher Experte neutral ist? Wer wählt sie aus?

Welche Mehrheit ist für eine Empfehlung erforderlich? Eine relative oder eine absolute Mehrheit? Was sagt es uns, wenn siebzig Bürger dafür und sechzig dagegen sind, während sich der Rest enthält oder bei der Abstimmung nicht erscheint?

Was verspricht man sich von den Empfehlungen? Erinnert es nicht an die Empfehlungen des Ethikrats, der ebenfalls nicht demokratisch gewählt ist?

Durch was sind die 160 Bürger legitimiert, die für 80 Millionen Bürger sprechen sollen?

Hat das Gremium die Relevanz von Meinungsumfragen, an denen wenigstens zweitausend Bürger teilnehmen? Was ist, wenn in einer BILD-Online-Umfrage 150.000 Leute anderer Meinung sind?

Wie marginal ist der Einfluss einer solchen Show-Veranstaltung auf den Gesetzgebungsprozess?

Inwiefern wird durch einen Bürgerrat die Demokratie konkret gestärkt?

P.S.: 2021 gab es einen Bürgerrat zum Thema Klima, der eine ganze Reihe von Vorschlägen erarbeitet hat. Die ganze Veranstaltung habe ich gar nicht mitbekommen. „Was seine Wirkung angeht, so kann der offiziell gelobte Bürgerrat Klima getrost als Flop bezeichnet werden.“ (Dieter Rucht in: ZEIT-Online, 7.5.2023)

 

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