Montag, 12. September 2022

Das Notizbuch


Ein Ziel, das permanent in Bewegung bleibt, ist schwer zu treffen. Also packte ich an diesem Morgen meine wenigen Habseligkeiten in eine dunkelblaue Sporttasche und verließ die kleine Pension im fränkischen Ort Waischenfeld. Pensionen auf dem Land haben den Vorteil, dass niemand einen Ausweis sehen will. Im Gegenzug verlange ich beim Bezahlen keine Rechnung. Die Betreiber freuen sich, denn für eine Übernachtung, die nicht in ihren Büchern auftaucht, müssen sie keine Steuern zahlen.

Mein wertvollster Besitz war ein Notizbuch, in dem sämtliche illegalen Transaktionen im Zusammenhang mit Deutschlands größtem Bau- und Korruptionsskandal vermerkt waren. Ich besaß diese Informationen nur auf dem Papier, um keine Datenspur zu hinterlassen. Ich spreche natürlich vom BER. Jeder Praktikant einer Provinzzeitung hätte diesen Skandal gewittert. Der Bau verzögert sich um zehn Jahre und kostet mehrere Milliarden mehr, ohne dass sich das Bauvolumen geändert hätte. Es lag nahe, dass Politiker überflüssige Aufträge vergeben und im Gegenzug Schmiergeld und Parteispenden kassiert hatten. Warum hatte die deutsche Presse das Thema nicht aufgegriffen? Ganz einfach: In diese Affäre waren Leute verwickelt, hinter denen mächtige Parteien standen, und Baufirmen und Beratungsgesellschaften, hinter denen mächtige Investoren standen. Jede Zeitung, die in diesem Fall investigativ tätig geworden wäre, wäre unter Druck gesetzt worden. Viele Anzeigen wären nicht mehr aufgegeben worden, die Parteien hätten niemanden mehr für Interviews zur Verfügung gestellt oder Insider-Wissen weitergegeben. Über kurz oder lang wäre eine solche Zeitung in den Bankrott getrieben worden.

Aber ich arbeite nicht für eine gewöhnliche Zeitung. Ich bin bei den BMFS, den Bonetti Media Special Forces. Wir arbeiten undercover, ohne Kontakt zum Mutterschiff, wir werden hinter den feindlichen Linien abgesetzt und operieren allein. Wenn etwas schief geht, hat uns Bonetti nie gekannt. Ein gefährlicher Job, aber gut bezahlt. Natürlich braucht Bonetti Media meine Informationen nicht für eine Veröffentlichung. Die Empörung der Öffentlichkeit wäre nur von kurzer Dauer und den Umsatz würde die Story nicht nennenswert erhöhen. Erpressung ist viel lukrativer. Die Unternehmer zahlen und die Politiker liefern wertvolle Informationen.

Ich setzte mich an die Bushaltestelle und wartete. Der Bus kam und ich blieb sitzen. Wäre mir jemand gefolgt, hätte er das Gleiche tun müssen. Aber ich blieb allein. Es ist praktisch unmöglich, jemanden in einem Dorf zu beschatten, bei jedem Gasthausbesuch, bei jedem Waldspaziergang. Eine halbe Stunde später stieg ich in den nächsten Bus und fuhr nach Forchheim. Dort ging ich in einen Copyshop und machte drei Kopien jeder Seite des Notizbuchs. Dann kaufte ich in einem Schreibwarenladen drei große Umschläge und brachte sie zur Post. Eine Kopie ging an Bonetti Media, eine an ein Postfach in Ludwigshafen, das wir für diese Zwecke benutzten, und eine an meinen Führungsjournalisten. Mein Job war damit erledigt und ich ging in den Hebendanz-Keller, einen Biergarten im Forchheimer Kellerwald.

Ich war gerade bei meinem dritten Kellerbier, als sich zwei Männer in schwarzen Anzügen an meinen Tisch setzten.

„Sie haben Informationen, die wir benötigen“, begann der Ältere.

Ich wollte es ihnen nicht zu leicht machen, das wäre verdächtig gewesen.

„Ich weiß nicht, wovon sie sprechen.“

Ich hörte, wie unter dem Tisch eine Pistole entsichert wurde.

„Verarschen kann ich mich allein.“

„Nein, können Sie nicht.“

Beide schwiegen.

„Sie können mich nicht in aller Öffentlichkeit erschießen“, gab ich zu bedenken.

„Wenn ich es kann, erfährst du als Erster davon.“

„Ich habe alles in meinem Hotelzimmer.“

„Du hast hier kein Hotelzimmer. Sonst wären wir schon dort gewesen.“

Ich zögerte. Dann holte ich das Notizbuch aus meiner Jackentasche und legte es auf den Tisch.

„Gibt es davon Kopien?“

„Nein. Ich bin freier Journalist und wollte es einer Zeitung anbieten.“

„Wenn du eine Kopie hast und Kontakt zu einer Redaktion aufnimmst, werden wir es erfahren.“

Dann nahm der Ältere das Buch und steckte es ein. Sie gingen, ohne sich zu verabschieden. Ich bestellte mir ein Schäufele mit Kloß.

3 Kommentare:

  1. Dolle Räuberpistole.
    Erinnert ein bißchen an Nick Knatterton. :)

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    1. Als Kind war ich ein großer Knatterton-Fan. Ich finde es nach wie vor unglaublich, dass sich niemand für diesen Bauskandal interessiert. Zumal in Stuttgart ja nach demselben Prinzip Steuergelder in Milliardenhöhe abgezockt werden.

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  2. Statt Showdown ein Schäufele mit Kloß. Genial!

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