Pünktlichkeit gehört zum
Zwangscharakter des Deutschen. Mit Unpünktlichkeit kann er nicht umgehen. Sie
macht ihn nervös. Wenig später aggressiv. Unpünktlichkeit ist ein
Zivilisationsbruch. Der Zug hat Verspätung. Das darf nicht sein. Das ist
Anarchie. Was kommt als nächstes? Der Maoismus?
Ordnung gibt dem Deutschen Halt.
Ordnung sorgt für Sicherheit. Wenn etwas zum geplanten Zeitpunkt passiert, ist
es in Ordnung. Egal was. Hauptsache pünktlich. Punktgenau. Es darf nichts
verändert werden. Sonst ändert sich alles. Sonst ist alles verloren. Auch bei
fünfzig Grad im Abteil trägt man einen grauen Anzug und Schlips. Der Deutsche
weiß, in welcher Schreibtischschublade sein Bausparvertrag liegt. Die Kinder
haben Seitenscheitel.
In Afrika habe ich viel über
Pünktlichkeit gelernt. Am Busbahnhof in Nairobi, einer Wiese ohne
Beschilderung, habe ich mal einen Busfahrer gefragt, wann er losfahren würde. Er
tat so, als würde er auf die Uhr schauen. Aber er trug keine Armbanduhr. Er
lachte und zeigte mir vier Finger. Also um vier Uhr, dachte ich. Es war zehn
Uhr morgens. Später erfuhr ich, dass die Busse in Afrika losfahren, wenn sie
voll sind. Sonst lohnt es sich ja nicht. Ein Fahrplan wäre also völlig
ineffektiv.
Als ich im Frühling nach Berlin
gefahren bin, hatte der Zug fast eine Stunde Verspätung. Es war mir völlig
egal. Ich saß an einem Vierertisch, neben mir ein Rentnerpaar aus Brandenburg.
Wir plauderten stundenlang, teilten Kekse und Erinnerungen. Sie hatten gerade
ihre Tochter in Boston besucht. Am Ende kannte ich ihre ganze Familie und hatte
die Bilder ihrer Reise auf dem Handy gesehen. Es war uns völlig egal, ob der
Zug Verspätung hatte.
Verspätungen und Umwege bieten
die besten Gelegenheiten. An sie erinnert man sich noch lange. Länger als an
pünktliche Ankünfte. Man kommt ins Gespräch, wenn man mit anderen Menschen
irgendwo gestrandet ist. Der Triebkopfschaden wird zum Erlebnis. Ich bin mal
wenige hundert Meter vor einem Bahnhof liegengeblieben. Ich hatte einen
wichtigen Termin. Vortrag auf einer wissenschaftlichen Tagung. Wegen der
Verspätung sprach ich als letzter. Es hatte den Vorteil, dass ich die anderen
Vorträge nicht anhören musste. Ich bin direkt nach meinem Auftritt zurück nach
Berlin gefahren. Es ist doch besser, mit einer guten Ausrede gemütlich im Zug
zu sitzen, als sich das Gelaber anderer Leute anhören zu müssen.
Lethargie, völlige
Gleichgültigkeit. Das ist die beste Strategie für ein entspanntes Leben. Gesund
für Geist und Körper. Warum regen wir uns auf? Warum ist uns nicht einfach
alles scheißegal? Muss ich jedes Mal wie das HB-Männchen in die Luft gehen,
wenn der Zug Verspätung hat? Wenn ich eine Minute länger an der Supermarktkasse
stehe? Wenn der Wagen vor mir nicht in einer Nanosekunde von null auf hundert
beschleunigt, wenn die Ampel grün ist? Wenn vor dem Spielfilm noch ein
ARD-Brennpunkt kommt? Was bringen mir Empörung und Wut? Es ist nicht leicht,
ein Deutscher zu sein.
... schreibt einer im vorzeitigen Ruhestand ...
AntwortenLöschen:o)))
LöschenSie schwitzen wahrscheinlich gerade in Ihrem Büro, oder?
P.S.: Ich bin nicht im Ruhestand, ich bekomme keine Rente. Ich bin Privatier. Das ist ein großer Unterschied. In die Rentenkasse habe ich praktisch nichts eingezahlt.
LöschenVor Jahren stieg ich in Berlin in den falschen Zugteil und als ich meinen Platz später einnehmen wollte, war der natürlich schon weg. Also (im total überfüllten ICE) ins Bordbistro. Dort rückte ein junger Mann für mich zur Seite und wir hatten mit den anderen Mitfahrenden eine schöne Zeit: Der junge Mann machte eine Ausbildung zum Waldorf-Lehrer und ein älterer Mann hatte in seinem Ort die Waldorf-Schule mitbegründet (eigentlich halte ich überhaupt nichts von Steinerei, aber da hielt ich mal meinen Mund). Ein junger Bursche fuhr nach seiner ersten Woche Studium nach Hause. In Hannover ging es nicht mehr weiter. Viele Mitreisende stürmten raus, weil angeblich ein anderer ICE bald losfahren sollte. Wir blieben einfach im Bordbistro: Wir hatten Gesellschaft, Bier und das Klo funktionierte auch noch.
AntwortenLöschenEine schöne Erinnerung.
Im letzten Herbst habe ich mich von Frankfurt bis Erfurt mit einer Lehrerin aus dem Ahrtal unterhalten. Das war aufschlussreicher als jeder ARD-Brennpunkt.
LöschenIn São Paulo fahren Busse und Züge in gewissen Zeitabständen. Fahrplan Fehlanzeige. "Der müsste gleich kommen". Ist dann auch so. Weshalb in Deutschland irgendein Tingelbus auf ausgehängtem Papier bis auf die Minute genau ausgewiesen wird, bleibt mir ein Rätsel. Abfahrt 7:31, im Ernst? Einen eleganten Kompromiss gibt's in Frankreich. Ab 7 Uhr alle 20 Minuten. Geht auch.
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