Freitag, 26. Juni 2015

Rheinkind, Kapitel 2

„Freust du dich schon?“
Seine Mutter lächelte ihn an.
Der Junge hatte den Mund voller Nutella und Brot. Er nickte zufrieden.
Der erste Tag der Osterferien. Heute würden sie zu den Großeltern fahren. Das war eine Fahrt von über einer Stunde.
Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen lag ein kleines Städtchen, dessen Blütezeit bereits vor fünfhundert Jahren vorüber gegangen war. Dieses Städtchen trug den Namen Katzenelnbogen und es beherbergte auch den Weiler Klingelbach, an dessen Ortsrand die Großeltern ein kleines Haus bewohnten. Der Großvater, von Beruf zunächst Arbeiter im örtlichen Steinbruch und später Maurer, hatte es nach dem Krieg gebaut und hier verbrachte der Junge oft die Ferien.
Er trank Mich mit Bananengeschmack, die Dose mit dem hellen Pulver stand immer auf dem Frühstückstisch.
Seine Mutter aß ein Brot mit Erdebeermarmelade und trank Kaffee. Ihre Hände waren noch von der Arbeitswoche gerötet.
Heute hatten sie endlich Zeit, in Ruhe am Frühstückstisch zu sitzen und zu reden. Keine Schule, keine Arbeit. Zehn Tage, bis zum Ostermontag, würden sie bei Oma und Opa auf dem Land sein.
„Hast du alles eingepackt?“ Sie sah ihn mit ihren sanften braunen Augen an. Seine Mutter war nicht groß und keine auffällige Erscheinung. Sie hatte eine brünette Dauerwelle, eine hübsche Nase und kleine ebenmäßige Zähne.
„Na, klar!“ Der Junge grinste. Die Zahnbürste würde seine Mutter schon mitnehmen, er hatte nur das wichtigste in seiner Reisetasche: Comics, Klamotten und leere Briefumschläge, von denen er in den Ferien in einer Schüssel mit lauwarmem Wasser die Briefmarken ablösen wollte.
„Kann ich mein Fahrrad mitnehmen?“ fragte er seine Mutter.
Sie schüttelte nur den Kopf und runzelte die Stirn. „Du weißt doch, dass der Wagen auch ohne Fahrrad voll genug ist. Außerdem ist die Durchgangsstraße viel zu gefährlich. Manche fahren mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit ins Dorf hinein.“
Der Junge rollte mit den Augen und stöhnte theatralisch. „Mama, ich werde dieses Jahr fünfzehn!“
Seine Mutter lachte. „Du wirst erst Ende des Jahres fünfzehn und im Auto ist einfach kein Platz.“
Der Junge schmierte sich noch eine Scheibe Brot. Nutella, keine Butter. Seine Mutter hatte es aufgegeben, solche Eigenheiten zu kommentieren.
***
Eine Stunde später saßen sie in dem alten Renault-Kastenwagen, dessen rote Farbe schon Patina angesetzt hatte. Auch das Bodenblech war an manchen Stellen bereits etwas brüchig. Als seine Eltern noch zusammen waren, hatte sein Vater den Wagen gekauft. Die Scheidung war jetzt fünf Jahre her.
Das Haus, in dem der Junge mit seiner Mutter lebte, stand auf der Ecke Rheinstraße und Untere Muhl. Damals bekam die Familie eine Wohnung im zweiten Stock, weil der Vater des Jungen bei der Firma gearbeitet hatte. „Die Firma“, wie die Menschen in Ingelheim das Unternehmen im Stadtzentrum nannten, stellte Chemikalien her, hauptsächlich Milch- und Zitronensäure. Milchsäure brauchte man zur Herstellung von Limonade, die Zitronensäure wurde an Bonbonfabriken in Aachen verkauft. Die Milchsäureproduktion verpestete an manchen Tagen die Luft der ganzen Stadt mit ihrem üblen Fäkalgestank. Die Firma hatte auch die ganze Siedlung für ihre Mitarbeiter gebaut, kurz vor seiner Geburt. Er war am 27.12.1964 geboren und das Haus, in dem er wohnte, war im gleichen Jahr erbaut worden.
Auf der anderen Straßenseite war ein kleines Einkaufszentrum um ein Hochhaus drapiert. Aufgrund des Hauptmieters nannten es die Leute „das Tengelmann-Haus“. Neben dem Supermarkt gab es eine chemische Reinigung, ein jugoslawisches Restaurant und einen Kiosk, der alles hatte, was der Junge wirklich brauchte: Comics, Spielfiguren, Modellbausätze und Süßigkeiten ab zwei Pfennig aufwärts. Hinter dem Tresen standen der alte Herr Bender und seine Frau. Er trug meistens sehr dunkle Rollkragenpullover und hatte einen kalten Zigarrenstumpen im Mundwinkel. Herr Bender lachte nie, vermutlich um den Halt des Zigarrenstumpens nicht zu gefährden. Seine Frau trug meistens eine rosa Kittelschürze und war immer sehr freundlich.
Nur wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt war die Autobahnauffahrt. Er konnte sich noch dunkel an die Zeit erinnern, als die Autobahn gebaut worden war. Vorher gab es an dieser Stelle eine Kreuzung zwischen der Rheinstraße und der alten Bundesstraße. Früher waren sie mit der Fähre auf die andere Rheinseite und dann über die Landstraße zu den Großeltern gefahren.
Vom Fahrdamm der Autobahn aus konnte der Junge nach rechts über das ganze Werksgelände der Firma schauen: Auf Bürogebäude und rauchende Schornsteine, auf kleine Kiefernwäldchen und eine verfallene Tankstelle, die an der alten Bundesstraße gelegen hatte. Nirgendwo auf den Gebäuden des Werksgeländes war ein Firmenzeichen zu sehen. Auf der linken Seite sah er die gleichmäßigen Reihen der Spargelfelder, wie langgezogene Grabhügel. Rechts kamen hinter der Firma Felder mit Sauerkirschen und dann ein Baggersee, der früher einmal eine Kiesgrube gewesen war.
Zehn Minuten später standen sie auf der Schiersteiner Brücke. Der Verkehr wurde durch eine endlose Panzerkolonne der amerikanischen Streitkräfte aufgehalten, die unterwegs zurück in ihre Kasernen nach Wiesbaden waren. Auf den Lkws, die den Tanks folgten, saßen die GIs auf langen Pritschen, eine Plane in Tarnfarbe über sich. Der Junge blickte vom Beifahrersitz in den Lastwagen und machte das Victory-Zeichen. Ein Amerikaner sah es und erwiderte das Zeichen, der Junge grinste zufrieden. Er wusste gar nicht, wieso alle das machten, aber Amerika war einfach cool. Hamburger, Coca-Cola und Jerry Lewis. Es gab sehr viele Manöver im Rhein-Main-Gebiet und der halbe Frankfurter Flughafen wurde von der U.S. Air Force genutzt.
Tief unter ihnen floss die riesige graue Masse des Rheins. Unter der Brücke war eine große Insel, auf der ein Bauernhof stand. Die Felder waren noch braun und leer, vielleicht wurde hier Futtergetreide angebaut.
Endlich hatten sie den Stau und die Autobahn hinter sich. Auf der anderen Rheinseite fuhren sie durch die Hügel des Rheingaus in den Taunus. Vorbei an Martinsthal, Schlangenbad mit seinen Kurhotels, Kemel und Laufenselden. Vorbei an kleinen Metzgereien und Bäckereien, an Läden und Dorflokalen. Dörfer mit schmalen Bürgersteigen, auf denen kein Mensch zu sehen war.
Als sie in den Hof der Großeltern einbogen, standen die beiden schon in der Tür. Hier auf dem Dorf blieb keine Bewegung lange verborgen.
Der Junge ging die Stufen zur Haustür hinauf und gab seinen Großeltern die Hand.
„Seid ihr gut durchgekommen?“ fragte die Großmutter wie immer.
„Ihr wolltet doch schon früher hier sein“, brummte der Großvater in leicht vorwurfsvollem Ton.
„Da waren ganz viele Amis unterwegs. Und total viele Panzer“, erzählte der Junge begeistert. Er hatte zwar nur wenige Modellpanzer in seinem Kinderzimmer, denn er interessierte sich mehr für Schlachtschiffe und Flugzeugträger, aber die riesigen Stahlmonster hatten ihn beeindruckt.
„Ach, die Amis …“. Großvater winkte mürrisch ab und seine Miene verfinsterte sich. Er war 1945 bei Kriegsende noch zum sogenannten „Volkssturm“ eingezogen worden. Nach drei Tagen im Krieg, vor dem die echten Soldaten längst abgehauen waren, wurde er am Rheinufer von amerikanischen Soldaten gefangen genommen und war für über ein Jahr in französischer Kriegsgefangenschaft gelandet. Aber darüber sprach er nicht gerne.
Als wir später um den Küchentisch saßen, erzählte die Mutter des Jungen von der Arbeit. Neuigkeiten im Kollegenkreis und aus der Stadt. Die Großeltern waren sehr stolz, dass ihre Tochter in einem hochangesehenen Unternehmen in der Stadt arbeitete. Sein Großvater hatte ihm erzählt, dass Lobelin-„Ingelheim“, ein Mittel gegen Atemlähmung, während des Krieges zur Grundausstattung der Notfallkoffer in allen deutschen Luftschutzkellern gehört hatte.
Vom Schweinebraten und den Kartoffeln war nichts übriggeblieben. Der Großvater duldete keine Essensreste auf dem Teller und es drohten seine berüchtigten Erzählungen zur Gefangenenverpflegung der Nachkriegszeit im Falle einer leichtfertigen Zuwiderhandlung. Zum Nachtisch gab es eingemachte Erdbeeren aus Omas Garten, dick mit Zucker bestreut. Dann zogen sich die Erwachsenen zum Rauchen ins Wohnzimmer zurück und der Junge konnte endlich aus dem Haus rennen. Die Gespräche seiner Mutter mit den Großeltern waren in seinen Augen quälende Rituale. Er selbst erzählte nicht gerne von der Schule. Da gab es nichts zu erzählen.
***
Der Junge saß auf dem schwarzen knorrigen Ast eines alten Kirschbaums und sah auf die Straße hinunter. Der Baum war längst verblüht und das grüne Blättermeer schützte ihn vor Blicken. Auf der anderen Straßenseite waren Gemüsebeete angelegt, die irgendwelchen Leuten im Dorf gehörten. Rechts von ihnen war das Haus seiner Großeltern. Ein sandfarbener Bau, den sein Großvater nach dem Weltkrieg in monatelanger Kleinarbeit hochgezogen hatte. Bis zu seiner Pensionierung hatte der Großvater als Maurer gearbeitet, jetzt saß er am liebsten schweigend in seinem Sessel in der Wohnküche. Hinter dem schlichten Bau gab es noch ein anderes Haus, das seit vergangenem Jahr leer stand. Von dort gab es noch einen schmalen Steg über einen winzigen Bach, der zu einer anderen Straße des Dorfes und zum Waldrand führte, aber Autos kamen nur bis zu diesem Haus. Da seine Großeltern kein Auto besaßen, wurde die Straße auch kaum benutzt und gehörte zu seinem Revier, wenn er am Wochenende oder in den Ferien hier im Dorf war.
Er drehte den Kopf nach links. Am anderen Ende der Straße, die auf die Hauptstraße des Dorfes führte, stand das Haus von Verwandten. Der Großvater hatte zehn Geschwister gehabt, dieses Haus war das Stammhaus der Familie gewesen. Hier wohnten seine Großtante und deren Sohn nebst Ehefrau. Sie hatten einen Sohn, aber er war viel größer als der Junge und längst in die Stadt gezogen. Gegenüber war ein großer Bauernhof. Der Junge kannte die Leute nicht. Das waren alle vier Gebäude in dieser Straße. Auf der Hauptstraße ging es nach links ins Dorf hinunter, wo es einen Supermarkt, einen Bäcker, einen Metzger und ein Gasthaus gab. Nach rechts ging es aus dem Dorf hinaus, die Straße führte durch den Wald ins Nachbardorf. Ebertshausen war ein winziger Flecken mit etwa hundert Einwohnern, manchmal besuchten sie seinen Großonkel Ferdinand dort.
Von der Hauptstraße hörte er ein Geräusch. Ein Wagen! Der rote Ford Capri bog tatsächlich in ihre kleine Straße ein und rollte vorsichtig vorüber, als sei er sich nicht sicher, überhaupt in der richtigen Straße zu sein. Das Nummernschild konnte der Junge nicht erkennen, auch den Fahrer nicht. Langsam rollte das Auto am Kirschbaum vorbei, in dem sich der Junge verbarg. Am Ende der Straße hielt der Wagen. Nichts passierte. Er konnte nicht sehen, ob jemand ausstieg. Eine Weile lang passierte nichts. Eine Windböe rauschte in den Bäumen. Schließlich, als er schon den Plan gefasst hatte hinunterzuklettern und nachzusehen, kam der Ford Capri ebenso langsam zurück, wie er vor einigen Minuten vorüber gefahren war. An der Hauptstraße blinkte es vorschriftsmäßig, bog nach rechts ab und verschwand aus seinem Blickfeld.

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