Freitag, 26. Juni 2015

Rheinkind, Kapitel 1

Es war kühl und der Morgen dämmerte grau, als er durch die Waldstraße fuhr. Auf der rechten Seite langgezogene Mietshäuser mit endlosen Reihen gleichförmiger Fenster, auf der linken Seite ein Maschendrahtzaun, hinter dem die Backsteinbauten einer Fabrik durch das gewundene Astwerk der Kiefern zu sehen waren. Seine Nase war kalt und er zog mit einem leisen Grunzen den Rotz ein wenig höher. Auf dem Gepäckträger hatte er den Schulranzen festgeklemmt, erste Stunde Mathe, dann Englisch. Im Gebäude der Werksfeuerwehr brannte schon Licht.
Der Junge bog in die Albertstraße ein, die nach dem Gründervater der Fabrik benannt war. An dieser Straße lagen eine geheimnisvolle Villa, die sich hinter einer hohen Bruchsteinmauer verbarg, und das sechsstöckige Verwaltungsgebäude. In der Villa wohnte der Chef ganz alleine. Es hieß, er würde nachts mit seiner Limousine ausgedehnte Touren machen. Niemand hatte ihn je gesehen. Trotz der frühen Stunde hing ein scharfer Geruch in der Luft. In der Fabrik wurden Chemikalien und andere Sachen hergestellt, das wusste er von seiner Mutter.
Hinter dem Fabrikgelände endete die Straße. Auf einem schmalen Weg ging es ein kurzes Stück abwärts und er musste sein hellgrünes Klapprad bremsen, als er zum Bach hinunter fuhr. Der Weg bog an der Uferböschung nach rechts ab und führte unter der Hauptstraße hindurch. Auf der anderen Seite lag wenige hundert Meter entfernt das Gymnasium, das er seit fast vier Jahren besuchte. Das alte Schulgebäude lag mitten in einem Viertel mit sandfarbenen Einfamilienhäusern. Er hatte das Gefühl, als würde er diese Strecke noch eine Million Mal in seinem Leben fahren, ohne dass sich irgendetwas ändern würde.
Nachdem er sein Fahrrad abgeschlossen hatte, stieg er die Stufen zum Eingang hinauf. Sein Klassenzimmer lag im dritten Stock und es war noch dunkel, als er es betrat. Er war der Erste. Aber das war überhaupt kein Problem, denn so konnte er in Ruhe die Hausaufgaben machen, für die er gestern keine Lust gehabt hatte. Seine Mutter kontrollierte seine Hefte sowieso nicht. Die musste arbeiten. Er machte das Licht im Klassenzimmer an und sah zu, wie nach und nach alle Neonröhren sirrend ihren Dienst aufnahmen. Dann setzte er sich auf seinen Platz und packte seine Hefte und Stifte aus. Ein hell erleuchteter Raum in der Dämmerung, alles rundherum dunkel und menschenleer. In wenigen Minuten würde es vorbei sein.
***
„Dafür gebe ich dir eine Fünf-Pfennig-Marke aus dem Kaiserreich, Germania-Serie.“
„Die Fünf-Pfennig-Marken hat doch jeder. Ich will mindestens zwei Sondermarken.“ Der Junge hielt einen leuchtend gelben Tennisball in die Höhe. Michael wollte ihn, das sah er an seinem Blick.
„Ich kann ja auch mal Andy oder Olli fragen. Vielleicht haben die ja Interesse.“ Der Junge bluffte ein bisschen, Michael Schäfer war einer seiner wenigen Freunde und er hatte eine Super-Briefmarkensammlung. Er bekam immer von seiner ganzen Familie Marken geschenkt, kein Briefumschlag war vor ihm sicher. Marken aus anderen Ländern. Der Junge hatte sich auch mal ein Päckchen gestempelte Briefmarken für zwei Mark gekauft. Nach der letzten Zählung besaß er 1263 Briefmarken aus 47 Ländern.
„Also gut“, sagte Michael und streckte die Hand aus. „Ich habe ein paar schöne Sachen für dich.“
Er holte ein kleines Tütchen aus Pergamentpapier aus seinem Ranzen und zeigte es dem Jungen.
Er gab ihm den Ball und nahm die Tüte. Vorsichtig schüttete er ihren Inhalt auf seine Handfläche. Eine ungestempelte Zehn-Milliarden-Mark-Briefmarke aus der Inflationszeit, eine braune Drei-Pfennig-Marke mit Adolf Hitler und eine grüne Zwanzig-Pfennig-Marke der Deutschen Bundespost Berlin. Dazu eine spanische Marke zu einer Pesete mit dem Bild eines Schlosses, die ihm wahrscheinlich sein Vater aus dem Büro mitgebracht hatte.
Für den Jungen war das ein guter Tausch. Er wohnte schließlich neben der Tennisanlage, in der sich die Angestellten der Fabrik in ihrer Freizeit trafen. Da flog immer mal ein Ball über den Zaun. Tennisbälle hatte er genug. Und mit diesen Geschäften konnte er seine Briefmarkensammlung ständig erweitern. Gewöhnliche Dauermarken, wie sie im Alltag verwendet wurden, hatte er viele: Da gab es die Technik-Serie, die von Fünf Pfennig (Nachrichtensatellit) über den Frankfurter Flughafen bei zwei Mark dreißig bis zum Radioteleskop (5 DM) reichte, es gab Burgen und Schlösser und eine alte Serie zum Thema Unfallverhütung. Aber es waren die Sondermarken, möglichst alte Sondermarken, die ihn wirklich interessierten. Seit 1976 hatte er alle Sondermarken ungestempelt, darunter herrliche Stücke wie den Blocksatz „Jugendstil in Deutschland“ oder das Gemälde von Lovis Corinth auf einer Fünfzig-Pfennig-Marke aus dem vergangenen Jahr. Seine neuesten Erwerbungen auf dem Postamt waren Marken zum internationalen Jahr des Kindes 1979 und zur ersten Direktwahl des europäischen Parlaments.
Einmal hatte er vier Blocksätze Weihnachtsmarken auf einmal gekauft, zweimal Bundespost und Bundespost Berlin, gestempelt und ungestempelt. Der Schalterbeamte in der Post hatte ihm anerkennend zugenickt und die Blocksätze ganz sorgfältig abgestempelt. Datum vom Erstausgabetag, das war wichtig. Seine älteste Marke war aus einer Serie, die ab dem Jahr 1889 ausgegeben wurde, eine gestempelte Fünfzig-Pfennig-Marke der Reichspost; dazu ein halbes Dutzend Fünf-Pfennig-Marken derselben Serie, auf den Poststempeln sind Jahreszahlen wie „98“ und „99“ zu erkennen.
***
Herr Kaschuba, der Mathematiklehrer, betrat das Klassenzimmer.
Alle Kinder rannten augenblicklich an ihre Plätze.
Dann das morgendliche Ritual.
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen, Herr Kaschuba“, kam es mehr oder weniger gemeinsam zurück.
Herr Kaschuba trug ein Jackett mit aufgenähten Ellbogenschonern und eine braune Cordhose. Er blätterte in seinem roten Lehrerkalender.
„Wenn nehmen wir denn heute dran? Wer rechnet die Hausaufgabe an der Tafel vor?“
Gespanntes Warten. Welcher Name würde fallen?
„Schröder“.
Ein dickes Kind in einem geringelten Pullover ging stumm nach vorne.
***
Nach der fünften Stunde, kurz nach zwölf Uhr mittags, hatten sie es geschafft. Der Junge fuhr mit seinem Fahrrad nach Hause. Michael begleitete ihn, er hatte den gleichen Heimweg. Er war seit der fünften Klasse sein Freund. Ein eher unsportlicher Typ, mit dem man in den Pausen Schach spielen oder über Briefmarken reden konnte. Aschblonde Haare, blasse Haut, hellblaue Hemden. Sein ganzer Stolz war ein Vierfarbkugelschreiber mit einer schwarzen, einer roten, einer grünen und einer blauen Mine.
Vor dem Haus des Jungen verabschiedeten sie sich, Michael fuhr noch ein Stück weiter. Sicher würde er mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern zu Mittag essen. Sie wohnten in einem kleinen Reihenhaus an der Rheinstraße.
Der Junge stellte sein Fahrrad vor der Haustür ab und zog seinen Brustbeutel unter dem dunkelblauen Sweatshirt hervor. Dann nahm er den Schlüssel aus dem Beutel und schloss die Tür auf.
Er wohnte mit seiner Mutter im zweiten Stock eines Mietshauses mit insgesamt sechs Parteien. Sie arbeitete als Putzfrau in der Fabrik und würde erst um 15 Uhr wieder zu Hause sein. Um sechs Uhr fing sie jeden Morgen an. Er stand erst um halb sieben auf, fand aber immer einen gedeckten Frühstückstisch vor. Heute würde er sich nur ein Brot zu Mittag machen. Er stellte den Ranzen an der Garderobe ab und ging in die Küche. Zwei Scheiben Graubrot, schön mit Butter bestrichen, und dazu den guten Bierschinken von Tengelmann. Vier Scheiben übereinander, einmal in der Mitte durchgeschnitten – fertig ist die Klappstulle. Die Hausaufgaben würde er später erledigen.
Nach dem Essen ging er hinunter und stieg wieder auf sein Rad. In ein paar Tagen würde es Frühling werden und die Sonne bemühte sich aufrichtig, ihre bescheidenen Kräfte zu entfalten. Er fuhr die Rheinstraße entlang und erreichte nach knapp fünfhundert Metern den Autobahntunnel. Als er noch klein gewesen war, hatte es den gewaltigen Damm der Autobahn noch nicht gegeben, der nun seine Heimatstadt in zwei Hälften teilte. Eigentlich zerfiel die Kleinstadt, in der er geboren wurde, bei näherem Hinsehen in diverse Einzelteile: das alte Ingelheim, geteilt in Ober- und Niederingelheim, das Fabrikgelände, das angrenzende Arbeiterviertel und das alte Fischerdorf Frei-Weinheim jenseits der Autobahn. Was für ein schöner Name: Frei, Wein, Heim. Das klang nach einem Ort, den man sehen musste. An den Ufern des Rheins gelegen und von einer Magie, die im offiziellen Verwaltungsbegriff „Ingelheim-Nord“ längst verloren gegangen war. Die Mietskasernenorgie, die man nach dem Krieg neben die Fabrik gebaut hatte, bekam gleich zu Beginn den Namen „Ingelheim-West“.
Also fuhr der Junge auf der schnurgeraden Hauptstraße zwischen West und Nord ans Rheinufer. Vorbei an ockerfarbenen Bruchsteinhäusern und einer stillgelegten Fabrik, in der früher einmal Farben hergestellt wurden. Angeblich war der Boden mit Gift verseucht und niemand durfte auf das Gelände. Rechts des kleinen Fährhafens waren große Wiesen. Er nahm den Uferweg und hielt nach einigen hundert Metern an. Er holte die eingepackte Stulle und eine Colaflasche aus seiner Jeansjacke und setzte sich ganz nah ans Ufer. Während er aß, hörte er das träge Schmatzen der Wellen und das Rauschen des Windes in den Pappeln.
Ein Schubverband kämpfte sich in Zeitlupe gegen den Strom in Richtung Mainz. Der Fluss war an dieser Stelle fast einen Kilometer breit. Im letzten Sommer hatte er manchmal stundenlang hier am Ufer gesessen und sich Namen und Nationalität der Schiffe in selbstgemachten Listen notiert. Die meisten kamen aus Deutschland oder Holland. Mit dem Fernglas hatte er die flachen schwarzen Kähne beobachtet und es schon aufregend gefunden, wenn ein Mitglied der Besatzung auf Deck erschien und sich an einem Tau zu schaffen machte. Damals wollte er Kapitän werden.
Vor über hundert Jahren war der Rhein noch wild und mächtig gewesen. An manchen Stellen des Oberrheins war der Fluss kilometerbreit, bei Hochwasser sogar mehrere Kilometer. Die Menschen lebten vom Fischfang und der Landwirtschaft auf dem fruchtbaren Boden der Auenlandschaft, die regelmäßig im Frühjahr überschwemmt und frisch gedüngt wurde. Die dichten Urwälder am Rheinufer waren von Lianengirlanden geschmückt, undurchdringliches Dickicht machte den Weg beschwerlich, stille Altrheinarme voller Schnaken und Wasserlinsen, kristallklare Quellen, Graureiher, Kröten und Libellen verbargen sich in diesem Dschungel. Damals bestimmte der Fluss das Leben, er ernährte die Menschen und vernichtete sie durch Flutwellen und Malaria. Malaria - die tödliche Krankheit, die bis in die fünfziger Jahre noch von den Stechmücken übertragen wurde, die in den Sümpfen im schwül-heißen Klima des Rheintals prächtig gediehen. Damals schliefen die Menschen in Frei-Weinheim noch mit Moskitonetzen wie die Leute am Amazonas.
Das Leben fand damals auf dem Wasser statt, dachte der Junge. Erst später wurden Brücken über den Rhein gebaut. Bei Mainz ragten noch die Fundamente der längst zerstörten Römerbrücke aus dem Wasser, an den Steinpfeilern wurden früher die Schiffsmühlen festgemacht. Karl der Große war noch zu Lebzeiten mit einer Holzbrücke gescheitert, dann war über tausend Jahre Ruhe, bis die Preußen kamen. Erst bauten sie eine Brücke in Mainz, dann eine Brücke in Bingen. Ingelheim lag genau dazwischen. Im zweiten Weltkrieg wurden beide Brücken von der deutschen Wehrmacht in die Luft gesprengt, um die Amerikaner aufzuhalten. Im Krieg war keine einzige Bombe auf seine Heimatstadt gefallen und kein Schuss abgegeben worden. Überhaupt war dieser unbedeutende Flecken Erde erst ein Jahr vor dem Krieg zur Stadt erklärt worden. Die Amerikaner rollten im Frühling 1945 einfach von Westen her in den Ort hinein und rollten auf der anderen Seite wieder hinaus. So erzählten es jedenfalls die Leute, aber sie redeten nicht sehr oft über dieses Thema. In Mainz und Bingen hatte die halbe Stadt in Schutt und Asche gelegen. Heute war auf der nagelneuen Autobahn hinter ihm mehr los als auf dem alten Strom.
Der Junge hatte längst fertig gegessen und schaute stumm über das Wasser. Er blinzelte so lange in die Sonne, bis er alle Regenbogenfarben in seinen Augenwinkeln sehen konnte. Er hatte heute nichts mehr vor und das Fernsehprogramm begann erst in ein paar Stunden. Aus der Ferne hörte er eine Trillerpfeife und Kinderstimmen. Auf dem Sportplatz trainierte eine Fußballmannschaft des VfL Frei-Weinheim. Hinter dem Sportplatz war der Damm, der die kleinen geduckten Häuschen des Ortes vor den Überschwemmungen des großen Flusses schützen sollte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen