Freitag, 26. Juni 2015
Rheinkind, Kapitel 6
Die Sonne schien und der Junge ging hinaus auf den Hof. Eine Weile schoss er einen alten Gummiball gegen die Garage. Wenn er aus Versehen die Holztür des Hühnerverschlags traf, gab es aufgeregtes Gegacker aus dem Dunkel. Dann schlenderte er hinaus auf die Straße. Wie immer war nichts los. Seine Großmutter bügelte und legte Wäsche zusammen, sein Großvater war wie jeden Nachmittag in der Dorfkneipe auf der Hauptstraße. Meistens ging er um drei Uhr, nach seiner Mittagsruhe auf dem Sofa, ins Gasthaus und kam gegen fünf Uhr wieder zurück. Oft saß er dann auf seinem Sessel und murmelte vor sich hin. Irgendetwas schien ihn aufgeregt zu haben, manchmal war es Politik und er schimpfte auf einen Politiker oder eine Partei.
Er ging die Straße in Richtung Bach entlang, als er den neuen Nachbarn im Garten sah. Der Junge sah den Mann in seinem fein gerippten weißen Unterhemd nur von hinten, aber er erkannte ihn an seiner Statur und seinen glatt zurück gekämmten Haaren.
„Guten Tag, Herr Sperber.“
Der Mann drehte sich hastig um und lächelte dann. „Ach, du bist es, Junge. Hast du Schulferien?“
„Ja, ich bin drei Wochen hier. Den Rest bin ich bei meiner Mutter zu Hause.“
Interessiert trat der Mann näher. „Wann kommt dich denn deine Mutter besuchen?“
„Immer am Wochenende. Übermorgen kommt sie wieder und bleibt bis Sonntagabend.“
„Na, dann komme ich vielleicht am Sonntag mal bei euch vorbei.“
Der Junge freute sich. Endlich würde es etwas Abwechslung in den Ferien geben! „Das fände ich super“, sagte er ganz ehrlich.
Der Mann lachte. „Dann können mir deine Großeltern sicher auch noch ein paar Tipps geben, wie man mit diesem harten Boden hier fertig wird.“
Der Junge sah auf das lange Werkzeug in den Händen des Mannes. „Was ist das eigentlich, was sie da haben?“
„Och, das ist eine Sense. Die habe ich im Schuppen hinter dem Haus gefunden. Damit macht man Heu. Ich versuche, den Rasen hier ein bisschen zu stutzen.“
„Wir haben so etwas gar nicht“, sagte der Junge.
„Ihr habt ja auch keinen Rasen. Bei euch wachsen nur nützliche Sachen, deine Großeltern sind sehr vernünftige Leute.“
Der Junge kratzte sich verlegen am Kopf. Ihn beschämte der Garten immer ein wenig, denn Leute mit Geld hatten Gartenarbeit nicht nötig. Manche hatten nicht nur einen großen Garten mit eigenem Swimming-Pool, sondern sogar einen Gärtner. Aber vielleicht kannte sich der Mann ja auch gar nicht mit solchen Dingen aus. „Hatten Sie in Berlin auch einen Garten?“
Der Mann stutzte und sah den Jungen einen Augenblick genau an. „Nein. Warum fragst du?“
„Na, weil sie sich mit Gartenarbeit nicht so richtig auskennen.“
Der Mann lachte laut. „Bist ein kluger Bursche. Gehst ja auch auf’s Gymnasium, hat dein Großvater erzählt. Nee, nee. Mit Muttererde habe ich nichts zu tun. Bin früher zur See gefahren, weißt du.“
„Sie waren Matrose?“
Der Mann zeigte nur auf seinen Oberarm. „Siehst du diese Tätowierung? Das ist ein Stinktier. Habe ich mir in Montevideo stechen lassen.“
„Wo liegt das?“
„Das ist in Südamerika. Ich habe die ganze Welt gesehen. Yokohama, San Francisco, Kapstadt.“
Der Junge staunte ihn nur an und konnte nichts mehr sagen. Der neue Nachbar hatte was zu erzählen. Er wäre am liebsten über den Gartenzaun geklettert.
Der Mann bemerkte die strahlenden Augen des Jungen und sagte: „Ich komme am Sonntag mal vorbei, dann können wir ja ein bisschen plaudern. Dann kann ich euch von der großen weiten Welt erzählen.“
„Das wäre echt total klasse“, rief der Junge und rannte aufgeregt nach Hause. Endlich wäre mehr los als Abenteuerromane und alte Spielfilme im Fernsehen.
***
Es war Sonntagnachmittag und der Junge saß an seinem Platz am Fenster. Er spielte mit seinen Soldaten auf dem Tisch. Deutsche gegen Russen. Die Russen hatten sich hinter einem Stapel alter Taschenbücher verschanzt und die Deutschen warfen ein paar Handgranaten, bevor sie zum Sturmangriff übergingen. Seine Lieblingsfigur war der Kommandant der deutschen Infanterie aus dem Zweiten Weltkrieg. Er dachte an seinen toten Großvater, der 1943 in Russland als Stabsfeldwebel gefallen war. „Gefallen“ – ein komisches Wort. Aber als er seine Mutter danach gefragt hatte, konnte sie es ihm auch nicht erklären. Sie hatte ihn aber gebeten, niemand anderem solche Fragen zu stellen. Auf den alten Bildern, die seine Mutter im Wohnungsflur aufgehängt hatte, trug der Großvater auch so eine Schirmmütze und eine graue Uniform wie die Spielfigur. Die Figur hatte eine Pistole in der Hand und zielte gerade nach vorne. Sie trug ein Fernglas, eine Trinkflasche und eine kleine Umhängetasche, dazu weite Reiterhosen und hohe Stiefel. Die Figur war 5,5 Zentimeter hoch, der Maßstab 1:32. Das entsprach 1,76 Meter in der Wirklichkeit. Wie groß wohl sein Großvater einmal gewesen war? Niemand von seiner Familie hatte je sein Grab gesehen, falls es ein solches überhaupt gab.
Endlich sah er Herrn Sperber, der gerade von der Straße in den offenen Hof spazierte. Er stand von seinem Platz auf und ging zur Treppe. Da klingelte es auch schon an der Haustür. Vorsichtig schlich er die Stufen hinunter und belauschte das Begrüßungsritual der Erwachsenen. Er wartete noch ein Weilchen, bis sich die Stimmen in Richtung Wohnzimmer verzogen hatten. Dann kam er langsam herunter.
Auf dem Wohnzimmertisch lag eine weiße Tischdecke und auf dieser Decke standen ein leuchtend roter Erdbeerkuchen und ein leuchtend gelber Käsekuchen. Die kleinen Kuchenteller hatten einen gewellten Rand und ein Blumenmuster. Als der Junge das Zimmer betrat, saßen die Männer schon am Tisch. Herr Sperber trug ein weißes Hemd mit goldenen Manschettenknöpfen, aber ohne Schlips. Auch der Großvater und sein jüngerer Bruder Ferdinand trugen saubere Sonntagshemden, hatten sich aber keinen Schlips umgebunden. Einen Schlips trugen die Männer im Dorf eigentlich nur bei Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen.
Sein Großonkel Ferdinand war höchstens ein Meter sechzig groß und seine Frau war noch kleiner als er. Auf einem Ohr war er taub, er war als Flakhelfer im Krieg gewesen, und hatte außerdem drei Fingerkuppen seiner rechten Hand verloren. Er war sanft und freundlich, nie hatte der Junge ihn böse oder wütend erlebt.
Seine Mutter stand mit Ferdinands Frau am Fenster und sie plauderten. Die Frauen lasen reihum die Illustrierten meiner Großmutter, die neben der Tageszeitung des Großvaters einen eigenen Papierstapel in der Küche bildeten: Frau im Spiegel, Neue Post und Tina. Die weite Welt des Adels und der Prominenz, dazu Rezepte und Schnittmuster für die Hausfrau.
Die Großmutter kam mit der Kaffeekanne herein. Sie trug ein dunkelbraunes gemustertes Kleid und ausnahmsweise keine Kittelschürze. Das lange hellgraue Haar hatte sie wie immer zu einem strengen Dutt zusammengerollt. Außer ihrem schlichten Ehering trug sie keinen Schmuck und sie roch wie immer nach Kernseife.
Sie schenkte zuerst Herrn Sperber Kaffee in seine blütenweiße Tasse, dann dem Großvater und dann allen anderen, die sich inzwischen an den Tisch gesetzt hatten. Erst dann setzte sie sich selbst an den feierlich gedeckten Tisch und ermunterte die anderen, doch den Kuchen zu probieren.
Der Junge durfte schon Kaffee trinken wie die Erwachsenen, allerdings nicht mehr als eine Tasse. Er aß ein Stück von Großmutters selbstgemachtem Erdbeerkuchen und dann ein Stück vom Käsekuchen, den sie gestern beim Bäcker gekauft hatte. Die Erwachsenen unterhielten sich, aber er hörte nicht zu. Erst als Herr Sperber Geschichten aus seiner alten Berliner Heimat erzählte, wurde er wieder aufmerksam. Der neue Nachbar hatte bei AEG-Telefunken gearbeitet, einem riesigen Unternehmen mit weit über hunderttausend Mitarbeitern. Dort wurde vom Fernseher bis zum Kraftwerk alles gebaut, was der Junge von der Technik-Dauermarkenserie kannte.
„Geht alles den Bach runter, was für eine Schande. Sogar das Telefunken-Hochhaus in der Nähe vom Bahnhof Zoo mussten sie verkaufen. Die AEG ist doch Berliner Urgestein. Aber die Konzernleitung ist völlig unfähig, die machen jedes Jahr Verluste. Und ständig werden Leute entlassen und die ganze Industrie will doch sowieso in den Westen, Berlin-Zulage hin oder her.“
Der Großvater kannte die Berlin-Zulage nicht und fragte nach. Die Mutter wollte mehr vom Bahnhof Zoo wissen. Herr Sperber lächelte meine Mutter an und genoss die Aufmerksamkeit der Runde.
„Berlin-Zulage ist eine steuerfreie Zitterprämie für die Leute, die in West-Berlin arbeiten. Und die Industrie kriegt immer fette Subventionen, damit sie der alten Reichshauptstadt nicht den Rücken kehrt.“ Dann sah er meine Mutter direkt an. „Und am Bahnhof Zoo sind die ganzen Drogensüchtigen und andere Leute, das darf man vor ihrem Kind gar nicht laut aussprechen. Ich kann verstehen, dass sie sich Sorgen machen.“ Seine Stimme wurde am Ende etwas leiser, so als wolle er kondolieren.
„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ war im vergangenen Jahr als Serie im „Stern“ und danach als Buch erschienen. Jeder, der ein Kind von vierzehn Jahren oder älter hatte, war zutiefst besorgt, der eigene Nachwuchs könne heroinabhängig und kriminell werden, um schließlich als namenloses Opfer in der Drogenstatistik zu landen.
„Mein Junge fährt nämlich im nächsten Schuljahr auf Klassenfahrt nach Berlin“, sagte seine Mutter. „Und man hört ja so viel in letzter Zeit.“
„Nach Berlin?“ fragte Herr Sperber laut. „Menschenskind, das ist doch eine tolle Reise. Dann siehst du mal den Ku’damm.“
In den letzten Wochen vor den Ferien war die Klassenfahrt besprochen worden. Der Lehrer hatte gesagt, es gäbe von staatlicher Seite Zuschüsse zu den Reisekosten, wenn man an ein paar Weiterbildungsveranstaltungen teilnehmen würde. Das hatte der Junge nicht verstanden, aber es war aufregend genug, ohne Eltern in eine große Stadt zu fahren. Eine ganze Woche lang!
„Aber ist es denn nicht gefährlich?“ fragte seine Mutter zweifelnd.
„Ach was. Tagsüber haben die Kinder doch Programm, da sind sie mit ihren Lehrern unterwegs. Und nachts liegen die in ihren Betten, wo sie hingehören. Das Berliner Nachtleben wird wohl ohne dich stattfinden müssen.“
Dann lachte er den Jungen an und nahm sich noch ein Stück Erdbeerkuchen.
***
Am nächsten Tag durfte der Junge Herrn Sperber in seinem Haus besuchen. Seine Mutter war am Abend zuvor wieder nach Ingelheim zurückgefahren, hatte ihm aber lächelnd erlaubt, den Nachbarn zu treffen. Womöglich hatte der lustige Mann aus Berlin bei ihr einen sympathischen Eindruck hinterlassen. Schließlich war sie schon lange geschieden und auch Herr Sperber hatte nichts von einer Ehefrau oder Partnerin erzählt. Jedenfalls trug er keinen Ring, was auch der Großmutter im Anschluss an das Kaffeekränzchen noch eine Bemerkung wert gewesen war.
Als er die Stufen zur Eingangstür hinaufging, freute er sich, seinen Großeltern für eine Weile entkommen zu sein. Ihr Alltag bestand aus unzähligen winzigen Meinungsverschiedenheiten, die sich gelegentlich aufschaukelten. Die Großmutter hörte dann gar nicht mehr auf zu lamentieren und der Großvater schwieg mürrisch in seinem Sessel, bis er schließlich für eine Stunde oder zwei ins Gasthaus ging. Aber immerhin hatte er hier in den Ferien Zeit zu lesen. Er hatte das Buch aus dem alten Haus angefangen, es spielte weit weg in Südamerika und alle Leute waren ganz anders als in seinem Leben. Vielleicht würde er auch eine Geschichte schreiben, natürlich kein ganzes Buch, aber immerhin eine Geschichte voller exotischer Orte und Abenteuer.
Hermann Sperber öffnete die Tür. Diesmal trug er eine Jeans und ein weißes T-Shirt. Statt polierter Lederhalbschuhe hatte er Filzpantoffeln an den Füßen.
„Hereinspaziert, hereinspaziert“, rief er fröhlich. Mit einer einladenden Geste deutete er in Richtung Wohnzimmer.
Der neue Nachbar hatte sich bereits mit Sofa, Sessel und Schrank wohnlich eingerichtet. Im Zentrum des Wohnzimmerschranks sah der Junge einen nagelneuen Farbfernseher. Und auf dem Couchtisch lag eine Fernbedienung. Seine Großeltern hatten noch ein altmodisches Schwarz-Weiß-Gerät aus Holzimitat, bei dem man jedes Mal aufstehen musste, wenn man zwischen den Sendern wechseln wollte.
„Das ist ja super“, staunte der Junge, als er ein chinesisches Rollbild an der Wand entdeckte. Es zeigte einige blasse Hügel im Nebel und eine Brücke, die gerade ein Mann mit einem Bündel auf dem Rücken überquerte.
„Gefällt es dir? Das habe ich in Hongkong gekauft. Da bin ich mal gewesen.“
„Echt?“ Mehr viel dem Jungen nicht ein. Das ganze Wohnzimmer wimmelte von bunten Federn, winzigen Sombreros und gerahmten Fotografien.
„Früher habe ich als Steward auf einem Kreuzfahrtschiff gearbeitet. Über zehn Jahre lang. Das sieht man was von der Welt.“
Der Junge setzte sich auf das Sofa, der Mann auf den Sessel.
Dann fuhr er fort: „Im Hafen von Hongkong habe ich mal eine Suppe mit Stäbchen gegessen, da haben die Chinesen aber gestaunt.“
„Wie geht das denn?“ fragte der Junge neugierig.
„Man muss nur zuschauen, wie es die Asiaten machen. Das Gemüse und das Fleisch fischt man mit den Essstäbchen heraus, die Brühe schlürft man. Und man darf dabei so viel Lärm machen wie man will. Die Kellner haben ganz große Augen gemacht, als ich Suppe bestellt habe und mir vom Tresen ein paar Stäbchen genommen habe.“
„Wo waren Sie denn noch?“
„Ich war zum Beispiel in San Francisco. Das ist in Amerika.“
„Ich weiß.“
„Ja, deine Mutter sagt, du wärst ein kluger Junge.“ Und als der Junge nicht antwortete, sagte er: „In San Francisco gibt es auch ein Chinesenviertel, selbst in Yokohama in Japan gibt es so ein Viertel. Hast du schon mal chinesisch gegessen?“
„Nein. Wie schmeckt das denn?“
„Da musst du aufpassen. Die Chinesen essen alles: Hunde, Quallen, Insekten. Aber es gibt viele leckere Gerichte mit Huhn und Reis.“
„Was haben Sie denn auf dem Schiff den ganzen Tag gearbeitet?“ wollte der Junge wissen.
Die Miene des Mannes verdüsterte sich. Er blickte nach unten, als er weiter sprach: „Ich war für die Passagiere der ersten Klasse zuständig, lauter feine Leute, weißt du. Millionäre und Millionärswitwen. Ein Steward kümmert sich um das Wohl der Gäste an Bord. Und den feinen Damen bin ich immer gerne zu Diensten gewesen.“
Der Junge bemerkte den Sarkasmus nicht und fragte: „Ist das so was wie Kellner?“
Sperber lachte kurz auf. „Da hast du vollkommen Recht. Ein Kellner, ein Diener …“
Der Mann hatte zu schwitzen begonnen und der Junge roch es.
„Was macht denn dein Vater eigentlich?“ Herr Sperber wechselte das Thema.
„Der ist gerade in Indien. Der ist nämlich Bauingenieur.“
„Das ist ja toll“, sagte der Nachbar. „Vermisst du denn deinen Vater nicht?“
„Doch“, antwortete der Junge. Mehr wollte er nicht sagen. Ein Weltreisender wie Herr Sperber beeindruckte ihn, aber er sprach nicht gerne über seinen Vater. Er war schon lange weg, aber er schrieb regelmäßig und sicher würde er ihn wieder sehen, wenn der Auftrag im Norden Indiens ausgeführt worden war.
„Mensch, und du passt ganz alleine auf deine Mutter auf?“ Herr Sperber hatte sich neugierig nach vorne gebeugt und wartete auf die Antwort.
„Die kann auf sich alleine aufpassen.“
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