Samstag, 13. Juni 2015

Abitur 1985

Vor dreißig Jahren, im Juni 1985, habe ich mein „Reifezeugnis“ am Sebastian-Münster-Gymnasium in Ingelheim erhalten. Auf der Abiturfeier hätte ich gemeinsam mit einer indischen Mitschülerin eine Rede halten sollen – wir hatten aber damals keine Lust auf den ganzen Scheiß. Stattdessen habe ich mit einem Freund, mit dem ich die neun Jahre Gymnasium erlebt und viele Abenteuer bestanden habe (und hoffentlich noch bestehen werde), einen Text für die Abi-Zeitung geschrieben, der unserem damaligen Lebensgefühl Ausdruck verlieh. Er war in der Heftmitte auf einer Doppelseite platziert, weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, so dass man ihn bei Bedarf herausnehmen und an die Wand hängen konnte. Diesen Text möchte ich an dieser Stelle dokumentieren. Here we go:
Bekanntmachung
Das deutsche Volk begrüßt erneut eine strebsame Hundertschaft gleichgeschalteter Abiturienten zwecks Aufnahme in die kapitalistische Leistungsgesellschaft. Erfreut vernehmen wir den einhellig geleisteten Schwur:
„Hier, vor Gott dem Herrn und vor Doktor Mürtz, seinem Stellvertreter auf Erden, der Sonne meines Daseins, schwöre ich feierlich für alle Zeit, daß ich dem mir in 13 Jahren gelehrten Leistungsprinzip ewiglich Folge leiste und mich niemals den furchtbaren, vom kommunistischen Imperialismus unterstützten Prinzipien des Friedens, der Nächstenliebe und des materiellen Verzichts unterwerfen werde, so wahr mir Gott helfe.“
Sodann erhielt die uniformierte Schülerschar ihre zur Teilnahme am existenziellen Lebenskampf berechtigenden Zeugnisse.
Was war geschehen?
Vor 13 Jahren war es ihnen vergönnt, als junge, unverbildete, sorglose Geschöpfe den Tempel des Wissens zu betreten. Mit jugendlichem, idealistischem Elan wollten sie dereinst die humanistische Gesinnung ihrer Vorväter vollenden. Doch schon bald mussten die Schüler bestürzt erkennen, daß der wahre Zweck dieser unbarmherzigen Leistungsmaschinerie die Zerstörung menschlicher Werte, kindlicher Kreativität und schöngeistiger Erbauung war.
Nach gründlicher, jahrzehntelanger charakterlicher Verformung gelang es dem Staat, endlich willenlose, uniformierte, unauffällige, anonyme, anspruchslose, konformistische, opportunistisch-arschkriecherische, ja-sagende, unterwürfige, skrupellose, falsche, meinungslose Ideologieträger dieses Systems in die Gesellschaft einzupassen.
Endlich haben sie ihren idealistischen Irrglauben an die Bewahrung der Umwelt, die Gleichberechtigung zwischen den Völkern und die Hilfe über ideologische- und Rassenschranken hinaus aufgegeben. Endlich haben sie begriffen, daß zwischenmenschliche Beziehungen null und nichtig sind, und tanzen mit um das goldene Kalb des Leistungsprinzips.
„JEDER SEI SICH SELBST DER NÄCHSTE UND GEHORCHE SEINEM FÜHRER“
- Im Namen des deutschen Volkes -
W. / Eberling
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Musik, bitte! The Clash: Rock the Casbah. https://www.youtube.com/watch?v=15FfWj11uys

P.S.: Gestern war ich zum „Festakt 125 Jahre Sebastian-Münster-Gymnasium“ an meiner alten Schule eingeladen. Ich habe mein bestes T-Shirt (schwarz macht schlank!) angezogen und bin mit einem alten Kumpel aus meinem Abi-Jahrgang hingegangen. Zu uns gesellte sich ein anderer Freund, den es als Studienrat für Englisch und Sozialkunde an unser altes Gymnasium verschlagen hat. Die Kinder durften musizieren und singen, Männer mit dunklen Anzügen durften Reden halten.

Ich habe auch meinen alten Erzfeind, den damaligen Schuldirektor Mürtz wiedergesehen, der 1985 in Pension gegangen ist. Mir klingen noch seine letzten Worte im Ohr: „Ich zeige Sie an, Herr Eberling“. Es ist mittlerweile die größte Schule in Rheinland-Pfalz, schon damals hatte ich 1500 Mitschüler. Aber meinem Namen kannte er zu jener Zeit ganz genau … Auf mich und meine Freunde war auch der Aushang am schwarzen Brett gemünzt, es sei verboten, alkoholische Getränke auf dem Schulgelände zu konsumieren. Was weiß der Mann vom Elend der Freistunden?

Am lustigsten war der steinalte ehemalige Schüler vom Abiturjahrgang 1945, der seine Redezeit gnadenlos überzog und berichtete, wie er mit seinen Schulkameraden sofort von der Wehrmacht eingezogen wurde. Und tatsächlich vermeldete er den Schülern auch noch siebzig Jahre nach Kriegsende mit einem gewissen Stolz, dass seine Flakbatterie vier Abschüsse alliierter Flugzeuge geschafft habe. Wir haben hinterher noch Tränen gelacht. „Vier Abschüsse“. Monty Python nix dagegen. Die Kids haben das gar nicht kapiert. Immerhin waren sie mucksmäuschenstill, als der aktuelle Direktor von dem vergasten jüdischen Lehrer berichtet hat.
 

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