Freitag, 26. Juni 2015

Rheinkind, Kapitel 12

Als er aufwachte, war alles weiß. Dann schlief er wieder ein.
Er träumte, er würde durch ein riesiges Haus rennen. Er kannte das Haus nicht, kein einziges Zimmer. Irgendetwas war in diesem Haus, aber er wusste nicht was. Er rannte weiter. Es war hinter ihm her. Er öffnete alle Türen, doch hinter jeder Tür hätte es lauern können. Lief er vor ihm weg oder lief er ihm in die Arme? Der Junge rannte weiter und fiel. Er rollte durch das Gras einer Wiese, alles drehte sich um ihn. Aber er stand auf und taumelte zum Haus seiner Großeltern. Seine Großmutter stand in der Küche am Herd. Er hatte es geschafft, dachte er erleichtert. Er war entkommen.
Ich habe ihn umgebracht, sagte er zu ihr.
Sie nickte sanft, so als habe sie alles verstanden, und drehte sich zu ihm um.
Es war Sperber.
Der Mörder.
Der Junge wachte schreiend auf. Alles war weiß. Sein Herz klopfte wild und er wartete, bis er besser sehen konnte.
Er lag in einem Krankenzimmer und war allein. Vor dem Fenster türmte sich der Schnee auf den gewundenen Ästen der Bäume. Seine Bettdecke war noch weißer als die Wände und die Zimmerdecke. Erst jetzt bemerkte er den dumpfen Schmerz in seinem Kopf. Was war geschehen? Er war in Klingelbach gewesen, das wusste er noch. Aber was war mit ihm passiert? War er gestürzt wie damals, als er mit dem Dreirad gegen das Hoftor geprallt war? Lag er, noch betäubt von einer Operation, in einem Aufwachraum wie damals, als er mit Blinddarmentzündung im Krankenhaus von Katzenelnbogen gelegen hatte? Die Fragen strentgen ihn an und er schlief wieder ein.
Als er wieder aufwachte, blickte er in das Gesicht seines Vaters.
Der Vater lächelte und dunkle Locken umrahmten sein braungebranntes Gesicht. „Wie geht es dir?“ fragte er.
Seine Stimme klang weit entfernt, so als sei sie von Watte gedämpft.
„Gut“, antwortete der Junge mechanisch, aber es stimmte nicht. „Was ist passiert?“ fragte er.
„Du hast eine schwere Gehirnerschütterung. Deswegen kannst du dich an nichts erinnern. Aber es ist alles gut, glaub mir.“ Er lächelte wieder und streichelte dem Jungen die Wange.
„Wo bin ich?“
„Du bist im Krankenhaus. Schon zum dritten Mal. Aber die Ärzte sagen, dass du in ein paar Tagen nach Hause kannst. Dann feiern wir deinen Geburtstag nach.“
„Meinen Geburtstag?“
„Ja. Heute ist der 27. Dezember, dein fünfzehnter Geburtstag. Und Weihnachten werden wir auch nachfeiern müssen, das hast du komplett verpasst.“ Er holte einen gefalteten und unbeschriebenen Umschlag aus der Brusttasche seines Hemdes. „Hier sind fünfhundert Mark für dich. Dafür kaufst du dir nächstes Jahr eine Stereoanlage oder ein Mofa.“ Dann steckte er das Geld wieder in die Tasche seines blütenweißen Hemdes.
Der Junge lächelte. Eine Stereoanlage! Aber dann verdüsterten sich seine Gedanken wieder. Er wusste immer noch nicht, was geschehen war.
Der Vater bemerkte es und sagte: „Dieser Nachbar, Herr Sperber, war ein gesuchter Mörder. Er hat dich in sein Haus gelockt, als der Rest der Familie auf Verwandtschaftsbesuch war. Dort wollte er dich töten und dann das ganze Haus anzünden. Durch den Faustschlag und die Explosion kannst du dich an nichts mehr erinnern, aber der Mann hat das Haus tatsächlich in Brand gesteckt. Er wollte alle Spuren vernichten. Beim Ausschütten des Benzins sind aber Dämpfe entstanden, die sich entzündet haben, als die Ratte ein brennendes Streichholz auf den Boden geworfen hat. Er ist in seiner eigenen Falle ums Leben gekommen“, sagte sein Vater und schluckte. „Als das Feuer den Heizöltank erreicht hatte, den der Mörder absichtlich geöffnet hatte, ist das ganze Haus in die Luft geflogen. Dieser Schweinehund hat sich selbst gerichtet.“
Sie schwiegen eine Weile, so als wären beide erschöpft durch die Erzählung.
„Du, Papa“, begann der Junge nach einer Weile. „Ich habe gewusst, dass Sperber ein Mörder ist. Darüber wollte ich für die Schülerzeitung eine Geschichte schreiben.“
„Deine Großmutter hat mir erzählt, dass du am Tag des Unglücks tatsächlich an einer Geschichte geschrieben hättest. Sie hätte die Blätter auch diesem Sperber gezeigt, der von deiner ersten Veröffentlichung schon sehr begeistert gewesen war.“
„Daran kann ich mich gar nicht erinnern.“
„Sie wird mit dem Haus in Schutt und Asche gegangen sein“, sagte der Vater. „Aber jetzt hast du ja eine viel bessere Geschichte. Du bist sogar in die Zeitung gekommen, ein Herr von der Allgemeinen Zeitung hat deine Mutter angerufen.“
„Ich kann mir schon denken, wer das war“, antwortete der Junge. Und nach einer Weile fragte er: „Wie lange bleibst du diesmal?“
Der Vater lachte wieder. „Diesmal bleibe ich für immer. Die Firma will eine neue Produktionsanlage für Medikamente aufbauen. Dabei werde ich ab ersten Januar mitarbeiten, das Projekt in Indien ist abgeschlossen.“
Eine Krankenschwester kam leise ins Zimmer. In ihrer weißen Tracht sah sie aus wie ein Engel. Auf dem Tablett hatte sie Tee und belegte Brote. Es musste später Nachmittag sein. Abendbrot.
Der Junge war glücklich.

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