Sonntag, 21. Juni 2015
Die Abenteuer des Herrn Sonnenberg
Der Zug ruckelt ein wenig. Dann fährt er langsam los. Die Landschaft gleitet an ihm vorüber. Es ist so leise. Und kaum Leute im Zug. Gute alte Saalebahn. Bequeme Polster, saubere Fenster. Rechts von ihm die Saale. Rudolstadt-Schwarza. Wie schön der Fluss in der Sonne glitzert, als der Zug ihn überquert. Wie lange ist das her? Er überlegt eine Weile. Wann ist er das letzte Mal mit der Saalebahn nach Jena gefahren? Die vielen Kurven. Es ist ein bisschen wie früher auf dem Jahrmarkt.
Kirchhasel. Uhlstädt. Zeutsch. Orlamünde. Großeutersdorf. Kahla. Awanst. Rothenstein. Über die Brücke geht es in die Stadt.
Paradies. Hier steigt er aus. Alles wirkt anders. Ist das noch sein Paradiesbahnhof? Und die vielen Leute. Er ist wie betäubt von dem Lärm. Was will er eigentlich hier? Sicher nicht bleiben. Aber in der Stadt kennt er niemanden, den er besuchen kann. Er will weiterfahren. Aber wohin? Er hat den Ort vergessen. Er muss einen Fahrplan finden. Wenn er den Namen auf dem Fahrplan liest, wird es ihm wieder einfallen. Aber er kann nirgends einen Fahrplan sehen. Lauter bunte Reklame, die er nicht versteht. Merkwürdige Wortspielereien und fremde Firmennamen.
Er fragt einen jungen Mann mit einer Schirmmütze nach dem Weg zum Fahrplan. Der sieht ihn grinsend an und fragt ihn, ob er Geld habe. Natürlich hat er Geld. Aber was soll die Frage? Er geht weiter. Schließlich findet er den Kasten mit dem engbedruckten gelblichen Papier. Wie viel Uhr ist es jetzt? Er blickt sich um. Wo ist eine Uhr? Wann ist er losgefahren? Es ist ungefähr später Vormittag. Oder ist es später? Auf der Fahrt hat er sein Zeitgefühl verloren. Er liest eine Weile den Fahrplan. Auf dem Gleis gegenüber hält ein riesiger moderner Zug. Er ist weiß und windschnittig. Viele Menschen steigen aus.
Da fällt es ihm wieder ein. Saalfeld. Dort möchte er hin. Jetzt braucht er nur noch eine Fahrkarte. Aber es ist kein Fahrkartenschalter zu sehen. Er geht eine Treppe hinunter. So viele Menschen. Er drückt sich vorsichtig an der Wand entlang. Aber dann entdeckt er die Fahrkartenausgabe. Selbst einen Bäcker gibt es hier. Er überlegt sich, ob er nicht ein belegtes Brötchen für die Fahrt kaufen soll. Aber erst die Fahrkarte.
Die Frau am Schalter lächelt ihn an. Einfache Fahrt nach Saalfeld. Macht zehn Euro. So teuer? Und was sind Euro? Er sucht in der Innentasche seines Mantels nach seiner Brieftasche. So viel Geld hat er nicht. Das macht nichts, sagt die lächelnde Frau, und gibt ihm die Fahrkarte. Ein großes Stück Papier. Früher waren das kleine Pappstücke, in die der Schaffner ein Loch knipste. Die Fahrkarten passten bequem in die Brieftasche.
Plötzlich steht eine andere Frau neben ihm. Ich werde sie begleiten, sagt sie. Sie werden schon vermisst. Dann sitzen sie zusammen im Zug. Wo haben Sie denn Ihre Hosen? Komische Frage. Herr Sonnenberg blickt an sich herunter. Tatsächlich: keine Hose. Er schlägt die Mantelschöße um und sieht: Er hat nichts an. Er blickt in seinen Mantelkragen: nichts drunter. Wie peinlich. Das hat er nicht gewusst. Er fasst sich an den Kopf: der Hut ist noch da. Aber hat er nicht einen Regenschirm dabei gehabt? Er weiß es nicht mehr. Die Frau schaut ihn an. Er sieht verschämt zu Boden.
Sweet - Fox On The Run. https://www.youtube.com/watch?v=ERMEneOrTkI
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Hmmmm..., das dürfte sein letztes Abenteuer gewesen sein.
AntwortenLöschenDer Text ist eine Hommage an Herrn Wiedemann, den ich 1986 im Zivildienst betreut habe. Er war geistig verwirrt und ging immer mit Hut, Stock und Mantel auf die Reise. Er wollte nach Hause - und kam doch nur bis zur abgeschlossenen Tür der Pflegestation. Oft habe ich mir mit ihm sein Fotoalbum angeschaut. Kostümfeste im Berlin der wilden Zwanziger usw.
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