Sonntag, 14. Juni 2015

1968, 1969, 1970 …

„Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.“ (Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti)
Es zeugt von geistiger Bequemlichkeit, wenn man historische Prozesse auf ein Ereignis oder eine Jahreszahl reduziert. Die sechziger Jahre waren nicht nur „1968“, waren nicht nur „Studentenunruhen“ und ermordete Regimekritiker wie Benno Ohnesorg und Rudi Dutschke. In dieser Zeit gab es das weitverbreitete Gefühl, die Nachkriegszeit abzuschließen und ein neues Kapitel aufzuschlagen. Es gab das Bedürfnis nach Modernität, nach Zukunft, nach Veränderung. Und diese Entwicklung lässt sich nicht auf die Aktivitäten einiger Zehntausend Studenten im Jahr 1968 reduzieren. Nach 1968 kam 1969. Willy Brandt wurde Bundeskanzler. Nach zwanzig Jahren konservativer Regierung kam ein neuer Mann an die Regierung, der für diesen Wunsch nach Veränderung stand. Willy – nicht Wilhelm. Widerstandskämpfer der ersten Stunde, 1933 in den Untergrund gegangen. 1938 ausgebürgert, 1948 wieder eingebürgert. Willy Brandt: sein nom de guerre, den er nach dem Sieg über den Faschismus nicht mehr abgelegt hat. Geboren wurde er als Herbert Frahm.
Hunderttausende traten damals in die SPD ein und begannen, das Land zu verändern. 1970 folgte Brandts Kniefall von Warschau. Anerkennung der Kriegsschuld und Bitte um Vergebung. Demut vor den Opfern. In einer Zeit, in der in den Schulatlanten noch die „deutschen Ostgebiete“ und das „Reich in den Grenzen von 1937“ eingezeichnet waren. Revanchisten, Nazis und Kriegsverbrecher inklusive der gesamten CDU/CSU haben getobt vor Wut. 1971: Friedensnobelpreis für einen deutschen Politiker! Damals begann ein neuer Abschnitt der deutschen Geschichte. Umweltbewegung. Friedensbewegung. Frauenbewegung. All das war vor dieser Zeit undenkbar.
2015. Wieder gibt es das Gefühl, ein neues Kapitel unserer Geschichte müsse begonnen werden. Die Unzufriedenheit ist überall zu spüren. Aber wer kanalisiert dieses Gefühl? Wo ist Willy Brandt? Wenn Sie für einen Augenblick leise sind, können Sie in hören. Er weint in seinem Grab. Er hat resigniert. Früher rotierte er noch in seinem Zorn über unseren geistlosen und oberflächlichen Materialismus, über den sinnlos gewordenen Wettbewerb aller gegen alle, da wir doch längst satt und zufrieden sein könnten. Wohin sollen die Menschen gehen, die dieses Land verändern wollen? Wo sollen sie sich engagieren? In der SPD? Degeneriert zum Kanzlerwahlverein für Käpt’n Schweinebacke. Seine Mannschaft? Eine frühvergreiste Schlaftablette im Ministerium für Sozialabbau und Arbeitnehmerverarsche und eine geföhnte Susi, die glaubt, eine Frauenquote für Aufsichtsräte sei der Gipfel der Gleichberechtigung in diesem Land mit vierzig Millionen Frauen und Mädchen.
Brandt gibt es nicht mehr. Eine Partei, für die sich ein Engagement lohnt, gibt es nicht mehr. Was bleibt, sind Eskapismus und Extremismus. Entweder ziehen sich die arbeitslosen Jugendlichen dieses Kontinents in ihre Kinderzimmer zurück und daddeln an ihren Gerätschaften herum oder sie wählen irgendwelche obskuren Parteien, die gerade auf den politischen Markt geworfen werden. Nichtwähler und paranoide Verschwörungstheoretiker, wohin man schaut. Wir haben längst resigniert. Wie der gute alte Willy. Es ist zum Heulen.
„Die Zeiten des mündigen Bürgers sind nicht vorbei. Jedenfalls kommen sie wieder. Trotz reaktionärer Denkfaulheiten. Trotz der Starallüren solcher, denen das Bohren dicker Bretter zu langweilig ist oder zu mühsam. Trotz derer, die weniger für Menschen arbeiten und mehr für ihre Macht, ihren Ruhm.“ (Willy Brandt in seiner Abschiedsrede als Parteivorsitzender am 14. Juni 1987)
The Jolly Boys – Rehab. https://www.youtube.com/watch?v=XOwl-bMfIkc

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