Dienstag, 6. Oktober 2015

Ingelheim, Boehringer und der NS-Staat – 1939 bis 1945

Als der Zweite Weltkrieg 1939 beginnt, wird Ernst Boehringer im Rang eines Hauptmanns im Stab eines Artillerie-Regiments eingesetzt. Er ist zunächst an der Westfront im Blitzkrieg gegen Frankreich aktiv. „Die stets einsatzbereite und vorwärtsdrängende Truppe von Hauptmann Ernst Boehringer war leicht zu erkennen an dem Firmenlogo von C.H. Boehringer Sohn, das auf allen Fahrzeugen seiner Batterie prangte.“ Wegen seiner glänzenden Leistungen bekommt er hohe militärische Auszeichnungen verliehen.
1942 kämpft er an der Ostfront gegen die Sowjetunion. An seinen Bruder Albert jun. (Albert sen. stirbt 1939) schreibt er, „dass wir in nicht allzu langer Zeit wie ein Phönix aus der Asche steigen und wieder auf die Pauke schlagen können, denn nur auf diese Weise wird es uns, nachdem der Russe niedergeschlagen ist, gelingen, einmal in milderen seelischen und klimatischen Zonen zu atmen.“ 1943 wird er nach Italien versetzt, wo er nach Mussolinis Kapitulation im Auftrag von Rüstungsminister Speer als Stabsoffizier die italienische Wirtschaft organisieren soll. Auf diese Weise entgeht er der Vernichtung seiner Artillerie-Einheit im Kessel von Stalingrad. Seine Mutter Helene Boehringer organisiert derweil in der Ingelheimer Etappe „ein regelrechtes Offizierscasino“ für die Wehrmacht.
Der Sohn von Ernst Boehringer fällt 1943 mit 19 Jahren, die beiden Söhne von Julius Liebrecht fallen 1941 und 1944 (19- und 24jährig). Ilse Boehringer, die Frau von Julius Liebrecht, schreibt in einem Brief über den Tod ihres Jüngsten, dass er „beim Sturmangriff gefallen ist, in einem Augenblick der vollsten Einsatzbereitschaft, mitten unter seinen Kameraden, losgelöst von sich selbst, ganz seiner Aufgabe hingegeben, so liegt wohl über seinem Tod u. dem Opfer für Volk u. Vaterland etwas Strahlendes.“ Der Umsatz des Unternehmens steigt von 20 Millionen Reichsmark 1939 auf 38.7 Millionen Reichsmark 1944. Das Eigenkapital von C.H. Boehringer Sohn steigt von 6,2 Millionen Reichsmark 1941 auf 15,6 Millionen Reichsmark 1945. Das Unternehmen verdient also sehr gut am Krieg. Vor allem die Wehrmacht, aber auch die zunehmend unter den Luftangriffen der Alliierten leidende Bevölkerung, muss mit Medikamenten versorgt werden. Das Auslandsgeschäft bricht mit Kriegsbeginn zwar, mit Ausnahme Italiens und Ungarns, weg, die Wehrmacht „erschließt“ dem Unternehmen in den folgenden Jahren aber immer neue Absatzgebiete.
Boehringer ist im NS-Staat der größte Hersteller von Opiaten wie Morphium, das als schmerzstillendes Mittel von größter Wichtigkeit für die NS-Kriegsmaschine ist, die eine wachsende Zahl von Verletzten versorgen muss. Schwierig wird der Import von Mohn von den klassischen Lieferanten Bulgarien, Iran und der Türkei. So werden auch die Kapseln des heimischen Mohns zur Produktion herangezogen, in Friedenszeiten eigentlich ein völlig unrentables Unterfangen. 1942 nimmt Boehringer „die weltweit erste Großanlage zur Herstellung vollsynthetischen Coffeins“ in Betrieb. Außerdem wird die Säureproduktion ausgeweitet, „weil diese für die Herstellung von Marmeladen, Süßwaren und Vitaminbonbons gebraucht wurde, mit denen die kämpfende Truppe versorgt werden musste.“ Es werden Backzusatzstoffe hergestellt, „mit denen das Problem des raschen Schimmelbefalls bei der Truppe in Afrika in den Griff zu bekommen sei“. Mit der Umstellung der deutschen Wirtschaft auf die Kriegsindustrie durch Reichsminister Albert Speer im Februar 1942 wird Boehringer Ingelheim endgültig Teil der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie. Rohstoffe und Arbeitskräfte bekommt man nur noch mit staatlicher Genehmigung. 1942 und 1943 erhalten Albert jun. und Ernst Boehringer vom NSDAP-Gaupersonalamt politische Beurteilungen mit der Note „Gut“ und gelten als zuverlässig.
Da viele Beschäftigte des Unternehmens im Kriegseinsatz sind, werden ab 1940 Zwangsarbeiter bei Boehringer Ingelheim eingesetzt. Insgesamt sind im Laufe der Jahre etwa 1.500 Personen aus zwölf Nationen im Unternehmen beschäftigt. „In den Hochzeiten dieses Arbeitseinsatzes ab 1943 dürften zwischen 30 und 40 Prozent der Belegschaft ausländische Arbeitskräfte gewesen sein.“ Der ersten Zwangsarbeiter sind 20 belgische und 70 französische Kriegsgefangene, die nach Arbeitsende in einem umzäunten Barackenlager von einer Kompanie des Landesschützenbataillons 776 aus Oppenheim bewacht werden. Sie bekommen einen Arbeitslohn von 33 Pfennig pro Stunde, „der auf ein Konto der Wehrmacht zu überweisen war.“
1942 werden die ersten fünfzig russischen Kriegsgefangenen nach Ingelheim gebracht, die in der Produktion arbeiten. Inzwischen gibt es in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten auch sogenannte „Sauckel-Aktionen“ (benannt nach dem Generalbevollmächtigten für die Zwangsarbeit Fritz Sauckel), bei der zum Teil erst 13 oder 14 Jahre alte Jugendliche auf der Straße aufgegriffen und zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt werden. Es kommt zu Fluchtversuchen und Diebstählen von Lebensmitteln. Die Vorgesetzten reagieren immer aggressiver, die Zwangsarbeiter, darunter auch viele russische und ukrainische Frauen, werden „geschlagen, getreten und geprügelt“. Ein gefürchteter Wachmann im Werk, ein aus dem Ersten Weltkrieg Kriegsversehrter, ist besonders brutal: „Mit seiner metallenen Armprothese schlug er gerne und häufig zu, verletzte vor allem viele Frauen damit im Gesicht.“
Auf dem Gelände des Unternehmens gibt es ein Kellergefängnis, in dem „die Delinquenten für zwei oder drei Tage bei drastisch verminderter Essenszuteilung zumeist am Wochenende eingesperrt“ werden. Ein russischer Kriegsgefangener, der die Arbeit verweigert, Nikolai Hribanow, wird Anfang 1943 ins KZ Buchenwald gebracht und ermordet. In dieser Zeit bringen Zwangsarbeiterinnen zwischen 15 und 20 Kinder auf die Welt, die in einer Kinderbaracke untergebracht werden. Die Baracken des „Waldlagers“ sind völlig überfüllt, verschmutzt und voller Ungeziefer. Krankheiten verbreiten sich. Zwei russische Arbeiter, die an Tbc erkrankt sind, werden in die Tötungsanstalt Hadamar gebracht, wo sie ermordet werden. Im hessischen Hadamar haben die Nazis zwischen 1941 und 1945 etwa 14.500 Menschen mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten vergast, vergiftet oder verhungern lassen.
Im März 1945 ist der Zweite Weltkrieg in Rheinhessen und damit auch in Ingelheim zu Ende. Die amerikanischen Truppen finden eine Fabrik vor, die praktisch unbeschädigt durch den Krieg gekommen ist, während das nahe Mainz in Schutt und Asche versunken ist. „Als die Unternehmensleitung sich nach 1945 für ihr politisches Verhalten vor den Entnazifizierungskommissionen rechtfertigen musste, konnte sie bemerkenswert viele Zeugnisse von Juden oder vom Regime so genannten ‚Halbjuden‘ vorlegen, die dankbar bekannten, dass ihnen Boehringer Ingelheim in höchster Not beigestanden hatte“. So hilft das Unternehmen Mitarbeitern bei der Emigration ins Ausland oder unterstützt Verwandte mit Geldzahlungen. Menschen, die Juden in der Reichspogromnacht 1938 geholfen haben, werden – trotz Aufforderung durch örtliche NS-Funktionäre – nicht entlassen. 1948/49 wird gegen das Unternehmen vor dem französischen Militärgericht in Mainz und Koblenz ein Prozess geführt. Gegen sieben Beschäftigte des Unternehmens werden Freiheitsstrafen verhängt, Mitglieder der Unternehmensleitung sind nicht unter den Verurteilten.
P.S.: Alle Zitate aus der informativen und lesenswerten Studie „Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus“ von Michael Kißener, Professor für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Nachtrag
Viele hohe Offiziere der Wehrmacht finden nach Kriegsende als Führungskräfte bei Boehringer eine neue Aufgabe. Ernst Boehringer rühmt sich noch Anfang der sechziger Jahre, er könne aus seiner Belegschaft innerhalb von einer Stunde einen Generalstab zusammenstellen. Nachdem die Wehrmacht als Kunde 1945 ausgefallen ist, beliefert Boehringer Ingelheim in den sechziger Jahren die US-Streitkräfte mit „Agent Orange“, einem Entlaubungsgift, das im Vietnamkrieg flächendeckend eingesetzt wird.
„Während des Krieges in Vietnam, als immer mehr Kessel bei Boehringer dampfen, als alle Produktionsrekorde purzeln, als Tausende Tonnen Tetra-, Tri- und T-Säure auf dem vollkommen unübersichtlichen Weltmarkt zwischen Saigon und Hanoi versickern, möchte einer von Boehringers Direktoren ‚die derzeitige günstige Verkaufssituation ausgenutzt‘ sehen, ‚um die Qualitätsforderungen aufzulockern‘.“
„‚Mit großer Betroffenheit‘ habe er erst Jahre nach seiner Tätigkeit bei Boehringer von Agent Orange erfahren, sagt Richard von Weizsäcker, damals Geschäftsführer und Mitinhaber, heute.“
Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13487619.html
Cover: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-21114104.html
The Fall - Mr. Pharmacist. https://www.youtube.com/watch?v=56dxJjXbnjg

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