Donnerstag, 22. Oktober 2015

Der Dekorateur

„Ich gebe zu: Ich war erregt. Auf dem Teller lagen zwei pralle, braungebrannte Klöße.“ (Andy Bonetti: Bamberg sehen und sterben)
Wie hat das alles begonnen? Philosophisch? Ich bin Scheiße. Du bist Scheiße. Wir sind alle Scheiße. Und diese Firma ganz besonders. Oder mit einem Traum? Du kletterst auf den Mount Everest. Allein. Ohne Sauerstoff. Ohne Smartphone. Und als du endlich oben bist, setzt du einen riesigen Scheißhaufen auf den Gipfel. Oder: Du wirst zum König gekrönt. Wahnwitzig aufwendige Inszenierung. Tausende von Zuschauern. Der Adel, der Hofstaat, die Kostüme, die Trompeten. Würdevoll schreitest du zum Thron und setzt dich. Es ist die teuerste Toilette der Welt. Gold und Diamanten. Sitzfläche aus amethystfarbenem Brokat. Klopapier aus Seide. Und du seilst den Chinesen deines Lebens ab.
War es so? Hat es so angefangen? Ich hätte ihn das gerne gefragt. Aber ich habe ihn nur ein einziges Mal gesehen. Und da war es schon zu spät. Fristlos entlassen. Erklärungen überflüssig. Ich bin mir sicher, dass er eine Botschaft hatte: der Dekorateur. So haben wir ihn alle genannt. Monatelang. Der Dekorateur hat uns in Atem gehalten. Wir haben über ihn gesprochen. Wir haben gerätselt und uns die Köpfe zerbrochen: Wer kann es sein? Es muss einer von uns sein. Der Neue? Das Mobbing-Opfer aus der Buchhaltung? Vielleicht sogar der Chef himself? Aber es musste ein Mann sein. Der Dekorateur arbeitete nur auf der Männertoilette.
Die Anfänge der Geschichte liegen im Dunkeln. Das unterscheidet die Realität vom Roman. Vielleicht sind die ersten Werke des Dekorateurs von ratlosen Kollegen einfach hinuntergespült worden. Wem wollte man es auch erzählen? Und wenn man sie nicht entsorgt hätte, wäre man doch sofort selbst verdächtigt worden. Nicht auszudenken! Aber dann hat irgendeiner von uns das Eis gebrochen. Leise, ganz im Vertrauen.
„Hast du es auch gesehen?“
„Ja, unglaublich.“
„Wer kann das gewesen sein?“
Es sprach sich in der Abteilung herum wie das Gerücht über eine Affäre oder eine Schwangerschaft. Eine Geschichte, die in anderen Ländern unmöglich wäre, weil sie nicht diese deutschen Toiletten haben. Wo es eine Art Hutablage für den Kot gibt. Einen Präsentierteller – anstatt eines Rohrs in die gnädige Finsternis wie überall sonst auf der Welt. Der Dekorateur hat diese Möglichkeit erkannt. Und genutzt.
Ein Fähnchen. Ein zusammengerolltes Sitzungsprotokoll. Eine kleine Kerze. Ein staubtrockener Meeting-Keks. Ein rosa Tütü von einer Puppe. Jedes Mal war der Scheißhaufen anders inszeniert. Monatelang ging das so. Keiner von uns weiß, wie es am Ende herauskam. Keiner von uns hat ihn verpfiffen. Wahrscheinlich hat die Firmenleitung eine Kamera installiert. Es würde mich nicht wundern. Sie sehen uns beim Scheißen zu. Was soll’s? Das ist der Preis. Unsere Würde ist der Preis.
Jetzt ist er weg. Es ist ruhig geworden hier. Ich finde das bedauerlich, und ich bin mir sicher, dass es einigen anderen Mitarbeitern genauso geht. Aber natürlich würde das niemand zugeben. Nicht mal unter vier Augen.
P.S.: Mein Dank für die Story geht an den Kiezneurotiker.
„Die Geschichte vom Scheißedekorierer bleibt im Gedächtnis und wird von Generation zu Generation weitergegeben, der hat's geschafft, der Scheißedekorierer, der ist unsterblich.“
Massive Attack - Unfinished Sympathy. https://www.youtube.com/watch?v=ZWmrfgj0MZI

5 Kommentare:

  1. Massive Attack - Unfinished Sympathy
    Titel gelesen, Musik im Kopf, so etwas nennt man dann Ohrwurm ;.-)

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    1. Um neunzehnhundert gibt's den Nachschlag. Das Exklusivinterview mit dem Dekorateur. Anschnallen, wird brutal, Alter ... :o)))

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  3. Aber wenn das der einzigste, der aller einzigste Weg ist, Protest an dieser beschissenen Welt zu üben, dann ist das doch armselig.
    Mein Gott, ich leide auch wie ein Pferd, mit vollgefressenem Bauch und massig Kohle.
    Und dem Wissen, daß ich die Verhältnisse um keinen Zoll verschieben kann.
    Aber dann doch nicht so was !
    Ich weiß nich......

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  4. Ich werden beim Büroschiss an euch denken

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