Sonntag, 25. Oktober 2015

Andy Bonetti’s Schatzinsel, Teil 2

„Da er für gewöhnlich auf dem Meere lebte und vom Festland kaum mehr kannte als die eine oder andere Küste oder vielmehr nur jenen Teil der Erdkugel, den die Vorsehung für Bars, Tanzlokale und Kneipen – dieses Paradies der Seeleute – aufbewahrt zu haben scheint, so war seine einfache Natur von all den moralischen Unaufrichtigkeiten verschont geblieben, die nur allzuoft nach der bekannten Manufakturware ‚Ehrbarkeit‘ schmecken.“ (Herman Melville: Billy Budd)
Am nächsten Tag landete ich auf dem Flughafen von Palma. Mehr darf ich über die genaue Lage der geheimnisvollen Schatzinsel aber nicht verraten.
Ich nahm mir ein Zimmer an der alten Mole und ging in eine Bar namens „El Hurón“. Als ich gerade meinen dritten Rum vor mir stehen hatte, setzte sich ein Hüne mit einem ziegelroten Säufergesicht neben mich, auf dessen Schulter ein Papagei saß. Wir kamen ins Gespräch. Sein Name war John Silver und er behauptete, der Vogel sei über zweihundert Jahre alt und habe schon mehr Schlechtigkeit auf dieser Welt gesehen als der Teufel persönlich.
„Taler und Dublonen“, kreischte der Papagei. „Taler und Dublonen.“
„Was willst du auf der Insel machen?“ fragte er mich, während wir zwei Gläser Rum leerten, die er spendiert hatte.
„Ich will nach Inca ins Landesinnere.“
„Was für ein Zufall“, lachte er. „Ich fahre morgen früh mit meinem Jeep in die Richtung. Ich will nach Alcudia.“
Und so kam es, dass ich am nächsten Morgen in seinem Wagen saß. Die Sonne schien und er begrüßte mich mit einem fröhlichen „Ahoi“.
Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und bemerkte erst nach einer Weile, dass auf dem Rücksitz noch ein anderer Mann saß.
„Das ist Israel Hands. Bin mit ihm zur See gefahren. Hands ist Smutje, wir haben zusammen in Yokohama angeheuert“, erzählte Long John Silver gutgelaunt.
Als wir bei sieben Glasen endlich Inca erreicht hatten, war ich um einiges Seemannsgarn reicher. Ich stieg aus, verabschiedete mich von den Matrosen, und der Jeep fuhr davon. Dann machte ich mich auf den Weg zum Stadtrand und von dort ging ich durch die Felder und Olivenhaine nach Westen.
Es war fürchterlich heiß, aber ich marschierte tapfer weiter. Ich erreichte Lloseta und betrat den Wald nördlich der Ortschaft. Hier setzte ich mich auf einen Stein und packte mein Sandwich aus. Zeit für eine Pause. Harte Arbeit stand mir bevor. Aber auch eine große Belohnung. Ich würde einen Schatz ausgraben!
Mit einem Lächeln biss ich in mein Sandwich.
„Taler und Dublonen“, kreischte es hinter mir. „Taler und Dublonen.“
Ich drehte mich um und blickte in zwei Pistolenmündungen.
„Gib uns die Karte, du Landratte“, sagte John Silver und der Papagei auf seiner Schulter krächzte hämisch, als ob er lachen würde.
„Welche Karte?“ fragte ich undeutlich zwischen Käse und Brot hindurch.
„Die Schatzkarte. Wir gehören zur Crew des alten Flint. Oder sollen wir dich gleich erschießen?“
„Ich habe die Karte nicht dabei. Den Weg zum Schatz habe ich auswendig gelernt.“
Die beiden Piraten stutzten und sahen sich gegenseitig an. Diesen Augenblick der Verwirrung nutzte ich und schmiss Silver mein Sandwich ins Gesicht. Dann warf mich mit einer Hechtrolle in die Büsche. Ich hörte ein paar Schüsse und einen Schrei. Aber ich war es nicht. Ich rannte einfach weiter in den Wald und kam bald darauf an eine Blockhütte.
Ich klopfte an und ein zerzauster Mann mit wirrem Haar und Rauschebart öffnete die Tür. Er lächelte mich an und entblößte dabei seine fast zahnlosen Kiefer.
„Hab einen von ihnen erwischt“, sagte er und hob seine Flinte in die Höhe. „Komm erst mal rein.“
In seiner Hütte roch es nicht gut. Hier hätte man mal wieder Klarschiff machen müssen. In einer Ecke lag eine zerschlissene Matratze. Es gab einen Tisch und einen Stuhl. Er bot mir den einzigen Sitzplatz an und lehnte sich ans Fenster. Dann erzählte er mir seine Geschichte. Auch er hatte zur Besatzung des berüchtigten Piratenkapitäns Flint gehört. Sein Name war Benny Gunn und man hatte ihn hier vor drei Jahren ausgesetzt. Sein größter Wunsch war ein Schluck Rum, aber ich hatte nur Apfelsaftschorle dabei.
Plötzlich klopfte es. Gunn legte den Zeigefinger an die Lippen – das internationale Zeichen für Schnauze-halten – und ging mit seiner Flinte zur Tür.
Es war Long John Silver, der mit einem heimtückischen Lächeln fragte, ob Bonetti hier wäre. Gunn verneinte und fragte, wie er ihn gefunden habe. Silver deutete nur auf den dreißig Meter hohen Flaggenmast neben der Hütte, an dem der Jolly Roger – das internationale Zeichen für Piraterie – flatterte. Gunn erzählte ihm, er hätte in den letzten drei Jahren niemanden getroffen, seit er in diesem Wald havariert sei. Silver nickte mürrisch und schlich davon. Ich war überzeugt, dass er noch eine Weile in der Nähe lauern würde.
In der Morgendämmerung schlich ich mich mit Gunn davon. Ich hatte ihm versprochen, den Schatz mit ihm zu teilen, aber er hatte abgelehnt. Nur ausreichend Rum sollte ich ihm in regelmäßigen Abständen zur Blockhütte bringen, was kein Problem gewesen wäre, da ich mich mit dem Schatz auf der Insel zur Ruhe setzen wollte.
Wir gingen der aufgehenden Sonne entgegen, denn in dieser Richtung war die Lichtung mit der alten Eiche. Und wirklich fand ich sie und wie auf der Karte beschrieben war in ihrer Krone ein Skelett befestigt, dessen ausgestreckter Arm in Richtung des Schatzes wies. Jetzt waren es nur noch fünfzig Schritte.
Mit klopfendem Herzen zählte ich meine Schritte. Dann holte ich den Klappspaten aus meinem Rucksack und begann zu graben. Wohl eine halbe Stunde grub ich den Waldboden um, während Gunn die Umgebung mit entsicherter Flinte im Auge behielt. Ich wollte schon fast die Hoffnung aufgeben, als ich mit meinem Spaten auf etwas Hartes stieß. Eine Truhe!
Ich zog sie aus der Grube und öffnete sie.
Sie war angefüllt mit alten Peseten. Die Scheine hatten fortlaufende Nummern. Wahrscheinlich bei einem Bankraub gestohlen. Alles völlig unbrauchbar. Ich brüllte meinen Zorn hinaus und warf den Spaten in den Wald.
Und so ging ich zurück nach Bad Nauheim und wurde Schriftsteller.
Mike Oldfield - Tubular Bells. https://www.youtube.com/watch?v=3IhNucymsq4
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