Freitag, 2. Oktober 2015

Eine kleine Gefälligkeit

„Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Tür. Es war eine allgemeine Auflösung wie ein Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht.“ (zeitgenössischer Bericht über die Uraufführung von Schillers „Die Räuber“ am 13. Januar 1782 in Mannheim)
Alexander „Shorty“ Heuling warf mir einen mürrischen Blick aus seinen dunklen Pekinesenaugen zu, als ich ihm seine Sachen gab. Er war höchstens einsfünfzig groß und sein unglaublich breites Gesicht war blass und glatt wie Porzellan. Er sah aus wie ein Kind, und sein Kopf war viel zu groß für seinen kleinen viereckigen Rumpf und die kurzen Beine. Nur wenn er lachte oder gähnte, bekam sein Gesicht tiefe Falten und er sah schlagartig so alt aus wie er wirklich war, etwa sechzig.
Alle hielten ihn für einen Anarchisten, weil er als Student mal im Vollsuff versucht hatte, auf einer Rheinfähre eine Meuterei anzuzetteln. Aber ich kannte ihn besser. Für die nächste Flasche Whisky hätte er eine Niere verkauft. Deine Niere.
Aber ich will die Geschichte von Anfang an erzählen. Ich saß an diesem Nachmittag in meiner Stammkneipe, las den Sportteil der Tageszeitung und trank ein kühles Held-Bräu.
Es regnete an diesem Tag so stark, dass ein Fisch es problemlos vom Fluss über den Marktplatz bis zum Rathaus geschafft hätte. Shorty stürmte keuchend ins Gasthaus und war so nass, als hätte man ihn gerade aus der Badewanne gezogen. Er holte ein großes Stofftaschentuch aus der Manteltasche, wrang es mit beiden Händen aus und wischte sich über das Gesicht.
„Gut, dass ich dich treffe“, sagte er und watschelte aus seiner Pfütze an meinen Tisch. „Du musst mir unbedingt helfen.“
Stöhnend setzte er sich auf einen Stuhl und legte einen Schlüsselbund auf den Tisch.
„Ich wohne um die Ecke. Jakobstraße 17. Du siehst es gleich. Vor dem Haus sind lauter Polizisten und Reporter. Du musst mir ein paar Sachen holen.“
„Was ist denn passiert?“ fragte ich ihn.
Er schüttelte nur den Kopf und tropfte dabei auf die zerfurchte Tischplatte wie ein Hund, der sich schüttelt.
„Das erkläre ich dir später“, sagte er im Tonfall dramatischer Erschöpfung.
Es war so lächerlich, dass ich ihn amüsiert angrinste. Shorty konnte jeden für seine Zwecke einsetzen. Der geborene Verkäufer. Hätte Furzkissen und Juckpulver an den Vatikan verhökern können. Mit links. Ohne mit der Wimper zu zucken.
Sein linkes Augenlid zuckte. Mein Schweigen hatte den Preis hochgetrieben. Ich war auf dem richtigen Weg.
„Du bekommst eine Flasche Glenmorangie.“
Ich lächelte ihn an. „Bestell schon mal den Whisky. Ich will sehen, ob du es ernst meinst.“
„Manfred“, rief er in Richtung Theke. Seine Stimme klang kläglich. „Eine Flasche Glenmorangie für den Herrn.“
„Der Kollege möchte auch gleich zahlen“, ergänzte ich gut gelaunt.
Dann trank ich mein Bier in einem Zug aus und fragte ihn: „Da ist doch nichts Illegales im Spiel, oder?“
„Iwo“, sagte Shorty. „Ich brauche nur meinen Reisepass und meine Kreditkarte. Beides ist in der untersten rechten Schublade meines Schreibtischs.“
„Willst du verreisen?“ fragte ich spöttisch. „Dann sollte ich dir vielleicht noch ein wenig Unterwäsche, Socken und ein paar Hemden einpacken.“
„Bitte!“ flehte er mich an und schob den Schlüssel zu mir herüber.
Der Wirt brachte die Flasche Glenmorangie und ein Glas.
Ich trank einen ordentlichen Schluck und verließ das Lokal.
In der Jakobstraße war die Hölle los. Übertragungswagen diverser Fernsehsender, ein Meer von Regenschirmen. Schaulustige, Reporter und zwei Polizisten.
Ich ließ mir nichts anmerken und steuerte zielstrebig die Haustür an.
„Lassen Sie mich bitte durch! Ich wohne hier.“
Die Reporter stürzten sich auf mich.
„Kennen Sie Herrn Heuling?“
Mikrophone reckten mir gierig ihre Köpfe entgegen.
„Haben Sie Latifa Holzapfel gesehen?“
Ich schüttelte nur den Kopf. Latifa Holzapfel, die berühmte Schauspielerin. Die und Shorty? Niemals. Vermutlich hatte er ihr Drogen verkauft. Der Mann konnte alles besorgen und alles verkaufen.
Ich drängelte mich zur Tür durch und ließ den Schlüsselbund über meinem Kopf klingeln. Das musste zu meiner Legitimation genügen.
Ein Polizist trat auf mich zu. „Wissen Sie zufällig, wo Herr Alexander Heuling sich gerade aufhält?“
„Nein, tut mir leid“, log ich jovial und öffnete die Tür.
Ich schloss die schwere Haustür hinter mir und stand im Foyer eines großbürgerlichen Altbaus. Die Ruhe war himmlisch.
Und im zweiten Stock, in Shortys Wohnung, war sie unbeschreiblich angenehm und entspannend.
Ich steckte die Kreditkarte und den Pass ein.
Dann ging ich in die Küche.
Da stand er. Shorty hatte immer davon erzählt.
Eine Flasche Bowmore. Jahrgang 1966. Mein Jahrgang.
Ich nahm die Flasche und einen Tumbler aus dem Küchenregal.
Dann setzte ich mich in den dunkelbraunen Ledersessel im Wohnzimmer und begann zu trinken.
Bryan Ferry - Don't Stop The Dance. https://www.youtube.com/watch?v=XjhTHQhJLxs

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