Sonntag, 4. Oktober 2015

Ingelheim, Boehringer und der NS-Staat – Die Vorgeschichte

Nieder-Ingelheim ist ein Dorf mit rund 2.700 Einwohnern unweit des Rheins. Ehemals Sitz einer Kaiserpfalz Karls des Großen, sinkt es nach dem Mittelalter in den Dornröschenschlaf der Geschichte. Das linksrheinische Gebiet wird im Zuge der französischen Revolution vom Impuls der Volksherrschaft erfasst. 1793 wird die Mainzer Republik gegründet, das Experiment wird aber nach wenigen Monaten vom preußischen Militär beendet. Zwei Jahre später kommt Rheinhessen unter französische Verwaltung, so dass sich eine demokratische Kultur etablieren kann. Als das Gebiet im Anschluss an den Wiener Kongress 1816 an das Großherzogtum Hessen fällt, bleibt als eine der „Errungenschaften der Franzosenzeit“ ein „regionales Repräsentativorgan“ erhalten.
Rheinhessen nimmt am Hambacher Fest 1832 teil und spielt bei der Revolution von 1848 eine bedeutende Rolle. „Der Präsident des Frankfurter Paulskirchenparlaments, Heinrich von Gagern, entstammte dem rheinhessischen Monsheim, Ingelheim insbesondere galt dem Großherzog von Hessen (Darmstadt) als der ‚radikalste Ort der Provinz‘, und der bei den radikalen Demokraten tätige Dr. Martin Mohr aus Ingelheim hatte eine bedeutende Rolle im Frankfurter Parlament gespielt.“ Wieder schickt Preußen seine Truppen gegen die Demokratie, auf der Gegenseite kämpfen viele Ingelheimer gegen die Monarchie und verüben auf den militärischen Führer der Preußen, den späteren Kaiser Wilhelm I., in der Nähe des Dorfes sogar ein Attentat. Dr. Mohr, der auch Präsident des Darmstädter Landtags ist, wird zusammen mit sieben anderen Ingelheimern wegen Hochverrats angeklagt, aber 1850 in Mainz freigesprochen.
1885 kauft der badische Unternehmer Ernst Boehringer, der in Mannheim ein erfolgreiches chemisch-pharmazeutisches Unternehmen führt, seinem Bruder Albert eine „kleine und ziemlich marode Weinsteinfabrik“ in jenem Dorf, um ihm ein eigenständiges Beschäftigungsfeld zu geben. Das Unternehmen wächst langsam, aber stetig. 1912 beginnt man mit der Erzeugung pharmazeutischer Produkte, mit der die Industrie damals den Apothekern zunehmend Konkurrenz macht. Die Stimmung in Ingelheim wie im gesamten Deutschen Reich ist nach dem Krieg gegen Frankreich und der erneuten Reichsgründung 1871 eine völlig andere: Nationalismus und Militarismus prägen die Gesellschaft, Krieger- und Soldatenvereine werden gegründet, Kriegerdenkmäler und der „Bismarckturm“ werden errichtet. Mainz wird mit modernen Anlagen zu einer Festung ausgebaut. Frankreich ist nicht mehr Vorbild, sondern Feind.
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beantragt Albert Boehringer Sitz und Stimme im Ingelheimer Gemeinderat, der ihm nach hessischem Recht als der höchstbesteuerte Bürger zustünde. Nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung muss er diesen Platz jedoch der Freifrau von Erlanger überlassen, die über einen größeren Grundbesitz in der Gemeinde verfügt. Der Unternehmer eilt zu Beginn des Krieges „zu den Fahnen“, wie es damals hieß, seine beiden Söhne melden sich freiwillig zum Kriegsdienst und seine Frau eröffnet im Speisesaal der Fabrik ein Lazarett. Die Arbeiter, die ebenfalls in den Krieg ziehen, werden bald durch russische Kriegsgefangene ersetzt.
1918: Der Krieg ist aus deutscher Sicht verloren und französische Truppen rücken am 10. Dezember in Ingelheim ein. „Bis Mitte 1919 wurde eine totale Blockade Rheinhessens verhängt, die jede Ausfuhr praktisch unmöglich machte. Dann waren es 1921 Zollschranken, die errichtet wurden und die Ausfuhr ins Rechtsrheinische behinderten, und schließlich wurde 1923 wieder zur vollständigen Abschnürung des linksrheinischen Gebiets gegriffen, um eine wirtschaftliche Hinwendung zu Frankreich zu erzwingen.“ Da Boehringer Ingelheim die Benutzung der französisch kontrollierten Eisenbahn boykottiert und mit Lastwagen einen Fahrdienst für die eigenen Arbeiter organisiert, wird Albert Boehringer sen. mitsamt seiner Familie 1923 ausgewiesen. Sein Schwiegersohn Julius Liebrecht führt die Geschäfte weiter. In Hamburg-Moorfleet wird eine neue Niederlassung gegründet – die allerdings 1984 nach einem Dioxin-Skandal geschlossen werden muss (etwa hundert Tonnen Dioxin und andere Umweltgifte sind in den Boden und das Grundwasser gelangt).
1925 werden die Besatzungszonen neu gegliedert und Ingelheim fällt unter britische Herrschaft. Bei den Reichstagswahlen 1924, 1928 und 1930 wird die SPD stärkste Kraft in Nieder-Ingelheim. Die Zeit der Besatzung bis 1930 und die beginnende Weltwirtschaftskrise ab 1930 fördern einen aggressiven Nationalismus in der Bevölkerung. Krieger- und Soldatenvereine werden gegründet, die von der Firma Boehringer mit bedeutenden Summen unterstützt werden. Die Söhne des Firmengründers, Albert jun. und Ernst, sowie sein Schwiegersohn sind Mitglieder im „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“, einer rechtsradikalen und demokratiefeindlichen Organisation, die nach der Machtergreifung Hitlers in der SA aufgehen wird.
1933 arbeiten noch 580 Beschäftigte für Boehringer Ingelheim, 1929 sind es 900 gewesen. Der Umsatz sinkt im gleichen Zeitraum von 19,4 Millionen Reichsmark auf 8,4 Millionen. Das Unternehmen ist in der Krise.
P.S.: Alle Zitate aus der informativen und lesenswerten Studie „Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus“ von Michael Kißener, Professor für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Blind Boy Fuller – Rag, Mama, Rag. https://www.youtube.com/watch?v=zdIdGoyzoxQ

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen